Gericht | VG Potsdam 8. Kammer | Entscheidungsdatum | 06.05.2022 | |
---|---|---|---|---|
Aktenzeichen | VG 8 K 5781/17.A | ECLI | ECLI:DE:VGPOTSD:2022:0506.VG8K5781.17.A.00 | |
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 3 AsylVfG 1992, § 77 AsylVfG 1992 |
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 28. August 2017 verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Asylgesetz zuzuerkennen.
Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagten wird nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht zuvor der Kläger Sicherheit in Höhe des zu vollstreckenden Betrages leistet.
Der Kläger ist staatenloser Palästinenser aus dem Libanon. Er ist bei dem United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East (UNRWA) registriert und begehrt die Zuerkennung internationalen Schutzes.
Der 1968 in Beirut (Libanon) geborene Kläger reiste zusammen mit seinen Eltern erstmals im Jahr 1979 in die Bundesrepublik ein und stellte einen Asylantrag. Die Akte dieses Verfahrens ist beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) mittlerweile nicht mehr vorhanden. In Deutschland besuchte er von 1978 bis 1985 die Hauptschule und anschließend die Berufsschule in Saarbrücken. Zwischen 1985 und 1988 absolvierte er eine Berufsausbildung als Schreiner, jedoch ohne Abschluss.
Der Kläger lebte nach eigenen Angaben nach seiner Abschiebung von 1995 bis 2015 im Libanon, zuletzt im Flüchtlingslager B.... Ende September bzw. Anfang Oktober 2015 habe er den Libanon verlassen und sei über die Türkei, Griechenland, Mazedonien, Serbien, Ungarn und Österreich nach Deutschland eingereist.
Der Kläger ist verheiratet und hat vier Töchter, S..., C... (beide geboren am 4. August 2010), S... (geboren am 11. März 2000) und N... (geboren am 17. November 1997) sowie einen Sohn, Y... (geboren am 20. November 2004). Die Ehefrau und die Kinder des Klägers sind bereits im Juli 2015 nach Deutschland eingereist. Ihre Asylanträge sind rechtskräftig abgelehnt worden (Urteile des Verwaltungsgerichts Potsdam vom 5. April 2017, - VG 6 K 106/17.A - und - VG 6 K 105/17.A -).
Am 18. Februar 2016 stellte der Kläger einen Asylfolgeantrag. Zur Begründung trug er vor, während seines Aufenthalts im Libanon von 1995 bis 2015 sei er Mitglied der „Nationalen Palästinensischen Befreiungsbewegung“ (Fatah al Intifada) gewesen, welche von der syrischen Regierung gesteuert worden sei. Zwischen 1995 und 2005 sei er im Flüchtlingslager einer Einheit der Sicherheitskräfte angegliedert gewesen. Im Jahr 2005 seien zu den bisherigen Aufgaben des Sicherheitsdienstes im Lager auch noch geheimdienstliche Aufgaben hinzugekommen. Dazu habe gehört, von den Vorgesetzten benannte Personen zu verhaften und sie den Vorgesetzten zuzuführen. Die zuvor verhafteten Personen sollen für geplante bzw. durchgeführte Anschläge im Libanon in- und außerhalb des Flüchtlingslagers verantwortlich gewesen sein. Die Verhafteten seien anschließend nach Syrien verbracht worden.
Fluchtauslösend sei die Weigerung des Klägers im April 2015 gewesen, den ihm von seinem Vorgesetzten bei der Fatah al Intifada erteilten Befehl auszuführen, seinen Nachbarn festzunehmen. Schon einige Zeit vor diesem Vorfall habe der Kläger Bedenken wegen seiner Tätigkeit gehabt, weil viele Unschuldige verhaftet und nach Syrien gebracht worden seien. Noch am gleichen Tag der Befehlsverweigerung hätten fünf Personen aus der Organisation den Kläger besucht und ihm mitgeteilt, dass er sich innerhalb von 30 Minuten mit der Waffe im Büro der Organisation einfinden solle. Dies habe er abgelehnt. Im Anschluss habe er mit der Waffe das Haus verlassen und sich im Lager versteckt. Er sei auch von der Fatah al Intifada mit Haftbefehl gesucht worden. Am Tag der Befehlsverweigerung sei er zudem in ein Gefecht mit Angehörigen der Organisation Fatah al Intifada verwickelt worden, das er aber unbeschadet überstanden habe. Drei Monate vor seiner Ausreise habe er seine Familie in die Türkei geschickt und sei in den Süden Libanons gegangen. Die Waffen, welche ihm von der Organisation zur Verfügung gestellt worden seien, habe er verkauft und sei nach Deutschland ausgereist. Bei einer Rückkehr in den Libanon befürchte er, dass die Organisation sich seiner annehmen, ihn bestrafen und nach Syrien überstellen werde.
Das Bundesamt hat auf den Folgeantrag des Klägers ein weiteres Asylverfahren durchgeführt und den Antrag mit Bescheid vom 28. August 2017 in der Sache abgelehnt, den Kläger zur Ausreise aufgefordert und ihm die Abschiebung in den Libanon angedroht. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf 36 Monate befristet.
