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Entscheidung VG 3 K 304/17.A


Metadaten

Gericht VG Cottbus 3. Kammer Entscheidungsdatum 19.11.2020
Aktenzeichen VG 3 K 304/17.A ECLI ECLI:DE:VGCOTTB:2020:1119.VG3K304.17.A.00
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen

Tenor

Ziffer 6 des Bescheides des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 26. Januar 2017 wird aufgehoben. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.

Tatbestand

Der Kläger, nach eigenen Angaben afghanischer Staatsangehöriger, dem Volk der Tadschiken und der islamischen Religion zugehörig, reiste am 1. Januar 2016 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 16. März 2016 einen Asylantrag. In seiner Anhörung vor dem Bundesamt trug er im Wesentlichen vor, er habe als Flüchtlingskind in Pakistan gelebt und sei mit seiner Familie nach dem Sturz der Taliban-Regierung nach Kabul zurückgekehrt. Dort habe er sein Abitur abgelegt und anschließend gearbeitet, unter anderem bei einer amerikanischen Firma als Lagerist. In dieser sei 2012 eine Bombe explodiert, wobei drei Kollegen ums Leben gekommen seien. Er sei hierbei verletzt und bewusstlos geworden. Er habe deshalb seine Tätigkeit im Mai 2013 beendet und bis zu seiner Ausreise im Juni 2015 als Schuhmacher gearbeitet. Ihm sei selbst zwar nichts passiert, jedoch sei die allgemeine Sicherheitslage in Kabul immer schlechter geworden. Es habe vermehrt Selbstmordanschläge gegeben. Er habe einmal einen Anschlag gesehen. Er wolle keinen Krieg mehr erleben. Da sich die Lage weiter verschlechtert habe, habe er es nicht mehr ausgehalten und sei ausgereist. Zudem habe sein Bruder für den afghanischen Zoll gearbeitet und sich mit Schleusern angelegt.

Mit Bescheid vom 26. Januar 2017 lehnte das Bundesamt die Anerkennung des Klägers als Asylberechtigten, die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und auf subsidiären Schutz ab (Ziffern 1.-3.) und stellte fest, dass keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) vorliegen (Ziffer 4.). Es forderte den Kläger auf, das Bundesgebiet innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung bzw. nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen und drohte ihm bei nicht fristgerechter Ausreise die Abschiebung nach Afghanistan an (Ziffer 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 6). Der Kläger sei aufgrund der allgemeinen Sicherheitslage aus Kabul ausgereist, die behauptete Bedrohungssituation knüpfe nicht an ein asylerhebliches Merkmal an. Ihm drohe bei einer Rückkehr nach Afghanistan keine erhebliche individuelle Gefahr aufgrund willkürlicher Gewalt. Abschiebungsverbote lägen nicht vor. Der Kläger sei jung, gesund und arbeitsfähig. Es verfüge über ein familiäres Netzwerk in Afghanistan, über Schuldbildung und Arbeitserfahrung. Er könne sich daher bei Rückkehr nach Afghanistan durch Gelegenheitsarbeiten eine existenzsichernde Grundlage schaffen.

Der Kläger hat am 10. Februar 2017 Klage erhoben.

Er trägt vor, die Firma, für die er tätig gewesen sei, habe wiederholt Drohanrufe durch die Taliban erhalten. Die Drohungen hätten sich insbesondere gegen die afghanischen Beschäftigten, deren Tötung angekündigt worden sei, gerichtet. Auch drohe ihm bei Rückkehr nach Afghanistan ein ernsthafter Schaden; insoweit sei seine „Verwestlichung“ und Rückkehr aus dem Ausland ebenso gefahrerhöhend wie der Umstand, dass er gesundheitlich beeinträchtigt und mehrere Jahre für die amerikanische Firma tätig gewesen sei. Mehrere Familienmitglieder seien bedroht worden. Bei Rückkehr nach Afghanistan drohe ihm der Ausschluss aus der Familie, sodass er auf sich allein gestellt sei. Er könne sein Existenzminimum nicht erzielen. Seine Geschwister seien aus Afghanistan geflüchtet, seine dort noch lebenden Eltern, die er derzeit finanziell unterstütze, seien krank und arbeiteten nicht mehr. Er habe psychische Probleme.

Der Kläger ist am 17. März 2020 Vater eines deutschen Kindes geworden, mit dessen deutscher Mutter er das Sorgerecht gemeinsam ausübt.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 26. Januar 2017 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihm als Asylberechtigten anzuerkennen und festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 3 Abs. 1 (Flüchtlingseigenschaft) vorliegen,

hilfsweise festzustellen, dass die Voraussetzungen des subsidiären Schutzes gemäß § 4 AsylG vorliegen,

weiter hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorliegen,

weiter hilfsweise das Einreise- und Aufenthaltsverbot zu befristen, insbesondere nämlich auf null unter Verzicht auf vorherige Ausreise.

Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Klage abzuweisen.

Sie bezieht sich auf die angefochtene Entscheidung.

