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Entscheidung S 20 KR 23/21


Metadaten

Gericht SG Neuruppin 20. Kammer Entscheidungsdatum 29.07.2022
Aktenzeichen S 20 KR 23/21 ECLI
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen

Tenor

Die Beklagte wird unter Abänderung der mit dem Bescheid vom 26. Oktober 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Februar 2021 verlautbarten ablehnenden sozialverwaltungsbehördlichen Verfügung verurteilt, den Kläger mit beidseitigen Mammareduktionsplastiken zu versorgen.

Im Übrigen werden die Klagen abgewiesen.

Die Beklagte trägt die Hälfte der dem Kläger entstandenen notwendigen außergerichtlichen Kosten des Verfahrens.

Tatbestand

Der Kläger begehrt von der beklagten Krankenkasse die Versorgung mit einer beidseitigen Mammareduktionsplastik und einer Abdominalplastik.

Der im Dezember 1986 geborene – derzeit mithin 36 Jahre alte – Kläger, der nach der Durchführung einer bariatrischen Operation bei einer Körpergröße von 176 Zentimetern sein Gewicht von 180 Kilogramm auf etwa 100 Kilogramm reduzieren konnte, beantragte befundgestützt bei der Beklagten am 01. Oktober 2020 die Übernahme der Kosten für eine beidseitige Mammareduktionsplastik und eine Abdominalplastik. Diese lehnte den Antrag nach Einholung eines sozialmedizinischen Gutachtens des Medizinischen Dienstes vom 19. Oktober 2020 mit sozialverwaltungsbehördlicher Verfügung vom 26. Oktober 2020 ab. Den hiergegen erhobenen Widerspruch des Klägers wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 10. Februar 2021 als unbegründet zurück. Nach den Ausführungen des Medizinischen Dienstes könne dem Befund insgesamt kein Krankheitswert und kein entstellender Charakter beigemessen werden, es seien keine funktionellen Einschränkungen feststellbar. An Bauch und Brust seien keine krankhaften Veränderungen in Form von rezidivierenden Hautentzündungen beschrieben worden. Auch führe der Gewebeüberschuss an der Brust nicht zu einer Mobilitätseinschränkung, vergrößerte Drüsenkörper lägen nicht vor. Sofern eine psychische Beeinträchtigung vorliege, könne die Beklagte Leistungen der Psychotherapie übernehmen.