Der Kläger verfolgt sein Anliegen mit seiner am 8. September 2017 entsprechend der Rechtsbehelfsbelehrung in dem Bescheid des Bundesamtes bei dem Verwaltungsgericht Frankfurt/Oder erhobenen Klage weiter. Neben der gegenüber dem Bundesamt vorgetragenen Verfolgungssituation beruft sich der Kläger zur Begründung insbesondere darauf, dass er sich im Falle einer Rückkehr mit seiner Ehefrau und den drei noch minderjährigen Kindern in einer existenzbedrohenden wirtschaftlichen Situation befinden würde.
Das Verwaltungsgericht Frankfurt/Oder hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 20. Oktober 2017 (- VG 3 K 3269/17.A -) an das Verwaltungsgericht Potsdam verwiesen.
Der Kläger ist in der mündlichen Verhandlung zu seinen Fluchtgründen informatorisch befragt worden. Insoweit wird auf die Sitzungsniederschrift vom 6. Mai 2022 Bezug genommen.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 28. August 2017 zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Asylgesetz zuzuerkennen,
hilfsweise,
die Beklagte zu verpflichten, ihn als subsidiär Schutzberechtigten nach
§ 4 Asylgesetz anzuerkennen,
weiter hilfsweise,
die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass in seiner Person Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz bezüglich des Libanon vorliegen,
weiter hilfsweise,
das Einreise- und Aufenthaltsverbot in Ziff. 6 des Bescheides vom 28. August 2017 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
die Klage abzuweisen.
Sie bezieht sich zur Begründung auf die angefochtene Entscheidung.
Die Kammer hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 12. Dezember 2017 dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die von den Beteiligten gewechselten Schriftsätze verwiesen. Die Asylakten des Klägers, seiner Ehefrau und seiner ältesten Tochter (drei Hefter) und die Ausländerakten des Landrates des Landkreises Märkisch-Oderland (zwei Hefter) haben vorgelegen und sind zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht worden.
Das Gericht konnte über die Klage verhandeln und entscheiden, auch wenn ein Vertreter der Beklagten in der mündlichen Verhandlung am 6. Mai 2022 nicht anwesend war. Die Beteiligten sind mit der Ladung darauf hingewiesen worden, dass beim Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 VwGO).
Die Klage hat Erfolg. Sie ist zulässig und begründet.
Der Bescheid des Bundesamtes vom 28. August 2017 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO), weil er nach der maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1, 2. Halbsatz AsylG) einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne von § 3 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 Satz 2 AsylG hat.
1. Gemäß § 3 Abs. 3 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer nicht Flüchtling nach Absatz 1 dieser Vorschrift, wenn er den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Art. 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention - GFK) genießt (sogenannte Ausschlussklausel). Das UNRWA fällt in den Anwendungsbereich dieser Bestimmung (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. April 2021 - 1 C 2.21 -, juris Rn. 12; Urteil vom 25. April 2019 - 1 C 28.18 -, juris Rn. 18).
Nach § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG gilt dieser Ausschluss nicht, wenn dem Ausländer ein solcher Schutz oder Beistand nicht länger gewährt wird, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig geklärt worden ist. In diesem Fall genießt der Betroffene gemäß Art. 12 Abs. 1 Buchst. a) Satz 2 Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (RL 2011/95/EU) ipso facto den Schutz der Richtlinie und ist damit als Flüchtling anzuerkennen, ohne notwendigerweise nachweisen zu müssen, dass er bis zu dem Zeitpunkt, zu dem er in der Lage ist, in das Gebiet zurückzukehren, in dem er seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, eine begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne von Art. 2 Buchst. d) der RL 2011/95/EU hat (EuGH, Urteil vom 3. März 2022 - C-349/20 -, juris, Rn. 50; Urteil vom 13. Januar 2021 - C-507/19 -, juris Rn. 51 m.w.N.; BVerwG, Urteil vom 27. April 2021 - 1 C 2.21 -, juris Rn. 12). Weitere Voraussetzung für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist dann lediglich, dass Ausschlussgründe im Sinne des Art. 1 Abschnitt E und F GFK, des Art. 12 Abs. 1 Buchst. b) und Absätze 2 und 3 RL 2011/95/EU und des § 3 Abs. 2 AsylG nicht eingreifen (EuGH Urteil vom 13. Januar 2021 - C-507/19 -, juris Rn. 51; BVerwG, EuGH-Vorlage vom 14. Mai 2019 - 1 C 5.18 -, juris Rn. 14).
§ 3 Abs. 3 Satz 1 und Satz 2 AsylG stellen im Zusammenspiel eine zwingend anzuwendende Spezialregelung dar (vgl. EuGH, Urteil vom 25. Juli 2018 - C-585/16, Alheto -, juris Rn. 87), die die Anwendung von § 3 Abs. 1 AsylG sperrt. Denn entweder ist der Schutz oder Beistand des UNRWA weggefallen mit der Folge, dass dem Betroffenen deklaratorisch die ipso facto-Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist, oder dies ist nicht der Fall und der Betroffene ist von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen. Die Voraussetzungen dieser Spezialregelung sind unabhängig davon zu prüfen, ob der Asylantragsteller sich darauf berufen oder das Bundesamt seine Entscheidung darauf gestützt hat (EuGH, Urteil vom 25. Juli 2018 - C-585/16, Alheto -, juris Rn. 87 ff., 101).