Nachdem das Gericht den Kläger mit Schreiben vom 5. März 2018 und 5. April 2018 vergeblich gebeten hat, die Klage zu begründen, wurde er mit Schreiben vom 17. Mai 2018 unter Belehrung über die Rücknahmefiktion gemäß § 81 AsylG aufgefordert, das Verfahren durch Hergabe einer Klagebegründung weiter zu betreiben. Mit Schriftsatz vom 14. September 2018 hat der Kläger hinsichtlich der Versäumung der Betreibensfrist Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand und die Fortsetzung des Verfahrens beantragt. Zur Begründung führt er im Wesentlichen aus, die Betreibensaufforderung sei unzulässig ergangen, weil keine Zweifel am Fortbestand seines Rechtsschutzbedürfnisses bestanden hätten.

Mit Beschluss der Kammer vom 20. März 2017 wurde der Rechtsstreit zur Entscheidung auf die Einzelrichterin übertragen.

In der mündlichen Verhandlung hat das Gericht den Kläger informatorisch angehört. Wegen der Einzelheiten wird auf die Niederschrift in der Gerichtsakte verwiesen.

Für die weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogenen Verwaltungsvorgänge verwiesen. Diese waren Gegenstand der Entscheidungsfindung.

Entscheidungsgründe

Das Gericht konnte trotz Ausbleibens der Beklagten über die Sache verhandeln und entscheiden, da in der ordnungsgemäßen Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden war, § 102 Abs. 2 VwGO.

Über den Rechtsstreit ist in der Sache zu entscheiden, da er nicht aufgrund einer Klagerücknahmefiktion gemäß § 81 AsylG beendet wurde. Im Zeitpunkt des gerichtlichen Schreibens vom 17. Mai 2018 lagen die Voraussetzungen für eine auf § 81 Satz 1 AsylG gestützte Aufforderung zum Betreiben des Verfahrens nicht vor. Es sind keine hinreichend konkreten Anhaltspunkte dafür erkennbar, dass der Kläger im Zeitpunkt der Betreibensaufforderung das Interesse an seiner Klage verloren hatte bzw. sein Rechtsschutzbedürfnis weggefallen war. Wegen des Ausnahmecharakters der in § 81 Satz 1 AsylG normierten Klagerücknahmefiktion dürfen die Anforderungen an die prozessuale Mitwirkung des Klägers nicht überspannt werden. In Anbetracht der weitgehenden Konsequenzen der in § 81 Satz 1 AsylG getroffenen Regelung sind ihrer Auslegung und Anwendung verfassungsrechtliche Grenzen gesetzt, die den Ausnahmecharakter der Vorschrift zu berücksichtigen haben (vgl. BVerwG, Beschluss vom 18. September 2002 – 1 B 103/02 – juris Rn. 5 ff. m.w.N.; Urteil vom 23. April 1985 – 9 C 7/85 – juris Rn. 11 f.). Vorliegend hat der Kläger die Klage mit Erhebung – wenn auch nur sehr knapp – begründet. Mit Schriftsatz vom 18. Januar 2018 teilte der Prozessbevollmächtigte des Klägers mit, dass die Klage zeitnah (weiter) begründet werden soll und bat mit Blick auf dessen Arbeitsüberlastung und anstehenden Urlaub um Fristverlängerung bis zum Ende der 8. Kalenderwoche. Obwohl er bis zu diesem Zeitpunkt keine ergänzende Klagebegründung einreichte und auch auf die Schreiben des Gerichts vom 5. März 2018 und 4. April 2018 nicht reagierte, bestanden zum Zeitpunkt der Betreibensaufforderung am 17. Mai 2018 keine durchgreifenden Zweifel daran, dass das Rechtsschutzinteresse des Klägers entfallen war. Er hat deutlich gemacht, dem Gericht noch eine ergänzende Klagebegründung zu übersenden und dies aus Gründen der Überlastung bisher noch nicht getan zu haben – wenngleich einzuräumen ist, dass nicht unerhebliche Verzögerungen eingetreten sind. Unabhängig hiervon dürfte das pauschale Verlangen einer Klagebegründung eine Überspannung an die Mitwirkungspflichten des Klägers darstellen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 18. September 2002 – 1 B 103/12 – juris Rn. 10). Denn dem Kläger wird hierdurch nicht verdeutlicht, dass und warum die Beantwortung der gerichtlichen Aufforderung für den Fortgang des Verfahrens von zentraler Bedeutung sein soll (vgl. ebd.).

Die Klage hat in dem sich aus dem Tenor ergebenden Umfang Erfolg.

Die Klage ist mit Ausnahme der Entscheidung über die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots (6.) unbegründet. Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) keinen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter (1.), Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG (2.) oder subsidiären Schutzes gemäß § 4 Abs. 1 Asylgesetz (3.). Es liegen auch keine Gründe vor, welche die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 (4. a) oder § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (4. b) hinsichtlich Afghanistans rechtfertigen. Auch die Abschiebungsandrohung unter Setzung einer Ausreisefrist ist nicht zu beanstanden (5.). Insoweit ist der Bescheid des Bundesamtes vom 26. Januar 2017 rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 VwGO. Diesbezüglich wird in vollem Umfang auf die Gründe des angefochtenen Bescheids Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG). Ergänzend gilt Folgendes:

1. Der Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter scheitert bereits daran, dass der Kläger nach eigenen Angaben auf dem Landweg und damit unabhängig von seinem konkreten Reiseweg aus einem sicheren Drittstaat i.S.d. Art. 16 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz (GG) nach Deutschland eingereist ist.

2. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 und 4 AsylG.

Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, wenn er Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist. Danach ist ein Ausländer Flüchtling ist, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Eine solche Verfolgung kann nicht nur vom Staat ausgehen (§ 3c Nr. 1 AsylG), sondern auch von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (§ 3c Nr. 2 AsylG) oder nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in § 3c Nrn. 1 und 2 AsylG genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, i. S. d. § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (§ 3c Nr. 3 AsylG). Allerdings wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (§ 3e Abs. 1 AsylG).

Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich drohen. Maßgebend ist insoweit der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 7. September 2010 – 10 C 11/09 – juris). Dieser setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 – 10 C 23.12 – juris, Rn. 32). Dabei greift zugunsten eines Vorverfolgten bzw. in anderer Weise Geschädigten eine tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden (BVerwG, Urt. v. 27. April 2010 – 10 C 5/09 – juris, Rn. 19; vgl. Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 – Qualifikationsrichtlinie –).

Es ist Sache des Schutzsuchenden, die Umstände, aus denen sich eine Verfolgung ergibt, in schlüssiger Form vorzutragen (§ 25 Abs. 1 Satz 1 AsylG), wobei von ihm grundsätzlich zu erwarten ist, dass er die persönlichen Umstände seiner Verfolgung und der Furcht vor einer Rückkehr ausreichend substantiiert, detailreich sowie widerspruchsfrei vorträgt. Er muss unter Angabe von Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt schildern, aus welchem sich – als wahr unterstellt – ergibt, dass ihm bei verständiger Würdigung eine Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht (vgl. BVerwG, Urteil vom 24. März 1987 – 9 C 321/85 – juris). Hierzu gehört eine Schilderung der in seine Sphäre fallenden Ereignisse, die geeignet ist, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 26. Oktober 1989 – 9 B 405/89 – juris).

Das Vorbringen des Klägers erfüllt nicht die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Seine Schilderungen, er sei als Lagerist einer ausländischen Firma gefährdet gewesen, führt nicht zur begründeten Annahme, er habe vor drohender Verfolgung sein Heimatland verlassen. Er trägt bereits nicht vor, selbst bedroht worden zu sein. So führt er durchgehend aus, das Ziel des von ihm erlebten Bombenanschlags sei die amerikanische Firma gewesen. Die Taliban habe die Firma erpresst und Geld von ihnen gewollt. Soweit er auf die Frage, ob einmal jemand persönlich zu ihm gekommen sei und ihn persönlich bedroht habe, geantwortet hat, für ihn sei der Anschlag eine persönliche Bedrohung gewesen, reicht die persönliche Empfindung zur Bejahung einer zielgerichteten Verfolgung nicht aus. Einen ihn betreffenden Angriff hat er nicht vorgetragen. Der geschilderte Bombenanschlag galt nicht ihm. Dies verdeutlicht insbesondere seine Antwort auf die in der mündlichen Verhandlung gestellte Frage, ob er glaube, dass der Bombenanschlag auch durchgeführt worden wäre, wenn er am betreffenden Tag nicht bei der Arbeit gewesen wäre. Er entgegnete hierauf ausweichend, Ziel des Anschlags sei die Firma gewesen. Der Verweis darauf, dass „viele andere Leute“ auch Opfer geworden seien, weil sie für ausländische Firmen tätig waren, führt nicht zum Erfolg. Der Kläger kann hieraus nichts Günstiges für sich ableiten. Zwar mag die amerikanische Firma, insbesondere weil sie für das afghanische Militär im Bereich Logistik tätig war, im Visier der Taliban gestanden haben. Es ist aber nichts dafür ersichtlich, dass die Taliban ein besonderes Interesse am Kläger hatte, zumal dieser nur als Lagerist dort beschäftigt war. Der Umstand, dass der Kläger nach dem Bombenanschlag im Dezember 2012 noch zweieinhalb Jahre weiterhin in Kabul blieb, ohne dass ihm in dieser Zeit etwas Konkretes zugestoßen ist, belegt das Fehlen einer zielgerichteten Verfolgung. Im Übrigen hat der Kläger nur allgemeine Gefahren beschrieben, wie sie in Afghanistan bestehen. Voraussetzung ist aber, dass die Rechtsverletzung, aus der der Asylbewerber seine Asylberechtigung bzw. den Flüchtlingsschutz herleitet, ihm gerade in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale zugefügt worden sein muss. Hieran fehlt es regelmäßig bei Nachteilen, die jemand aufgrund der allgemeinen Zustände in seinen Herkunftsstaat zu erleiden hat, infolge von Naturkatastrophen, Arbeitslosigkeit, einer schlechten wirtschaftlichen Lage oder infolge allgemeiner Auswirkungen von Unruhen, Revolution und Kriegen (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 2. Juli 2013 – 8 A 2632/06.A –; BVerfG, Beschluss vom 10. Juli 1989 – 2 BvR 502/86 – sämtlich juris). So liegt es hier. Der Kläger verweist insoweit auf die schlechte Sicherheitslage und die zunehmenden Selbstmordanschläge. Dies reicht nicht.