Hiergegen hat der anwaltlich vertretene Kläger mit Schriftsatz vom 01. Februar 2021 – bei dem Sozialgericht Neuruppin eingegangen am 26. Februar 2021 – Klagen erhoben, mit der er seine auf Versorgung mit beidseitigen Mammareduktionsplastiken und Versorgung mit einer Abdominalplastik gerichteten Begehren weiter verfolgt. Zur Begründung seiner Begehren trägt er neben der Wiederholung des Inhalts der medizinischen Befunde im Wesentlichen vor, Bewegungen des Körpers, so beispielsweise beim Joggen oder Fahrradfahren, führten zu einem unkontrollierte „Hin- und her-wackeln“ der Bauchfettschürze und der schlaffen Haut an den Brüsten. Dies sei körperlich äußerst unangenehm und teilweise schmerzhaft. Die Haut- und Fettgewebsüberschüsse am Abdomen sowie an den Brüsten hätten zur Folge, dass der Kläger auch im bekleideten Zustand ein Erscheinungsbild zeige, das Reaktionen der Mitmenschen wie Neugier und Betroffenheit hervorrufe. Die Bauchfettschürze und insbesondere die ausgedehnte schlaffe Haut an den Brüsten mache sich schon bei flüchtiger Begegnung in alltäglichen Situationen quasi „im Vorbeigehen“ bemerkbar. Der Kläger ziehe permanent Blicke auf sich, er ziehe sich deshalb aus dem Leben in der Gemeinschaft zurück. Der Kläger werde begafft, als wäre er „ein Monster“. Der Kläger werde deshalb auch regelmäßig Opfer verbaler Attacken. Er werde ausgelacht und beleidigt, unter Anspielung auf die herabhängenden Brüste werde er als „Mädchen“ bezeichnet. Wiederholt werde er als „fette Qualle“, „fette Sau“ und „fettes Schwein“ beschimpft. Solche Attacken erlebe der Kläger nicht nur, jedoch vor allem auch bei üblichen Freizeittätigkeiten, bei denen der Oberkörper des Klägers unbekleidet sei wie beim Umziehen zum Sport, bei Strandbesuchen, im Schwimmbad oder in der Sauna. Beschimpft und begafft werde der Kläger aber auch in mit Alltagskleidung bekleidetem Zustand, insbesondere, wenn er sich in Bewegung befinde, etwa beim Spazierengehen. Dann würden die Bauchfettschürze und die Brüste noch deutlicher ins Auge stechen. Der Kläger meide mittlerweile sämtliche außerhäusige Aktivitäten, seine Teilhabe am Leben in der Gesellschaft sei massiv gefährdet. Auch schränkten die Gewebeüberschüsse die teilweise sehr schwere körperliche Arbeit als Garten- und Landschaftsbauer stark ein. Körperbewegungen ließen die Haut aneinander scheuern, was zu schmerzhaften Hautirritationen führe. Der Kläger leide wiederholt unter Hautreizungen wie Pilzbefall, Sekretionen und entzündliche Veränderungen; diese seien angesichts der Autoimmunerkrankung des Klägers therapieresistent. Wegen der seltenen Autoimmunerkrankung hätten Hautärzte die Behandlung abgelehnt. Schon aufgrund der therapieresistenten Hautreizungen bestehe eine medizinische Indikation für die begehrten Operationen. Die Operationen seien auch wegen der S3-Leitlinie „Chirurgie der Adipositas und metabolischer Erkrankungen“ indiziert. Schließlich seien die Haut- und Gewebeüberschüsse auch deshalb behandlungsbedürftig, weil die anatomischen Abweichungen entstellend wirkten. Schließlich müssten die Klagen auch deshalb erfolgreich sein, weil die Operationen eine „notwendige Folge“ der von der Beklagten bewilligten Magenverkleinerung darstelle, da sich durch diese Operation die Hauterkrankung im Bauchbereich erst eingestellt habe (Hinweis auf Sächsisches Landessozialgericht, Urteil vom 31. Mai2018 – L 1 KR 294/16).

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung der mit dem Bescheid vom 26. Oktober 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Februar 2021 verlautbarten ablehnenden sozialverwaltungsbehördlichen Verfügungen zu verurteilen, ihn mit beidseitigen Mammareduktionsplastiken und einer Abdominalplastik zu versorgen.

Die Beklagte beantragt,

die Klagen abzuweisen.

Sie hält die angegriffene sozialverwaltungsbehördliche Entscheidung für zutreffend. Es fehle an einem funktionellen Defizit, um die Leistungspflicht der Beklagten zu begründen. Angaben zu Hauterkrankungen seien im Verwaltungsverfahren nicht gemacht worden, auch der Medizinische Dienst habe solche nicht feststellen können. Ohne dies belegende ärztliche Stellungnahmen könnte der nunmehr erfolgte Klagevortrag nicht nachvollzogen werden. Auch wirkten die Gewebeüberschüsse nicht entstellend, nach ständiger Rechtsprechung sei der teilentkleidete oder entkleidete Zustand unbeachtlich. Die von dem Kläger zitierte S3-Richtlinie sei für die Beklagte nicht bindend, die Leistungspflicht der Beklagte richte sich nach den gesetzlichen Bestimmungen des SGB V. Schließlich sei die von dem Kläger zitierte Rechtsprechung mangels Hauterkrankung nicht übertragbar.

Das Gericht hat zur weiteren Aufklärung des medizinischen Sachverhaltes die Fachärztin für Orthopädie, Unfallchirurgie und Chirurgie Dr. med. D. mit der Erstattung eines sozialmedizinischen Sachverständigengutachtens beauftragt, das diese nach am 22. November 2021 erfolgter ambulanter Untersuchung des Klägers, unter dem 10. Februar 2022 erstattet und mit gutachtlicher Stellungnahme vom 14. April 2022 ergänzt hat. Wegen der Einzelheiten und wegen der gegen das Sachverständigengutachten erhobenen Einwände des Klägers wird auf den Inhalt der jeweiligen Ausführungen Bezug genommen.

Im Übrigen wird wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes auf den Inhalt der Prozessakte sowie auf die den Kläger betreffenden Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung, der Beratung und der Entscheidungsfindung waren.

Entscheidungsgründe

Die Klagen haben im tenorierten Umfang Erfolg.