Der Schutz oder Beistand fällt nicht nur dann weg, wenn die Organisation oder Institution, die ihn gewährt hat, entweder aufgelöst wird oder ihre Tätigkeit vollständig einstellt. Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut des Art. 12 Abs. 1 Buchst. a) Satz 2 RL 2011/95/EU („aus irgendeinem Grund nicht länger gewährt“). Vielmehr genügt es, dass der Schutz oder Beistand einer Person, nachdem sie diesen tatsächlich in Anspruch genommen hat, aus einem von ihr nicht zu kontrollierenden und von ihrem Willen unabhängigen Grund nicht länger gewährt wird. Dies ist der Fall, wenn die betreffende Person gezwungen war, das Einsatzgebiet des UNRWA zu verlassen, weil sie sich in einer sehr unsicheren persönlichen Lage befand, und es dieser Organisation unmöglich war, ihr in diesem Gebiet Lebensverhältnisse zu gewährleisten, die mit der ihr übertragenen Aufgabe in Einklang stehen. Die bloße Abwesenheit aus dem UNRWA-Einsatzgebiet oder die freiwillige Entscheidung, dieses zu verlassen, führt nicht zu einem Wegfall des Schutzes oder Beistandes (EuGH, Urteil vom 13. Januar 2021 - C-507/19 -, juris Rn. 51, 69; Urteil vom 19. Dezember 2012 - C-364/11 -, juris Rn. 49 ff., 65; BVerwG, Urteil vom 27. April 2021 - 1 C 2.21 -, juris Rn. 18). Dem Betroffenen ist es möglich und zumutbar, in das Einsatzgebiet der UNRWA im Libanon zurückzukehren und sich dessen Schutz oder Beistand erneut zu unterstellen, sofern er die Garantie hat, in dem Operationsgebiet aufgenommen zu werden, ihm die UNRWA dort tatsächlich einen von den verantwortlichen Stellen zumindest anerkannten Schutz oder Beistand gewährt und er erwarten kann, sich in diesem Operationsgebiet in Sicherheit und unter menschenwürdigen Lebensbedingungen aufhalten zu dürfen (BVerwG, Urteil vom 27. April 2021 - 1 C 2.21 -, juris Rn. 20 f. m.w.N. aus der EuGH-Rechtsprechung).
In zeitlicher Hinsicht ist für die Beurteilung, ob der Schutz oder Beistand des UNRWA nach diesen Maßstäben nicht länger gewährt wird, im Rahmen einer individuellen Beurteilung der relevanten Umstände nicht nur der Zeitpunkt zu berücksichtigen, zu dem diese Person das UNRWA-Einsatzgebiet verlassen hat, sondern auch der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (EuGH, Urteil vom 3. März 2022, C-349/20, juris Rn. 58). Für Fallkonstellationen, in denen es dem Betroffenen zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung möglich und zumutbar ist, in das Einsatzgebiet zurückzukehren und sich dem Schutz oder Beistand des UNRWA erneut zu unterstellen, ist dies – unabhängig davon, ob das UNRWA-Einsatzgebiet freiwillig verlassen wurde oder nicht – unstreitig (vgl. nur BVerwG, Urteil vom 27. April 2021 - 1 C 2.21 -, BVerwGE 172, 241-254 = juris Rn. 24). Ebenso unstreitig dürfte sein, dass der Anspruch auf die ispo facto-Flüchtlingsanerkennung nicht verloren geht, wenn das Einsatzgebiet nach den Maßstäben des Europäischen Gerichtshofes unfreiwillig verlassen wurde und eine Rückkehr auch im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht möglich oder zumutbar ist (vgl. VG Minden, Urteil vom 18. März 2022 - 1 K 662/18.A -, juris Rn. 47).
Hinsichtlich der verbleibenden Konstellation – das Mandatsgebiet wurde freiwillig verlassen, eine Rückkehr ist allerdings nicht mehr möglich bzw. zumutbar – hat die Kammer auch bisher schon keine „Sperrwirkung“ (zum Begriff vgl. VG Minden, Urteil vom 18. März 2022 - 1 K 662/18.A -, juris Rn. 49) durch das freiwillige Verlassen angenommen (VG Potsdam, Urteil vom 18. Juni 2020 - 8 K 3961/17.A -, juris Rn. 24; ebenso VG Köln, Urteil vom 8. Oktober 2021 - 20 K 3644/16.A -, juris Rn. 46 m.w.N.; anders VG Berlin, Urteil vom 24. November 2021 - 34 K 326.18 A -, juris Rn. 31 f.). Sie sieht sich in ihrer Auffassung durch das Urteil des Europäischen Gerichtshofes vom 3. März 2022 (C-349/20, juris Rn. 52, 57 f.) bestätigt. Der Gerichtshof hatte erkennbar eine Konstellation vor Augen, in der erst nach dem freiwilligen Verlassen des Einsatzgebiets die Inanspruchnahme des Schutzes und Beistands des UNRWA unmöglich oder unzumutbar wurde (vgl. VG Minden, Urteil vom 18. März 2022 - 1 K 662/18.A -, juris Rn. 55). Dies folgt daraus, dass unter Randnummer 57 ausdrücklich darauf abgestellt wird, dass sich die Lage „verschlechtert hat“. Ein solches Verständnis entspricht auch den Schlussanträgen des Generalanwalts vom 6. Oktober 2021, wonach die Vorlagefragen „im Licht der sich angeblich verschlechternden Umstände" (juris Rn. 47) stehen. Ob darüber hinaus eine „eingeschränkte Sperrwirkung“ des freiwilligen Verlassens anzunehmen ist, wenn die nachträgliche Veränderung auf Gründen beruht, die von dem Antragsteller kontrolliert werden können bzw. von seinem Willen abhängig sind bzw. wenn er auf der Grundlage ihm vorliegender konkreter Informationen vernünftigerweise mit dem Eintritt dieser Umstände rechnen musste (vgl. VG Minden, Urteil vom 18. März 2022 - 1 K 662/18.A -, juris Rn. 56), bedarf im vorliegenden Fall keiner Entscheidung, weil derartige Umstände von den Beteiligten nicht vorgetragen worden und auch sonst nicht ersichtlich sind.