Auch soweit der Kläger auf die Tätigkeit des Bruders für den afghanischen Zoll abstellt und vorträgt, die Mafia habe Bedrohungen ausgesprochen und vom Bruder verlangt, „illegale Sachen einzuschleusen“, ergibt sich hieraus keine Verfolgung des Klägers. Ohnehin hat der Kläger in seiner Anhörung vor dem Bundesamt geschildert, keine Details zu wissen und hiervon erst einen Monat vor der Anhörung von seiner Schwester erfahren zu haben.

Fehlt es danach an einer einschlägigen Vorverfolgung, kann auch eine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer politischen Verfolgung durch die Taliban für den Fall der Rückkehr des Klägers nach Afghanistan nicht bejaht werden.

Soweit der Prozessbevollmächtigte des Klägers vorträgt, dieser sei mit Blick auf dessen deutsche Sprachkenntnisse „verwestlicht“, führt auch dies nicht zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Der Kläger ist keiner Verfolgung aufgrund einer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe von Rückkehrern, deren Identität westlich geprägt ist, ausgesetzt. Allein aufgrund der hier erworbenen Sprachkenntnisse kann nicht angenommen werden, dass der Kläger aufgrund seines Aufenthalts in Deutschland in einem solchen Maße westlich geprägt worden ist, dass er nicht in der Lage wäre, bei einer Rückkehr nach Afghanistan seinen Lebensstil den dort erwarteten Verhaltensweisen und Traditionen anzupassen.

3. Auch der Hilfsantrag bleibt ohne Erfolg. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Gewährung subsidiären Schutzes im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG. Ihm droht kein ernsthafter Schaden.

a) Dem Kläger droht weder die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG) noch von Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG). Eine Schlechtbehandlung oder Bestrafung im Sinne dieser Vorschrift kann Vorliegen bei Maßnahmen, mit denen unter Missachtung der Menschenwürde absichtlich schwere psychologische oder physische Leiden zugefügt werden und mit denen nach Art und Ausmaß besonders schwer und krass gegen die Menschenrechte verstoßen wird (vgl. VG München, Urteil vom 20. April 2017 – M 17 K 16.35674 – juris m.w.N.). Auch bei der Prüfung, ob eine konkrete Gefahr der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung besteht, ist der – oben beschriebene – asylrechtliche Prognosemaßstab der „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“ anzulegen.

Hiervon ausgehend ist nicht beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger – wie er vorträgt – in Afghanistan hingerichtet oder gesteinigt werde, weil er ein uneheliches Kind von einer Frau aus einem anderen Kulturkreis habe. Bei einer möglichst realitätsnahen Beurteilung der Rückkehrsituation ist zu unterstellen, dass der Kläger allein nach Afghanistan zurückkehren würde. Sein Kind besitzt ebenso wie seine Lebensgefährtin die deutsche Staatsangehörigkeit. Eine gemeinsame Abschiebung nach Afghanistan scheidet daher von vornherein aus. Es ist schon nicht ersichtlich, wie jemand von den familiären Umständen des Klägers in Afghanistan erfahren sollte, sollte er diese Information nicht selbst preisgeben. Dies liegt jedoch in seiner Hand.

b) Dem Kläger droht keine ernsthafte individuelle Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts gemäß § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AsylG.

Eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts setzt eine Situation voraus, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass die fragliche Person den von dem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt ausgehenden Gefahren individuell ausgesetzt wäre. Zu solchen Umständen in der Person des Betroffenen gehört in erster Linie die berufsbedingte Nähe, z.B. als Arzt oder Journalist, zu einer Gefahrenquelle. Möglich sind aber auch solche persönlichen Umstände, aufgrund derer der Kläger als Zivilperson zusätzlich der Gefahr gezielter Gewaltakte, etwa wegen seiner religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit ausgesetzt ist, sofern deswegen nicht bereits die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in Betracht kommt (BVerwG, Urteil vom 17. November 2011 – 10 C 13/10 – juris Rn. 18 m.w.N.). Vorliegend liegen entgegen der Auffassung des Klägers (vgl. d. Schriftsatz vom 14. September 2018, S. 5) keine individuellen gefahrerhöhenden Umstände vor. Soweit er einen verwestlichten Lebensstil geltend macht und seine Tätigkeit als Lagerist für die amerikanische Firma als gefahrerhöhend ansieht, dringt er hiermit aus den oben genannten Gründen auch im Rahmen des subsidiären Schutzes nicht durch. Auch die Rückkehr aus dem europäischen Ausland kann die Annahme, er sei gezielten Verletzungshandlungen oder einer Tötung ausgesetzt, nicht begründen (vgl. EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan, Individuals targeted by armed actors in the conflict, Dezember 2017, S. 28 ff.). Dem Auswärtigen Amt sind solche Fälle nicht bekannt (Auswärtiges Amt, Lagebericht Afghanistan, 31. Mai 2018, S. 28). Inwieweit gesundheitliche Beeinträchtigungen den Kläger zusätzlich in die Gefahr gezielter Gewaltakte bringen soll, ist nicht ersichtlich. Fehlen danach individuelle gefahrerhöhende Umstände, kann eine Individualisierung der allgemeinen Gefahr ausnahmsweise bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre.