1. Streitgegenstand des sozialgerichtlichen Verfahrens ist der Anspruch des Klägers auf Versorgung mit einer Abdominalplastik und beidseitigen Mammareduktionsplastiken. Gegenstand des Klageverfahrens ist dabei die mit dem Bescheid der Beklagten vom 26. Oktober 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Februar 2021 verlautbarte sozialverwaltungsbehördliche Verfügung der Beklagten, mit der diese es abgelehnt hat, den Kläger – wie begehrt – zu versorgen. Die Begehren des Klägers, die darauf gerichtet ist, die Beklagte unter Aufhebung der genannten sozialverwaltungsbehördlichen Ablehnungsverfügung zu verurteilen, ihn mit einer Abdominalplastik und beidseitigen Mammareduktionsplastiken zu versorgen, sind als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklagen statthaft (§ 54 Abs 1 S 1 Regelung 1 SGG, § 54 Abs 4 SGG iVm § 56 SGG) und auch im Übrigen zulässig.

2. Die zulässigen Klagen sind unbegründet, soweit der Kläger die Versorgung mit einer Abdominalplastik begehrt.

a) Die mit der Leistungsklage kombinierte Anfechtungsklage im Sinne des § 54 Abs 1 S 1 Regelung 1 SGG ist in diesem Umfang unbegründet, weil die angegriffene sozialverwaltungsbehördliche Verfügung der Beklagten in diesem Umfang rechtmäßig ist und der Kläger hierdurch nicht in seinen subjektiv-öffentlichen Rechten beschwert ist (vgl § 54 Abs 2 S 1 SGG). Die Beklagte hat es rechtmäßig abgelehnt, den Kläger mit der begehrten Abdominalplastik zu versorgen, weil der Kläger hierauf keinen Anspruch hat.

aa) Gemäß § 27 Abs 1 S 1 SGB V haben Versicherte einen Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Krankheit im Sinne dieser Norm ist ein regelwidriger, vom Leitbild des gesunden Menschen abweichender Körper- oder Geisteszustand, der ärztlicher Behandlung bedarf oder den Betroffenen arbeitsunfähig macht (vgl BT-Drucks 11/2237 S 170). Krankheitswert im Rechtssinne kommt nicht jeder körperlichen Unregelmäßigkeit zu. Erforderlich ist vielmehr, dass der Versicherte in seinen Körperfunktionen beeinträchtigt wird oder dass er an einer Abweichung vom Regelfall leidet, die entstellend wirkt.

bb) Vorliegend ist der Kläger durch die Haut- und Gewebeüberschüsse in der Bauchregion weder in einer Körperfunktion beeinträchtigt, noch wirkt diese anatomische Abweichung entstellend. Auch eine etwaige psychische Erkrankung des Klägers rechtfertigt den begehrten operativen Eingriff nicht.

aaa) Der Kläger ist durch die Haut- und Gewebeüberschüsse in der Bauchregion nicht in seiner Körperfunktion beeinträchtigt. Krankheitswert kommt nicht jeder körperlichen oder seelischen Abweichung vom Leitbild des gesunden Menschen zu. Vielmehr muss hierdurch die Ausübung der psychophysischen Funktionen erschwert werden. Die Funktionsstörung muss ein Ausmaß erreichen, das aus objektiver medizinischer Sicht eine ärztliche Behandlung erfordert. Entscheidend für die krankenversicherungsrechtliche Leistungspflicht ist damit vielmehr, dass eine Krankheit nur vorliegt, wenn der Versicherte in seinen Körperfunktionen beeinträchtigt wird oder wenn die anatomische Abweichung entstellend wirkt (Bundessozialgericht, Urteil vom 19. Oktober 2004 – B 1 KR 9/04 R, RdNr 13).

Gemessen daran hat die Beklage in rechtlich nicht zu beanstandender Weise entschieden, dass dem Haut- und Gewebeüberschuss in der Bauchregion kein Krankheitswert im krankenversicherungsrechtlichen Sinn zukommt. Zwar ist die schlaffe/hängende Haut der Bauchdecke nach einer Körpergewichtsreduktion und Schlauchmagenbildung nach der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-10-GM L98.7) als Krankheit anerkannt, indes fehlt es an der hier erforderlichen Funktionsbeeinträchtigung.