In räumlicher Hinsicht ist auf das gesamte – die fünf Operationsgebiete Gazastreifen, Westjordanland (einschließlich Ost-Jerusalem), Jordanien, Libanon und Syrien umfassende – Einsatzgebiet des UNRWA abzustellen. Die Feststellung, der Schutz
oder Beistand würden i.S.d. § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG nicht länger gewährt, ist daher nicht schon dann gerechtfertigt, wenn dieser in einem bestimmten Operationsgebiet des UNRWA nicht in Anspruch genommen werden kann. Vielmehr bedarf es zusätzlich der Feststellung, dass der Staatenlose den Schutz und Beistand auch in keinem anderen Operationsgebiet des UNRWA konkret in Anspruch nehmen kann (BVerwG, Urteil vom 27. April 2021 - 1 C 2.21 -, BVerwGE 172, 241-254 = juris Rn. 19; EuGH, Urteil vom 13. Januar 2021 - C-507/19 -, juris Rn. 67).
2. Auf der Grundlage dieser Maßstäbe gilt hier folgendes: Der Kläger verfügt über eine Family Registration Card des UNRWA im Libanon (Seite 98 der Asylakte der Ehefrau des Klägers). Er hat damit vor seiner Ausreise den Schutz bzw. Beistand dieses Hilfswerks genossen; insoweit reicht die Registrierung als Nachweis aus (BVerwG, Urteil vom 27. April 2021 - 1 C 2.21 -, juris Rn. 14 mit weiteren Nachweisen zur EuGH-Rechtsprechung).
Das hätte grundsätzlich zur Folge, dass der Kläger von der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ausgeschlossen ist. Im Fall des Klägers trifft dies jedoch nicht zu, weil die Voraussetzungen des § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG („Einschlussklausel“) erfüllt sind.
Ob der Kläger auf der Grundlage der vorstehend unter 1. ausgeführten Maßstäbe gezwungen war, im September bzw. Oktober 2015 das UNRWA-Einsatzgebiet im Libanon zu verlassen, bedarf vorliegend keiner Entscheidung. Jedenfalls ist es ihm im nach § 77 Abs. 1 S. 1 Halbsatz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung am 6. Mai 2022 nicht möglich und zumutbar, in den Libanon zurückzukehren und sich dem Schutz der UNRWA erneut zu unterstellen. Das Gericht geht zwar davon aus, dass er in den Libanon einreisen und sich in das UNRWA-Einsatzgebiet begeben kann. Das UNRWA ist auch weiterhin im Libanon tätig und es dürfte dem Kläger bei einer Rückkehr in das Einsatzgebiet erneut Schutz gewähren (vgl. Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Libanon - Rückkehr für staatenlose Palästinenser, 5. Juni 2018, S. 3 f.). Der Kläger kann auch erwarten, im UNRWA-Einsatzgebiet sicher vor Verfolgung zu sein, weil die von ihm vorgetragene Verfolgung dem Gericht nicht glaubwürdig erscheint (dazu im Folgenden a.). Er und seine insoweit mit in den Blick zu nehmende Ehefrau sowie die minderjährigen Kinder S..., C... und Y... können jedoch angesichts ihrer individuellen Umstände als auch der sich aus den in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln ergebenden allgemeinen Lage nicht erwarten, sich im UNRWA-Einsatzgebiet im Libanon unter menschenwürdigen Lebensbedingungen aufhalten zu können, da der Kläger und seine Ehefrau mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht in der Lage sein werden, angesichts der gegenwärtigen schweren Versorgungskrise im Libanon eine ausreichende Ernährung der Familie im Sinne des absoluten Existenzminimums sicherzustellen (b.).
a. Die Kläger kann erwarten, sich in Sicherheit im Einsatzgebiet des UNRWA im Libanon aufzuhalten. Ihm droht weder Verfolgung im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG (aa.) noch ein ernsthafter Schaden im Sinne von § 4 AsylG (bb.).
aa. Die erforderliche Sicherheit bei einer Rückkehr in das Einsatzgebiet des UNRWA umfasst auch die Sicherheit vor Verfolgung im Sinne von §§ 3a ff. AsylG. Die Rückkehr ist der betroffenen Person nicht zumutbar, wenn sie dort mit einer schutzrelevanten Verfolgung rechnen muss (BVerwG, Urteil vom 25. April 2019 - 1 C 28.18 -, juris Rn. 28). Das ist bei dem Kläger indes nicht der Fall.
Als Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG gelten gemäß § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK, BGBl. 1952 II, S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist, oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist. Für die Frage der Verfolgungswahrscheinlichkeit im Falle der Rückkehr in den Heimatstaat ist der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen. Dies setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung vorzunehmen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (st. Rspr., BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 - 1 C 31.18 -, juris Rn. 16 m.w.N.).