Zur Feststellung der Gefahrendichte ist eine jedenfalls annäherungsweise quantitative Ermittlung der Gesamtzahl der in dem betreffenden Gebiet lebenden Zivilpersonen einerseits und der Akte willkürlicher Gewalt andererseits, die von den Konfliktparteien gegen Leib oder Leben von Zivilpersonen in diesem Gebiet verübt werden, sowie eine wertende Gesamtbetrachtung mit Blick auf die Anzahl der Opfer und die Schwere der Schädigungen (Todesfälle und Verletzungen) bei der Zivilbevölkerung erforderlich (BVerwG, Urteil vom 17. November 2011 – 10 C 13/10 – juris Rn. 22, 23). Soweit der Ausländer keine gefahrerhöhenden persönlichen Umstände verwirklicht, ist ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt erforderlich. Die Feststellung, ob ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt gegeben ist, setzt eine wertende Gesamtbetrachtung der individuellen Betroffenheit voraus. Diese erfolgt auf Grundlage einer quantitativen Ermittlung der Gesamtzahl der in dem betreffenden Gebiet lebenden Zivilpersonen einerseits und der Akte willkürlicher Gewalt andererseits, die von den Konfliktparteien gegen Leib oder Leben von Zivilpersonen in diesem Gebiet verübt werden (BVerwG, Urteil vom 1. Februar 2014 – 10 C 6/13 – juris Rn. 24). Das Risiko einer Zivilperson von 1:800 bzw. 0,125 Prozent, binnen eines Jahres verletzt oder getötet zu werden, ist dabei weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt, dass auch eine Gesamtbewertung eine individuelle Bedrohung nicht mehr zu begründen vermag (BVerwG, Urteile vom 17. November 2011 – 10 C 13/10 – juris Rn. 23). Bei der Prüfung einer solchen Bedrohung ist Bezugspunkt der tatsächliche Zielort des Ausländers bei seiner Rückkehr. Dies ist vorliegend Kabul.

Im Jahr 2019 dokumentierte UNAMA 1.563 zivile Opfer (261 Tote und 1.302 Verletzte) in Kabul-Stadt. Dies entspricht einem Rückgang von 16 % gegenüber 2018. Die Einwohnerzahl der Provinz wird auf 5.029.850 geschätzt (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Afghanistan, Gesamtaktualisierung am 13. November 2019, letzte Information eingefügt am 29. Juni 2020, S. 40 ff.). Hiervon ausgehend errechnet sich ein Gefahrengrad von 0,031 % (1:3.218). Das Niveau willkürlicher Gewalt rechtfertigt nicht die Annahme, dass ein Rückkehrer dem tatsächlichen Risiko eines ernsthaften Schadens ausgesetzt ist. Auch unter Berücksichtigung einer hohen Dunkelziffer – etwa einer Verdreifachung der Opferzahlen auf 4.689, so dass sich ein Gefahrengrad von 1:1.073 (0,09 %) ergibt – würde die vom Bundesverwaltungsgericht als bei weitem nicht ausreichend erachtete Schwelle von 1:800 (0,125 %) noch nicht erreicht (vgl. BVerwG, Urteil vom 17. November 2011 – 10 C 13/10 – juris Rn. 22-23; Bayerischer VGH, Urteil vom 21. Januar 2010 – 13a B 08.30285 – juris Rn. 27). Kommen die angestellten Berechnungen – wie hier – zu dem Ergebnis, dass das quantitativ ermittelte Risiko, in der Rückkehrprovinz verletzt oder getötet zu werden, weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt ist, kann sich das Unterbleiben einer wertenden Gesamtbetrachtung im Ergebnis nicht auswirken.

4.a) In Bezug auf ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK kommt insoweit nur eine allgemeine Gefahr aufgrund der schlechten Versorgungslage in Afghanistan in Betracht.

Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Dies ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) wegen der Unvereinbarkeit mit Art. 3 EMRK insbesondere dann der Fall, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass der Betroffene im Falle seiner Abschiebung der ernsthaften Gefahr der Todesstrafe, der Folter oder der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung ausgesetzt wäre (vgl. EGMR, Urteil vom 23. März 2016, F.G. gegen Schweden, Nr. 43611/11, Rn. 10; Urteil vom 28. Juni 2011, Sufi und Elmi gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 8319/07 u.a., Rn. 212). Für die Beantwortung der Frage, ob dem Ausländer im Falle einer Abschiebung tatsächlich die Gefahr droht, einer dem Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden, sind die Verhältnisse im ganzen Land in den Blick zu nehmen, wobei in einem ersten Schritt die Verhältnisse am Zielort der Abschiebung zu prüfen sind. Dieser Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung ist hier Kabul, wohin die aus Deutschland durchgeführten Abschiebeflüge nach Afghanistan in der Regel führen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 12. Oktober 2018 – A 11 S 316/17– juris Rn. 202 f.).

Die ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung kann sich zum einen wiederum aus individuellen Umständen in einer Person des Ausländers ergeben. Zum anderen kann sie aber auch in besonderen Ausnahmefällen aus der allgemeinen Sicherheits- und humanitären Lage im Abschiebezielstaat resultieren, wenn die humanitären Gründe gegen die Abschiebung zwingend sind. Für die Annahme einer solchen extremen Gefahrenlage ist erforderlich, dass die drohenden Gefahren nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sind, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen (st. Rspr., vgl nur BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013 – 10 C 15/12 – juris Rn. 23 ff. m.w.N.).

Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe ist das Gericht davon überzeugt, dass dem Kläger in seinem besonderen Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit aufgrund einer außergewöhnlichen Sicherheits- und humanitären Lage nicht die ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung in Afghanistan sowie insbesondere in der Stadt Kabul als Ankunftsort droht. Dies gilt trotz der Ausbreitung der Corona-Pandemie.

aa) Allgemein stellt sich die Lage – vor Ausbruch der Corona-Pandemie – wie folgt dar:

Im Jahr 2018 belegte Afghanistan lediglich Platz 170 von 189 des Human Development Indexes (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand: Juni 2020, S. 26). Gemessen an seinem Bruttoinlandsprodukt war Afghanistan im Jahr 1960 das sechstärmste Land der Welt und konnte seinen Rang bis zum Jahr 2016 nur um sechs Plätze verbessern (EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019, S. 23). Das Wirtschaftswachstum bewegt sich im unteren einstelligen Bereich und betrug im Jahr 2017 etwa 2,7 %. Im Jahr 2018 war infolge der Dürre ein Rückgang auf 1,5 % zu verzeichnen, wobei in diesem Jahr jedoch ein erneuter Anstieg auf 2,9 % erwartet wird, da es ergiebigere Niederschläge gegeben hat, welche dem Agrarsektor zu Gute gekommen sind (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand: Juni 2020, S. 22). Für das Jahr 2021 wurde – vor Ausbruch der allgemeinen Pandemielage – mit einem Wirtschaftswachstum von 3,6 % gerechnet (EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019, S. 24).

Dem steht indes ein rapides Bevölkerungswachstum sowie die Verbesserung der Lebenserwartung gegenüber, was es dem afghanischen Staat – neben der Sicherheitslage – nahezu unmöglich macht, alle Grundbedürfnisse der gesamten Bevölkerung angemessen zu befriedigen (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand: Juni 2020, S. 22). Die Grundversorgung ist für Rückkehrer in besonderem Maße eine Herausforderung. Insgesamt waren in Afghanistan im Jahr 2019 6,3 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen. Diese Zahl soll nach Schätzungen im Jahr 2020 auf 14 Millionen steigen (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand: Juni 2020, S. 22). Besondere Probleme bezüglich Unterkunft, Nahrung, sauberem Trinkwasser und medizinischer Versorgung bestehen vor allem in den westlichen Provinzen sowie in Kunduz, Ghazni, Laghman und Kunar (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand Juli 2019, S. 28).

Die Nahrungsmittelversorgung hat sich seit dem Jahr 2011 kontinuierlich verschlechtert. Während damals noch 30,1 % der afghanischen Bevölkerung unter moderater bis sehr schwerer Nahrungsmittelunsicherheit gelitten haben, stieg diese Zahl bis zum Jahr 2017 auf 44,6 %. In der Winterpflanzsaison 2017/2018 kam es in Afghanistan zu einer langen Dürrperiode, die mehr als zwei Drittel der afghanischen Bevölkerung betroffen hat und zu Gesundheitsproblemen und Einkommensreduzierungen um die Hälfte geführt hat (EASO, Country Guidance: Afghanistan, Guidance note and common analysis, Juni 2019, S. 132). Demgegenüber kam es in der ersten Jahreshälfte 2019 zu erheblichen Überschwemmungen im Süden, Westen und Norden des Landes, was ebenfalls mit wirtschaftlichen Problemen und Ernteausfällen einherging (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand Juli 2019, S. 28).

Etwa 27 % der im Jahr 2017 nach Afghanistan Zurückgekehrten mussten ihre Nahrungsaufnahme einschränken. Dies galt insbesondere für weibliche Rückkehrer und solche in den Städten. Rückkehrer, die dorthin gingen, wo sie familiäre Unterstützung erlangen konnten, waren hiervon weniger betroffen (EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019, S. 37).

Kabul ist nicht die Stadt mit der größten Nahrungsmittelunsicherheit, allerdings ist die Stadt darauf angewiesen, einen Großteil ihrer Lebensmittel aus dem Umland einzuführen und Schwankungen dieses Versorgungsflusses können zur Verknappung einzelner Lebensmittel führen. Der afghanische Staat hat nicht die Möglichkeit, große Mengen Getreide einzulagern und hat es bisher auch nicht geschafft, vulnerable Haushalte durch Höchstpreisverordnungen oder ein Lebensmittelmarkensystem zu schützen (EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019, S. 37). Die Versorgungslage mit Lebensmitteln wird für Kabul als angespannt angesehen. Dies bedeutet, dass auch mit humanitärer Hilfe ein Fünftel der Haushalte zwar ausreichend Nahrungsmittel hatten, im Gegenzug allerdings nicht mehr genug Geld für die Befriedigung anderer Grundbedürfnisse (EASO, Country Guidance: Afghanistan, Guidance note and common analysis, Juni 2019, S. 132). Insgesamt hängt der Zugang zu Nahrungsmitteln von den finanziellen Möglichkeiten des Betroffenen ab (EASO, Country Guidance: Afghanistan, Guidance note and common analysis, Juni 2019, S. 132).