Insoweit hat die gerichtlich bestellte Sachverständige Dr. med. D. in ihrem Sachverständigengutachten vom 10. Februar 2022 und in ihrer ergänzenden Stellungnahme vom 14. April 2022 – unter Auseinandersetzung mit den Darlegungen und Einwänden des Klägers und der ihn behandelnden Ärzte – ausführlich dargelegt, an welchen gesundheitlichen Einschränkungen der Kläger im Einzelnen leidet und inwieweit dies für die Beantwortung der Beweisfragen maßgeblich ist. Die Sachverständige hat den Kläger in Kenntnis aller erreichbaren Vorbefunde eingehend untersucht und die von ihr erhobenen Befunde sowie die erreichbaren Vorbefunde gründlich und vollständig gewürdigt und für das Gericht schlüssig und nachvollziehbar dargelegt, dass – entgegen der Darlegungen des Klägers – die hängende Haut-Subkutis an der Brust und am Unterbauch keine Funktionsstörungen am Haltungs- und Bewegungsapparat bedingten, dass Erkrankungen der Haut in diesem Bereich nicht bekannt seien und dass schließlich das Genital des Klägers nicht durch die Fettschürze überdeckt würde. Im Ergebnis bestätigt die Sachverständige die bereits im Sozialverwaltungsverfahren gewonnene Erkenntnis, dass die begehrten Maßnahmen nicht dazu geeignet sind, etwaige Funktionsmängel zu beheben. Die rein psychophysische Funktion der Haut und des Unterhautfettgewebes wird durch das Herabhängen nicht beeinträchtigt. Insgesamt erachtet das Gericht das Sachverständigengutachten für überzeugend, weil es anerkannten Bewertungsgrundsätzen entspricht und in sich schlüssig und nachvollziehbar begründet ist und im Übrigen auch in den wesentlichen Punkten im Einklang mit den erhobenen Vorbefunden steht, weshalb das Gericht auch das Vorliegen der Voraussetzungen der dargelegten Anspruchsgrundlage unter dem Gesichtspunkt der (fehlenden) Funktionsbeeinträchtigungen nicht zu erkennen vermag.

bbb) Die Haut- und Gewebeüberschüsse in der Bauchregion bewirken – entgegen seiner Auffassung – aber auch keine Entstellung des Klägers, die den Bedarf nach der begehrten operativen Maßnahme begründen könnte.

Um eine behandlungsbedürftige Entstellung annehmen zu können, genügt nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, der sich die Kammer nach eigener Prüfung anschließt, weil sie sie für überzeugend hält und deshalb ihrer eigenen Entscheidung zugrunde legt, nicht jede körperliche Abnormität. Vielmehr muss es sich objektiv um eine erhebliche Auffälligkeit handeln, die naheliegende Reaktionen der Mitmenschen wie Neugier oder Betroffenheit hervorruft und damit zugleich erwarten lässt, dass der Betroffene ständig viele Blicke auf sich zieht, zum Objekt besonderer Beachtung wird und sich deshalb aus dem Leben in der Gemeinschaft zurückzuziehen und zu vereinsamen droht, so dass die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft gefährdet ist.

Um eine Auffälligkeit eines solchen Ausmaßes zu erreichen, muss eine beachtliche Erheblichkeitsschwelle überschritten sein: Es genügt nicht allein ein markantes Gesicht oder generell die ungewöhnliche Ausgestaltung von Organen, etwa die Ausbildung eines sechsten Fingers an einer Hand. Vielmehr muss die körperliche Auffälligkeit in einer solchen Ausprägung vorhanden sein, dass sie sich schon bei flüchtiger Begegnung in alltäglichen Situationen quasi „im Vorbeigehen“ bemerkbar macht und regelmäßig zur Fixierung des Interesses anderer auf den Betroffenen führt. Dies gilt gerade auch vor dem Hintergrund, dass die Rechtsordnung im Interesse der Eingliederung behinderter Menschen fordert, dass Nichtbehinderte ihre Wahrnehmung von Behinderung korrigieren müssen (Bundessozialgericht, Urteil vom 08. März 2016 – B 1 KR 35/15 R, RdNr 14).

Ausgehend vom objektiven Krankheitsbegriff kommt es für die Bewertung der Entstellung nicht auf eine subjektive oder persönliche Einschätzung der Betroffenen an. Die Feststellung, dass im Einzelfall Versicherte wegen einer körperlichen Abnormität entstellt sind, ist anhand eines objektiven Maßstabes zu beurteilen und in erster Linie Tatfrage.