Im Falle einer Vorverfolgung greift die Beweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU ein. Danach ist die Tatsache, dass ein Schutzsuchender bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass er erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird.
Mit Blick auf die in § 15 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 25 Abs. 1 Satz 1 AsylG geregelten Mitwirkungspflichten ist es zunächst Sache des Schutzsuchenden, seine guten Gründe für eine Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Er muss also unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt schildern, aus dem sich – als wahr unterstellt – ergibt, dass ihm bei verständiger Würdigung politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, so dass es ihm nicht zuzumuten ist, im Herkunftsland zu bleiben oder dorthin zurückzukehren (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Oktober 1983 - 9 C 473.82 -, juris Rn. 8).
Nach diesen Grundsätzen muss der Kläger im Falle seiner Rückkehr in den Libanon nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit Verfolgung rechnen. Er hat den Libanon nicht vorverfolgt verlassen. Das Gericht hält das Vorbringen des Klägers zu seiner angeblichen Verfolgung durch die Organisation Fatah al Intifada für unglaubhaft und folgt insoweit der Begründung des streitgegenständlichen Bescheids des Bundesamtes vom 28. August 2017 (dort S. 8 bis 10) gemäß § 77 Abs. 2 AsylG.
bb. Dem Kläger droht auch erkennbar kein ernsthafter Schaden bei einer Rückkehr in den Libanon (zu diesem Erfordernis vgl. BVerwG, Urteil vom 25. April 2019 - 1 C 28.18 -, juris Rn. 28). Dass er die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe befürchten müsste (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG), ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Ihm droht auch keine Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG). Hinsichtlich der behaupteten Strafverfolgung durch die Fatah al Intifada und den dem Bundesamt vorgelegten „Haftbefehl“ vom 5. April 2015 gilt das zur Frage der Vorverfolgung i.S.v. § 3 Abs. 1 AsylG vorstehend Ausgeführte. Eine möglicherweise auf der schlechten allgemeinen humanitären Lage beruhende Beeinträchtigung ist nicht an § 4 Abs. 1 Nr. 2 AsylG zu messen, da die Vorschrift nur Fälle erfasst, in denen eine notwendige humanitäre Versorgung gezielt vorenthalten wird (BVerwG, Urteil vom 20. Mai 2020 - 1 C 11.19 -, juris Rn. 9 ff., 15; Beschluss vom 13. Februar 2019 - 1 B 2.19 -, juris Rn. 13).
Der Kläger hat auch ersichtlich keine ernsthafte individuelle Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG) zu befürchten.
b. Dem Kläger drohen jedoch menschenunwürdige Lebensbedingungen bei einer Rückkehr in das UNRWA-Einsatzgebiet im Libanon, weil er sich dort aufgrund der humanitären Lage in einer existenzbedrohenden wirtschaftlichen Situation befinden würde. Auch gemeinsam mit seiner Ehefrau dürfte er angesichts der aktuellen Versorgungskrise im Libanon mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht auf Dauer in der Lage sein, die Ernährung seiner fünfköpfigen Familie im Sinne der Sicherung des absoluten Existenzminimums sicherzustellen.
Menschenunwürdige Lebensbedingungen drohen, wenn der Betroffene sich unabhängig von seinem Willen und seiner persönlichen Entscheidung in einer Situation
extremer materieller Not befinden wird, die es ihm nicht erlaubt, seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die seine physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder ihn in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (zu diesem zu Art. 3 Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten - EMRK - bzw. Art. 4 Charta der Grundrechte der Europäischen Union - GRC - entwickelten Maßstab vgl. EuGH, Urteile vom 19. März 2019 - C-297/17 u.a., Ibrahim -, juris Rn. 89 ff. und - C-163/17, Jawo -, juris Rn. 90 ff.; BVerwG, Urteil vom 17. Juni 2020 - 1 C 35.19 -, juris Rn. 27; Urteil vom 4. Juli 2019 - 1 C 45.18 -, juris Rn. 12; Urteil vom 31. Januar 2013 - 10 C 15.12 - BVerwGE 146, 12 = juris Rn. 25). Diese Schwelle ist selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund deren sich die betroffene Person in einer solch schwerwiegenden Lage befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann, wobei ebenfalls der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen ist (BVerwG, Urteil vom 17. Juni 2020 - 1 C 35.19 -, juris Rn. 27; Urteil vom 20. Mai 2020 - 1 C 34.19 -, juris Rn. 19 jeweils m.w.N. aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union - EuGH - zu Art. 4 GRC und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte - EGMR - zu Art. 3 EMRK).
Für die Prognose, welche Gefahren einem Ausländer bei der Rückkehr in den Herkunftsstaat drohen, ist bei einer in Deutschland gelebten familiären Gemeinschaft mit der Kernfamilie grundsätzlich von einer Rückkehr im Familienverband – Eltern mit ihren minderjährigen Kindern – auszugehen (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 - 1 C 45.18 -, BVerwGE 166, 113-125 = juris Rn. 17 zu § 60 Abs. 5 AufenthG). Dieser Familienverband umfasst im Fall des Klägers neben ihm selbst seine Ehefrau sowie die Kinder S..., C... und Y....