Der Zugang zu sauberem Wasser und zu Sanitäranlagen hat sich erheblich verbessert, wobei dieser in den Städten besser ist als auf dem Land. Trotz dieser Verbesserungen bleibt der Zugang zu Trinkwasser ein Problem in Afghanistan. Gerade in Kabul haben nur 32 % der Bevölkerung Zugang zu fließendem Wasser und nur 10 % der Einwohner haben Zugang zu fließendem Trinkwasser. Jene, die es sich leisten können, bohren ihre eigenen Brunnen. Viele arme Bewohner sind auf öffentliche Zapfstellen angewiesen, die oftmals weit von ihrer Unterkunft entfernt liegen. Darüber hinaus ist die Hälfte der Brunnen und Zapfstellen durch Abwässer verschmutzt, die in den Fluss Kabul eingeleitet werden. Etwa 50 % der Afghanen hat Zugang zu Sanitäranlagen (EASO, Country Guidance: Afghanistan, Guidance note and common analysis, Juni 2019, S. 133).

Obwohl der Großteil der afghanischen Bevölkerung noch auf dem Land lebt, hat Afghanistan eine der weltweit höchsten jährlichen Stadtbevölkerungswachstumsraten. Schätzungen schwanken zwischen 3,4 und 4,4 % jährlich. Diese hohe Wachstumsrate beruht neben dem natürlichen Bevölkerungswachstum auch auf einer hohen Anzahl von Binnenflüchtlingen und Rückkehrern (EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019, S. 53). Der Großteil der afghanischen Stadtbevölkerung lebt in Slums, worunter 86 % der städtischen Häuser in Afghanistan zu fassen sind (EASO, Country Guidance: Afghanistan, Guidance note and common analysis, Juni 2019, S. 132; EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019, S. 53). Etwa 70 % der Bevölkerung Kabuls lebt in illegalen Siedlungen, also Bereichen, in denen Gebäude auf Land errichtet wurden, welches den Bauherren nicht gehörte und/oder bei denen die Gebäude nicht den Bauvorschriften entsprechen. Diese illegalen Siedlungen bieten wichtige und preiswerte Unterkunft für den Großteil der Stadtbevölkerung. Die Bevölkerungsdichte ist dort bis zu doppelt so hoch wie in anderen Teilen der Stadt. Zwar haben diese illegalen Siedlungen dazu geführt, dass eine große Obdachlosenkrise ausblieb, das unkontrollierte Wachstum hat jedoch auch bestehende Probleme, wie das Fehlen der Kanalisation und die unzureichende Müllentsorgung, verschärft (EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019, S. 56). Eine andere Unterbringungsalternative sind (bzw. waren bis zum Ausbruch der Pandemie) Teehäuser, die zwischen 30 und 100 Afghani pro Nacht kosten und als vorübergehende Unterkunft von Reisenden, Tagelöhnern, Straßenverkäufern, jungen Leuten, alleinstehenden Männern und anderen Personen ohne dauerhafte Unterkunft in der Gegend genutzt werden (EASO, Country Guidance: Afghanistan, Guidance note and common analysis, Juni 2019, S. 133).

Das afghanische Gesundheitssystem hat sich seit dem Jahr 2001 – bis zum Ausbruch der Corona-Pandemie – erheblich verbessert. So ist unter anderem die Anzahl funktionierender Gesundheitseinrichtungen von 496 im Jahr 2002 auf über 2.800 im Jahr 2018 gestiegen. Trotz dieser Verbesserungen steht das afghanische Gesundheitssystem jedoch weiterhin vor Herausforderungen, wie der zerstörten Infrastruktur, fehlendem Fachpersonal, unterfinanzierten Einrichtungen, fehlender Sicherheit und tiefgreifender Armut. Im Jahr 2017 bestanden in 53 % der im Rahmen einer Studie untersuchten Gesundheitseinrichtungen strukturelle und Instandhaltungsprobleme und in 45 % der Einrichtungen wurden schlechte hygienische Bedingungen vorgefunden. Auch fehlte in 20 % der Einrichtungen ein Anschluss an das Stromversorgungsnetz. Darüber hinaus wird das Gesundheitssystem durch die inländischen Fluchtbewegungen und die vielen Rückkehrer zusätzlich belastet. Viele örtliche Einrichtungen sind nicht in der Lage, die zusätzliche Belastung zu stemmen und den zusätzlichen Hilfebedarf zu bewältigen (EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019, S. 25).

Der Großteil der afghanischen Bevölkerung hat – bzw. hatte jedenfalls bis zum Ausbruch der Corona-Pandemie – Zugang zu grundlegender medizinischer Versorgung, auch wenn es gerade in ländlichen Bereichen noch Versorgungslücken gibt. 93 % der Bevölkerung wohnt in einem Radius von zwei Stunden von einer öffentlichen Praxis, 82,4 % leben weniger als zwei Stunden von einem Bezirks- oder Provinzkrankenhaus entfernt und 94,8 % wohnten in einer Entfernung von weniger als zwei Stunden zu einer Apotheke. Nach den Angaben des afghanischen Gesundheitsministeriums wohnten 60 % der Bevölkerung weniger als eine Gehstunde entfernt von der nächsten Praxis (EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019, S. 45). Nach der afghanischen Verfassung soll die medizinische Behandlung kostenlos sein. Dies ist jedoch selbst in vielen öffentlichen Gesundheitseinrichtungen nicht der Fall. Auch dort müssen viele Patienten für Medikamente, Arzthonorare, Laboruntersuchungen und Krankenhausaufenthalte bezahlen. Die hierdurch entstehenden hohen Kosten sind der Grund dafür, dass viele Menschen nicht zum Arzt gehen oder nach einem Arztbesuch Schulden machen müssen. Die hohen Kosten gerade auch für Medikamente führen dazu, dass selbst Personen, die Zugang zu Gesundheitseinrichtungen haben, die dort verschriebenen Therapien nicht einhalten können, weil die Medikationskosten zu hoch sind (EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019, S. 46 f.).