Bislang wurde in der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts danach allein darauf abgestellt, dass die körperliche Auffälligkeit in einer solchen Ausprägung vorhanden sein muss, dass sie sich schon bei flüchtiger Begegnung in alltäglichen Situationen quasi "im Vorbeigehen" bemerkbar macht. Die Rechtsprechung hat als Beispiele für eine Entstellung das Fehlen natürlichen Kopfhaares bei einer Frau (anders als bei einem Mann), eine Wangenatrophie oder Narben im Lippenbereich angenommen oder erörtert. Dagegen hat das Bundessozialgericht bei der Fehlanlage eines Hodens eine Entstellung nicht einmal für erörterungswürdig angesehen und eine Entstellung bei fehlender oder wenig ausgeprägter Brustanlage sowie bei Asymmetrie der Brüste unter Berücksichtigung der außerordentlichen Vielfalt in Form und Größe der weiblichen Brust revisionsrechtlich abgelehnt. In diesem Zusammenhang hat das Bundessozialgericht ausdrücklich auch nicht beanstandet, die Verneinung der entstellenden Wirkung einer Asymmetrie der Brüste entscheidend darauf zu stützen, dass sich diese im Alltag durch vorhandene Prothesen, die auch unter einem Badeanzug getragen werden können, verdecken lässt. Hieran hat das Bundessozialgericht auch später im Grundsatz festgehalten, aber seine Rechtsprechung fortentwickelt (vgl hierzu im Einzelnen: Bundessozialgericht, Urteil vom 10. März 2022 – B 1 KR 3/21 R, RdNr 18). Danach kann eine Entstellung in eng begrenzten Ausnahmefällen auch an üblicherweise von Kleidung bedeckten Körperstellen möglich sein.

Da die gesellschaftliche Teilhabe ganz überwiegend im bekleideten Zustand erfolgt, ist die Erheblichkeitsschwelle jedoch bei Auffälligkeiten im Gesichtsbereich deutlich eher überschritten, als an sonstigen, regelmäßig durch Kleidungsstücke verdeckten Bereichen des Körpers. In diesen Bereichen müssen die Auffälligkeiten deshalb besonders schwerwiegend sein. Erforderlich ist, dass selbst die Offenbarung im privaten Bereich die Teilhabe, etwa im Rahmen der Sexualität, nahezu ausschließen würde. Hierbei ist nicht das subjektive Empfinden der Betroffenen maßgeblich, sondern allein die objektiv zu erwartende Reaktion. Die Auffälligkeit muss evident abstoßend wirken. Diese Erheblichkeitsschwelle wird in den oben genannten, vom Bundessozialgericht ablehnend entschiedenen Fällen nicht erreicht. Gleiches gilt in aller Regel auch für Hautüberschüsse, wie sie etwa nach einem erheblichen Gewichtsverlust infolge einer strengen Diät oder einer bariatrischen Operation verbleiben können.

Gemessen an diesen Maßstäben ergibt sich bei dem Kläger keine Behandlungsbedürftigkeit wegen Entstellung in der Bauchregion. Die bei dem Kläger vorliegenden Haut- und Gewebeüberschüsse erweisen sich nach Auffassung der Kammer und in Anbetracht des persönlichen Erscheinungsbildes des Klägers im bekleideten und im teilentkleideten Zustand in der mündlichen Verhandlung und in Auswertung des vorgelegten Bildmaterials weder im bekleideten noch im unbekleideten Zustand entstellend. Im bekleideten Zustand sind die Haut- und Gewebeüberschüsse in der Bauchregion mit normaler Alltagsbekleidung ausreichend kaschierbar, im unbekleideten Zustand wirkte das Erscheinungsbild für die Kammer nicht als evident abstoßend. Insbesondere mit Blick auf die gerichtsbekannte Tatsache, dass in der Bundesrepublik Deutschland etwa 61 Prozent aller Männer ab dem 18. Lebensjahr übergewichtig sind (Quelle: Statistisches Bundesamt, Destatis, 2021, https://www.destatis.de/Europa/DE/Thema/Bevoelkerung-Arbeit-Soziales/Gesundheit/Uebergewicht.html) wirkt die Bauchfettschürze des Klägers nach Auffassung der Kammer selbst bei einem Menschen, der sich – wie der Kläger – einer bariatrischen Operation unterzogen hat, nicht derart ungewöhnlich, dass sie in alltäglichen Situationen – etwa im Schwimmbad oder in der Sauna – zu forschenden und entsprechend unangenehmen Blicken führt und der Kläger deshalb zum Objekt des Interesses Anderer werden könnte. Auch die Offenbarung im Rahmen der Sexualität wird mit Blick auf die dargelegte gerichtsbekannte Tatsache durch die Bauchfettschürze nicht nahezu ausgeschlossen, weil sie keinen Ekel auszulösen vermag, so dass insoweit auch von einer Teilhabebeeinträchtigung keine Rede sein kann, zumal das Vorliegen einer Entstellung – ausgehend von dem objektiven Krankheitsbegriff – allein nach objektiven Maßstäben und nicht nach dem subjektiven Empfinden und der Lebensphase der betroffenen Person zu beurteilen ist.