Auf der Grundlage dieser Maßstäbe droht dem Kläger eine Verletzung von Art. 3 EMRK bei einer Rückkehr in den Libanon dadurch, dass er mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit seine Familie nicht im Sinne des absoluten Existenzminimums wird ernähren können. Das Bundesverwaltungsgericht (a.a.O. Rn. 27) führt zur Gefährdung der Existenzsicherung durch „Versorgungslasten“ für nahe Familienangehörige aus:
„Bei der Rückkehr im Familienverband, bei der lediglich ein Familienmitglied sein eigenes Existenzminimum (notdürftig) sichern könnte, nicht aber das seiner Angehörigen, steht dieses vor der Alternative, entweder unter Verletzung seiner Familienobliegenheiten zunächst vollständig seine eigene Existenz (hinreichend) zu sichern und dafür auch die tatsächliche Existenzgefährdung oder eine konventionswidrige Situation der von ihm abhängigen Angehörigen in Kauf zu nehmen oder unter dem Eindruck der in ihrer Existenz gefährdeten Familienmitglieder auf die hinreichende Sicherung der eigenen Existenz durch ‚Teilen‘ mit Familienangehörigen auch dann zu verzichten, wenn dies zu einer konkret drohenden Verletzung von Leib, Leben oder der Freiheit der eigenen Person führt. Entscheidet er sich für Letzteres, handelt es sich nicht um eine ‚freiwillige Selbstgefährdung‘, die eine ‚außergewöhnliche Notlage‘ im Sinne des Art. 3 EMRK ausschließt. Art. 6 GG/Art. 8 EMRK schützen jedenfalls normativ die - für die Rückkehrprognose naheliegende - Entscheidung eines Elternteils, auf die Erfüllung grundlegender familiärer Solidarpflichten auch dann nicht zugunsten der eigenen Existenzsicherung zu verzichten, wenn damit das eigene Existenzminimum unterschritten und für die eigene Person eine mit Art. 3 EMRK unvereinbare Lage herbeigeführt wird.“
Das Gericht geht aufgrund der individuellen Umstände des Klägers und der weiteren Mitglieder seiner Kernfamilie sowie auf der Grundlage der in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel davon aus, dass der Kläger und seine Ehefrau bei einer Rückkehr der Familie in das Flüchtlingslager B... oder ein anderen Lager gegebenenfalls mit Unterstützung der UNRWA und weiterer Familienangehöriger (notdürftig) in der Lage sein werden, ihr eigenes Existenzminimum zu sichern, nicht aber auch dasjenige ihrer minderjährigen Kinder.
In den palästinensischen Flüchtlingslagern im Libanon herrschen prekäre Lebensbedingungen. Die Verhältnisse in den Flüchtlingslagern sind geprägt von Armut, Arbeitslosigkeit, teilweise desaströsen Wohnverhältnissen, fehlender Infrastruktur und Überbelegung (Auswärtiges Amt, Lagebericht Libanon, 17. Dezember 2021, S. 10 f.; BfA, Länderinformationsblatt Libanon, 31. Oktober 2021, S. 55 f.). Alle Lager sind massiv von den Hilfeleistungen der chronisch unterfinanzierten UNRWA abhängig (Auswärtiges Amt, a.a.O., S. 11). Deren finanzielle Situation hatte sich seit Mitte 2018 durch die massive Kürzung der Unterstützung der USA weiter verschlechtert, doch leistet das UNRWA registrierten palästinensischen Flüchtlingen weiterhin grundlegende Unterstützung, welche die Grund- und Berufsausbildung, die medizinische Grundversorgung, Hilfs- und Sozialdienste, die Verbesserung der Infrastruktur der Lager sowie ein Härtefallhilfsprogramm umfassen (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Libanon: Unterstützung von palästinensischen Flüchtlingen durch UNRWA, 23. März 2022, S. 10 f.; UNRWA, Palestine Refugees in Lebanon: Struggling to survive, 18. Januar 2022, S. 13; ACCORD, Anfragebeantwortung zum Libanon: sozioökonomische Lage von palästinensischen Flüchtlingen mit UNRWA-Registrierung und ohne UNRWA-Registrierung; Zugang zu Leistungen der UNRWA, Zugang zu Wohnraum, medizinischer Versorgung, Nahrungsmittelversorgung, sozialer Unterstützung, 29. Juni 2021; Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Würzburg u.a. zu den Lebensverhältnissen in den Lagern für palästinensische Flüchtlinge,
2. März 2021, S. 3 f.; BfA, Länderinformationsblatt Libanon, Stand 31. Oktober 2021, S. 55 f.; Danish Immigration Service Palestinian Refugees Access to registration and UNRWA services, documents, and entry to Jordan, Juni 2020, S. 26 ff.; US-Außenministerium, Country Report on Human Rights Practices 2019 - Lebanon,
11. März 2020, S. 25; Antwort der Bundesregierung vom 18. August 2020 auf eine Kleine Anfrage mehrerer Bundestagsabgeordneter, BT-Drs. 19/21707, S. 14).
Die erheblichen finanziellen Schwierigkeiten des UNRWA führten zu Leistungskürzungen, dagegen gerichteten Protesten palästinensischer Aktivisten und vorübergehend dazu, dass das UNRWA nicht mehr in der Lage war, seinen Mitarbeitern die Löhne auszuzahlen (Schweizerische Flüchtlingshilfe, 23. März 2022, S. 12 f.; ACCORD, Anfragebeantwortung zum Libanon: sozioökonomische Lage von palästinensischen Flüchtlingen, 29. Juni 2021, S. 3, 5). Das UNRWA rief am 19. Januar 2022 die internationale Gemeinschaft zur Bereitstellung dringend benötigter finanzieller Mittel auf (BAMF Briefing Notes 24. Januar 2022). Danach seien immer mehr palästinensische Flüchtlinge in absolute Armut abgerutscht, weil die Bargeldleistungen des UNRWA aufgrund des massiven Wertverlust des libanesischen Pfunds an Kaufkraft verloren hätten. Die USA stellten im Jahr 2021 zunächst 150 Millionen USD (UNRWA, United States Announces Restoration of U.S. $150 Million to Support Palestine Refugees, 7. April 2021) und später weitere 135 Millionen USD für das UNRWA zur Verfügung (UNRWA, United States Announces Additional Support for Palestine Refugees, 17. Juli 2021). Gleichwohl ist das UNRWA weiterhin unterfinanziert (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, 23. März 2022, S. 13; BAMF, Briefing Notes, 24. Januar 2022; UNRWA, International community overwhelmingly reaffirms support for UNRWA at annual pledging conference – but funds still insufficient, 16. November 2021).
Das UNRWA war und ist trotz der zwischenzeitlich unzureichenden Finanzmittel in der Lage, eine grundlegende Gesundheitsversorgung (primäre Gesundheitsversorgung) zu gewährleisten. So unterhält das UNRWA 27 oder 28 Gesundheitseinrichtungen im Libanon und übernimmt die Kosten für die medizinische Grundversorgung (ACCORD, Anfragebeantwortung zum Libanon: sozioökonomische Lage von palästinensischen Flüchtlingen, 29. Juni 2021, S. 3 f.). Das Härtefallhilfsprogramm stellt bedürftigen Flüchtlingen Nahrung und Geldmittel zur Verfügung (Schweizerische Flüchtlingshilfe, 23. März 2022, S. 15 f.; UNRWA, Palestine Refugees in Lebanon: Struggling to survive, 18. Januar 2022, S. 13; ACCORD, a.a.O., S. 5).
Die anhaltende Versorgungskrise im gesamten Libanon führt zu einer weiteren Verschärfung der Situation. Der Wertverlust des libanesischen Pfunds, die dadurch ausgelöste Inflation sowie das Schwinden der Devisenreserven der libanesischen Zentralbank haben zu erheblichen Engpässen bei der Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln, Medikamenten, Strom und Treibstoff geführt (Schweizerische Flüchtlingshilfe, 23. März 2022, S. 5 ff.; BAMF, Briefing Notes 14. März 2022, 7. März 2022, 10. Januar 2022, 22. November 2021, 6. September 2021, 23. August 2021, 26. Juli 2021, 19. Juli 2021, 12. Juli 2021, 5. Juli 2021; FAZ, Libanon stürzt ins Bodenlose, 29. Juni 2021). Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen zählt den Libanon zu den 20 am schwersten betroffenen Hungerregionen der Welt (Schweizerische Flüchtlingshilfe, 23. März 2022, S. 6). Die Preise für Lebensmittel haben sich allein im Zeitraum November 2020 bis November 2021 um 350 % verteuert (American University Beirut, Lebanon Food Security Portal – Food Security Brief #22, 7. Januar 2022), nachdem sie bereits zuvor seit Ausbruch der Krise im Jahr 2019 massiv gestiegen waren (American University Beirut, Lebanon Food Security Portal – Food Security Brief #14, 7. Mai 2021). Grundnahrungsmittel sind für viele Menschen unerschwinglich geworden, nachdem die Regierung deren Subventionierung im Laufe des Jahres 2021 wegen Geldmangels einstellen musste. Der Krieg in der Ukraine hat die Lebensmittelknappheit im Libanon noch einmal deutlich verschärft. Das Land importiert Lebensmittel zu über 80 % (BAMF Briefing Notes, 7. März 2022), rund 60 % der Weizeneinfuhren stammten in der Vergangenheit aus der Ukraine (BAMF Briefing Notes 28. Februar 2022). Der Libanon ist inzwischen auf Nahrungsmittellieferungen des Welternährungsprogramms angewiesen (BAMF Briefing Notes 28. März 2022).
Zudem haben Treibstoff- und Stromknappheit zu einer schweren Krise der öffentlichen Wasserversorgung geführt. Insbesondere Flüchtlinge haben häufig keinen Zugang zu teuren alternativen Wasserquellen und könnten gezwungen sein, auf unsauberes Wasser zurückzugreifen (Schweizerische Flüchtlingshilfe, 23. März 2022, S. 6 f.).
Davon sind auch das UNRWA und die von dessen Leistungen abhängigen palästinensischen Flüchtlinge im Libanon betroffen (Schweizerische Flüchtlingshilfe, 23. März 2022, S. 13; UNRWA, Palestine Refugees in Lebanon: Struggling to survive, 18. Januar 2022, S. 4; ACCORD, Anfragebeantwortung zum Libanon: sozioökonomische Lage von palästinensischen Flüchtlingen, 29. Juni 2021, S. 5). Nach einer Umfrage des UNRWA im Juli 2021 haben 58 % bzw. 56 % der palästinensischen Familien im Libanon die Zahl oder den Umfang ihrer Mahlzeiten reduziert. Ein Viertel der erwachsenen Familienangehörigen hat zugunsten der Kinder weniger gegessen (UNRWA, Palestine Refugees in Lebanon: Struggling to Survive, 18. Januar 2022).