ccc) Eine gegebenenfalls bestehende psychische Belastung des Klägers, die sich für die Kammer jedenfalls aufgrund des klägerischen Vortrages hinsichtlich der von ihm aufgrund seines Erscheinungsbildes zu ertragenden Beleidigungen aufdrängt, rechtfertigt ebenfalls keinen operativen Eingriff auf Kosten der gesetzlichen Krankenversicherung in der Bauchregion. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts können psychische Leiden einen Anspruch auf die begehrten operativen Eingriffe nicht begründen. Dabei verneint das Bundessozialgericht eine Rechtfertigung für Operationen am gesunden Körper zur Behebung von psychischen Störungen vor allem wegen der Schwierigkeiten einer Vorhersage der psychischen Wirkungen von körperlichen Veränderungen und der deshalb grundsätzlich unsicheren Erfolgsprognose. Das gilt jedenfalls so lange, wie medizinische Erkenntnisse zumindest Zweifel an der Erfolgsaussicht von Operationen zur Überwindung einer psychischen Krankheit begründen. Der damit aufgestellte Grundsatz wäre nur dann zu überprüfen, wenn sich die wissenschaftliche Bewertung der generellen psychotherapeutischen Eignung chirurgischer Eingriffe wesentlich geändert hätte. Da sich der Kläger indes nicht in psychotherapeutischer Behandlung befindet, vermag sich die Kammer nicht davon zu überzeugen, dass die Haut- und Gewebeüberschüsse wesentlich für eine psychische Problematik des Klägers ist.

Jedenfalls rechtfertigt eine solche Belastung des Klägers keinen operativen Eingriff auf Kosten der gesetzlichen Krankenversicherung. Die Krankenkasse muss den Versicherten nicht mit jeglichem Mittel versorgen, das seiner Gesundheit förderlich ist oder für sich in Anspruch nimmt, auf die Krankheit einzuwirken; vielmehr mutet das Gesetz dem Versicherten zu, teilweise selbst für seine Gesundheit zu sorgen (vgl § 1 S 2 Hs 1, § 2 Abs 1 S 1 Hs 2 SGB V). Es weist beispielsweise die Ernährung und Körperpflege insgesamt seiner Eigenverantwortung zu, und zwar selbst dann, wenn die dafür eingesetzten Mittel wesentlich dazu beitragen, den Gesundheitszustand zu bessern oder die Verschlimmerung einer Krankheit zu verhüten. Schon daraus ergibt sich, dass Krankheit keinen undifferenzierten Bedarf an Sozialleistungen auslöst, sondern dass der Begriff der Krankenbehandlung im Sinne von § 27 Abs 1 S 2 SGB V in einem enger umrissenen Sinne zu verstehen ist. Deshalb geht auch der immer wieder vorgebrachte Einwand ins Leere, der operative Eingriff sei kostenmäßig günstiger als eine langwierige psychiatrische bzw psychotherapeutische Behandlung (Bundessozialgericht, Urteil vom 19. Oktober 2004 – B 1 KR 9/04 R, RdNr 15 mwN).

Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts besteht ein Leistungsanspruch auf Heilbehandlung in Form körperlicher Eingriffe nicht, wenn diese Maßnahmen nicht durch Fehlfunktionen oder durch Entstellung, also nicht durch einen regelwidrigen Körperzustand iS der dargestellten krankenversicherungsrechtlichen Grundsätze veranlasst werden. Damit hat sie Operationen am - krankenversicherungsrechtlich betrachtet - gesunden Körper, die psychische Leiden beeinflussen sollen, nicht als „Behandlung“ im Sinne von § 27 Abs 1 SGB V gewertet und derartige Maßnahmen (ähnlich wie zB Ernährung und Körperpflege) der Eigenverantwortung des Versicherten zugewiesen. Die Gegenmeinung relativiert den Krankheitsbegriff über Gebühr, weil sie einen Körperzustand ohne objektiven Krankheitswert dennoch rechtlich als körperlich regelwidrig behandeln will – also so, wie ihn der psychisch erkrankte Versicherte subjektiv empfindet –, indem sie daraus denselben Behandlungsanspruch ableitet wie bei tatsächlich vorhandener Körperfehlfunktion oder Entstellung.

Sie verkennt außerdem, dass die Kostenübernahme für die hier in Rede stehenden Operationen mit Rücksicht auf die damit verbundenen Risiken einer besonderen Rechtfertigung bedarf, weil damit nicht gezielt gegen die eigentliche Krankheit selbst vorgegangen wird, sondern nur mittelbar die Besserung eines an sich einem anderen Bereich zugehörigen gesundheitlichen Defizits erreicht werden soll. Eine solche Rechtfertigung hat das Bundessozialgericht für Operationen am gesunden Körper zur Behebung von psychischen Störungen vor allem wegen der Schwierigkeiten einer Vorhersage der psychischen Wirkungen von körperlichen Veränderungen und der deshalb grundsätzlich unsicheren Erfolgsprognose in ständiger Rechtsprechung verneint. Der damit aufgestellte Grundsatz wäre nur dann zu überprüfen, wenn sich die wissenschaftliche Bewertung der generellen psychotherapeutischen Eignung chirurgischer Eingriffe wesentlich geändert hätte. Die aktuellen medizinischen Erkenntnisse widerlegen jedoch nicht die diesbezüglichen in der Rechtsprechung geäußerten Zweifel. Hierfür sind in erster Linie allgemein fundierte wissenschaftliche Nachweise und nicht die Verhältnisse im konkreten Fall des Klägers maßgebend, (Bundessozialgericht, Urteil vom 19. Oktober 2004 – B 1 KR 9/04 R, RdNr 16 mwN).

Auf Grund von medizinischen Untersuchungen gab und gibt es Hinweise darauf, dass bei Patienten, die wegen einer als Makel empfundenen körperlichen Besonderheit psychisch erkranken, operative Interventionen sogar zu einer Verschlimmerung des psychischen Krankheitsbildes führen können und daher als kontraindiziert angesehen werden müssten. Selbst wenn diese Auffassung ihrerseits in der medizinischen Wissenschaft nicht unumstritten, begründet sie doch zumindest Zweifel an der Erfolgsaussicht von Operationen zur Überwindung einer psychischen Krankheit und bestätigt jedenfalls die schon in der bisherigen Rechtsprechung angelegte Zurückhaltung (Bundessozialgericht, Urteil vom 19. Oktober 2004 – B 1 KR 9/04 R, RdNr 17 mwzN).

b) Wenn danach die Anfechtungsklage hinsichtlich der begehrten Versorgung mit einer Abdominalplastik unbegründet ist, gilt Gleiches auch für die mit ihr verbundene Leistungsklage (§ 54 Abs 4 SGG iVm § 56 SGG). Diese ist unbegründet, weil in Verfahren der vorliegenden Art eine zulässige und begründete Leistungsklage wegen des der Kombination immanenten Stufenverhältnisses ihrerseits eine zulässige und begründete Anfechtungsklage voraussetzt und weil zugunsten des Klägers – wie aufgezeigt – ein Anspruch auf eine entsprechende Versorgung nicht besteht.

3. Die zulässigen Klagen sind indes begründet, soweit der Kläger die Versorgung mit beidseitigen Mammareduktionsplastiken begehrt.

a) Die mit der Leistungsklage kombinierte Anfechtungsklage im Sinne des § 54 Abs 1 S 1 Regelung 1 SGG ist in diesem Umfang begründet, weil die angegriffene sozialverwaltungsbehördliche Verfügung der Beklagten in diesem Umfang rechtswidrig ist und der Kläger hierdurch in seinen subjektiv-öffentlichen Rechten beschwert ist (vgl § 54 Abs 2 S 1 SGG). Die Beklagte hat es zu Unrecht abgelehnt, den Kläger entsprechend zu versorgen. Dem Kläger steht ein entsprechender Leistungsanspruch zu.