Bei dieser Sachlage geht das Gericht davon aus, dass der Kläger bei einer Rückkehr in den Libanon zwar in der Lage wäre, sein eigenes absolutes Existenzminimum hinsichtlich der Versorgung mit Lebensmitteln und Trinkwasser – gegebenenfalls notdürftig – zu sichern. Der Kläger hat nach eigenen Angaben vor seiner Ausreise im Libanon als Taxifahrer gearbeitet und Hühner verkauft. Damit habe er durchschnittlich 20-30 USD pro Tag verdient. Zudem habe er für seine Tätigkeit für die Fatah al Intifada 60 USD pro Monat erhalten. Es ist davon auszugehen, dass der Kläger jedenfalls wieder als Taxifahrer oder in einer vergleichbaren Beschäftigung arbeiten könnte, doch dürfte er aufgrund der strengen Devisenbeschränkungen durch die libanesische Nationalbank (vgl. BAMF, Briefing Notes, 13. Dezember 2021) ein Einkommen nur noch in libanesischen Pfund, nicht mehr in US-Dollar erzielen können.
Auch die Ehefrau des Klägers, die nach eigenen Angaben ausgebildete Kindergärtnerin ist und als Kindermädchen bei Privatleuten gearbeitet sowie Nachhilfestunden für Grundschüler gegeben hat, dürfte bei einer Rückkehr in den Libanon in der Lage sein, ähnliche Erwerbstätigkeiten wieder aufzunehmen. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass die schwere Wirtschaftskrise des Libanon bereits für libanesische Staatsangehörige – die anders als die staatenlosen palästinensischen Flüchtlinge im Libanon keinen Beschränkungen hinsichtlich des Zugangs zum Arbeitsmarkt unterliegen – die Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten erheblich eingeschränkt und zu einer Zunahme von Armut und Ernährungsunsicherheit geführt hat (Schweizerische Flüchtlingshilfe, 23. März 2022, S. 4 f.).
Auch unter Berücksichtigung der dem Kläger und seiner Familie zustehenden Unterstützungsleistungen des UNRWA hält das Gericht eine ausreichende Versorgung mit Nahrungsmitteln und Trinkwasser im Umfang des absoluten Existenzminimums nicht für gesichert. Die beiden fast zwölfjährigen Töchter S... und C... dürften nicht in der Lage sein, substantiell zum Lebensunterhalt der Familie beizutragen. Der Sohn Y..., der in einigen Monaten 18 Jahre alt wird, dürfte zwar zum Lebensunterhalt beitragen können, doch geht das Gericht angesichts der sich aus den in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln ergebenden Lage nicht davon aus, dass mithilfe seines Beitrages die für das absolute Existenzminimum notwendige Ernährung der fünfköpfigen Familie dauerhaft ausreichend sichergestellt ist. Y... hat den Libanon im Alter von 10 Jahren verlassen und besucht in Deutschland derzeit noch die Schule. Er wird daher auch im Libanon gegenwärtig nur einfache körperliche Tätigkeiten mit einem geringen Verdienst übernehmen können.
Etwas Anderes folgt auch nicht unter Berücksichtigung des Umstandes, dass sowohl der Kläger als auch seine Ehefrau Geschwister haben, welche zum Teil in Deutschland, zum Teil im Libanon leben. Eine Unterstützung durch im Ausland lebende Familienangehörige ist in Anbetracht der im libanesischen Bankensystem eingefrorenen Konten faktisch kaum möglich (vgl. VG Dresden, Urteil vom 15. Dezember 2021 - 11 K 359/19.A -, juris Rn. 45; VG Hamburg, Urteil vom 9. September 2021 - 14 A 6163/21 -, juris Rn. 51). Die im Libanon verbliebenen Geschwister der Ehefrau des Klägers leben ebenfalls im Flüchtlingslager und dürften bereits Schwierigkeiten haben, das absolute Existenzminimum ihrer eigenen Familien zu sichern und nicht in der Lage sein, weitere Personen substantiell zu unterstützen.
Die staatlichen Unterstützungsleistungen im Rahmen des GARP/REAP Programms der Bundesregierung können eine zwar Überbrückungshilfe darstellen und die finanzielle Grundversorgung anfangs sichern. Sie können aber insbesondere angesichts des inflationsbedingt extrem hohen Preisniveaus nicht als alleinige und dauerhafte Lebensgrundlage dienen (vgl. VG Hamburg, Urteil vom 9. September 2021 - 14 A 6163/21 -, juris Rn. 51). Über nennenswertes eigenes Vermögen verfügen der Kläger und seine Familie, welche in Deutschland von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz leben, nicht.
Der Kläger und seine Familie können den Schutz und Beistand des UNRWA auch in keinem anderen Operationsgebiet (Gazastreifen, Westjordanland, Jordanien und Syrien) in Anspruch nehmen. Bezugspunkte zu einem dieser Einsatzgebiete wurden von den Beteiligten weder vorgetragen noch sind diese sonst ersichtlich.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.
Die Entscheidungen zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruhen auf § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, 711 ZPO.