Die Kammer ist nämlich zu der Überzeugung gelangt, dass im Hinblick auf die Brustregion des Klägers – entgegen der Auffassung der Beklagten – eine Operationsindikation in Form einer so genannten Entstellung vorliegt. Denn nach dem Ergebnis der Inaugenscheinnahme des bekleideten und teilentkleideten Klägers im Termin zur mündlichen Verhandlung und unter Berücksichtigung des Bildmaterials, das sich in der Prozessakte befindet und das die Kammer im Rahmen der mündlichen Verhandlung auf dem Smartphone des Klägers in Augenschein genommen hat, ist das Erscheinungsbild der Brüste des Klägers entstellend im Rechtssinne. Nach dem persönlichen Eindruck des Erscheinungsbildes des Klägers, den sich die Kammer in der mündlichen Verhandlung verschafft hat, ist vorliegend auch unter Zugrundelegung strenger Maßstäbe ausnahmsweise von einer Entstellung der Brüste des Klägers auszugehen. Dies ergibt sich unter dem Gesichtspunkt der Betrachtung des teilentkleideten Zustandes. Die Kammer hält die Brüste des Klägers für evident abstoßend im Sinne der oben dargelegten Grundsätze der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts. Die Brüste sind nach Auffassung der Kammer selbst bei einem Menschen, der sich – wie der Kläger – einer bariatrischen Operation unterzogen hat, aufgrund ihrer Form, ihrer Länge und ihrer Ähnlichkeit mit der reiferen weiblichen Brust derart ungewöhnlich, dass sie schon in alltäglichen Situationen – etwa im Schwimmbad oder in der Sauna – zu forschenden und entsprechend unangenehmen Blicken führen und der Kläger deshalb zum Objekt des Interesses Anderer wird. Hinzu kommt nach Auffassung der Kammer aber auch und gerade, dass die Brustform des Klägers im teilentkleideten Zustand für ihm zugewandte Personen weiblichen Geschlechts derart erschreckend wirkt, dass eine entsprechende Offenbarung im privatesten aller privaten Bereiche die Teilhabe, etwa im Rahmen der Sexualität, aus Sicht der Kammer nahezu ausschließt. Hierbei hat die Kammer im Übrigen auch erneut berücksichtigt, dass nicht das subjektive Empfinden des Klägers maßgeblich ist, sondern allein die objektiv zu erwartende Reaktion, die die Kammer aber im oben genannten Sinne einschätzt.

Die Kammer möchte in diesem Zusammenhang indes aber noch einmal hervorheben, dass sie auch weiterhin bei der Beurteilung der Entstellung regelmäßig strenge Maßstäbe zugrunde legt und dabei insbesondere von Menschen mit unauffälligem Erscheinungsbild die gebotene Toleranz gegenüber Normabweichungen einfordert. Erst wenn diese – wie hier – die Grenze zur Entstellung (im bekleideten und/oder unbekleideten Zustand) überschreiten, kommt ein Leistungsanspruch in Betracht. Auch weiterhin sind Normabweichungen grundsätzlich vorrangig zu tolerieren und nur ausnahmsweise zu korrigieren (vgl auch Bundessozialgericht, Urteil vom 08. März 2016 – B 1 KR 35/15 R, RdNr 13).

b) Wenn danach die Anfechtungsklage hinsichtlich der begehrten Versorgung mit beidseitigen Mammareduktionsplastiken begründet ist, gilt Gleiches auch für die mit ihr verbundene Leistungsklage (§ 54 Abs 4 SGG iVm § 56 SGG). Diese ist begründet, weil zugunsten des Klägers – wie aufgezeigt – ein entsprechender Leistungsanspruch besteht.

4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs 1 S 1 SGG. Es entsprach dabei der Billigkeit, dass die Beklagte die Hälfte der dem Kläger entstandenen notwendigen außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten hat, weil dies dem Verhältnis von Obsiegen zum Unterliegen entspricht, während die Aufwendungen der Beklagten schon von Gesetzes wegen nicht erstattungsfähig sind (§ 193 Abs 4 SGG iVm § 184 Abs 1 SGG).

5. Gerichtskosten werden in Verfahren der vorliegenden Art nicht erhoben (§ 183 S 1 SGG).