Die Behandlung in einem afghanischen Krankenhaus ist oftmals nur darstellbar, wenn der Patient durch Verwandte oder Bekannte mit Nahrungsmitteln, Kleidung und Hygieneartikeln versorgt wird (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand: Juni 2020, S. 23). Die afghanische Bevölkerung hegt ein großes Misstrauen gegen das staatliche finanzierte Gesundheitssystem. Die Qualität der Kliniken variiert stark und es gibt praktisch keine Qualitätskontrollen (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand Juli 2019, S. 30). Die „guten" Krankenhäuser in Kabul können die erhöhte Nachfrage nicht bedienen, sodass viele Afghanen auf private Kliniken ausweichen, in denen noch höhere Kosten anfallen, oder ins benachbarte Ausland fahren, um schwerwiegende Erkrankungen behandeln zu lassen (EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019, S. 47). Gerade in Kabul ist der Zugang zur medizinischen Versorgung leichter als in anderen Städten. Dort gibt es 47 Gesundheitseinrichtungen. Eine spezielle Traumaversorgung wird zudem von der italienischen Nichtregierungsorganisation Emergency bereitgestellt. Die kostenfreie Behandlung psychischer Erkrankungen wird durch zwei öffentliche Gesundheitseinrichtungen gewährleistet, auch wenn für die Medikamente gegebenenfalls gesondert bezahlt werden muss und auch informelle Gebühren erhoben werden können. Daneben gibt es kostenpflichtige Angebote für die psychiatrische Behandlung durch privater Anbieter und Kliniken. Ebenfalls wird psychische Unterstützung durch eine ausländische Nichtregierungsorganisation bereitgestellt (EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019, S. 5).

Der afghanische Arbeitsmarkt ist im Wesentlichen durch die Landwirtschaft dominiert und besteht darüber hinaus aus einem großen Anteil von Selbständigen oder Personen, die im Familienbetrieb arbeiten. Etwa 54% der afghanischen Bevölkerung befinden sich im arbeitsfähigen Alter. Aufgrund der vielen jungen Afghanen – 25 % sind zwischen 15 und 30 Jahren alt – streben Jahr für Jahr immer mehr Personen auf den Arbeitsmarkt, die Beschäftigungsmöglichkeiten können jedoch aufgrund unzureichender wirtschaftlicher Entwicklung und schlechter Sicherheitslage nicht mit dem Bevölkerungswachstum mithalten. Etwa 23,9 % der afghanischen Bevölkerung sind arbeitslos, was heißt, dass sie keine Arbeit haben oder suchen oder weniger als acht Stunden pro Woche arbeiten. Gerade bei den Personen unter 25 und über 50 Jahren ist die Arbeitslosigkeit besonders hoch. So beträgt die Jugendarbeitslosigkeit 31 %. Die Arbeitslosenquote unterliegt auch saisonalen Schwankungen und liegt im Frühjahr und Sommer bei etwa 20%, während sie im Winter auf bis zu 32,5 % ansteigen kann (EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019, S. 27). Etwa 80% der Arbeitsstellen sind als unsicher zu qualifizieren und werden als selbständige Tätigkeit, Tagelöhner oder unbezahlte Arbeit ausgeübt. Weder Bildung noch Arbeit sind zudem eine Garantie gegen Armut (EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019, S. 28).

Die Stadt Kabul ist der Dreh- und Angelpunkt für Handel und Arbeit in Afghanistan. Sie besitzt eine wirtschaftlich aktive Bevölkerung, die in Berufen im Bereich des Handels, der Dienstleistungen und der Grundversorgung tätig ist. In der Stadt gibt es eine große Zahl von Festanstellungen, während Selbständigkeit weniger häufig ist, als in den ländlichen Bereichen. Insgesamt sind auch die Löhne in Kabul höher als in anderen Landesteilen, insbesondere für Personen, die für ausländische Organisationen arbeiten (EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019, S. 28).

Für Rückkehrer aus dem Ausland ist das Finden einer Verdienstmöglichkeit eine große Herausforderung. Die Rückkehrer stellen neben den Binnenflüchtlingen eine zusätzliche Arbeitsmarktkonkurrenz für die einheimische Bevölkerung dar. Dies kann zu Konflikten zwischen diesen Gruppen führen. In den Jahren 2016 und 2017 waren ungelernte Hilfstätigkeiten die Haupteinkommensquelle für Rückkehrer und im Jahr 2017 beschrieben mehr als 24 % der Rückkehrer das Finden einer Verdienstmöglichkeit als überwältigende Herausforderung (EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019, S. 29 f.). Eine besondere Rolle beim Finden einer Verdienstmöglichkeit spielt das Bestehen eines sozialen Netzwerks. Dies kann zum einen die Großfamilie sein, jedoch auch Netzwerke aufgrund eines gemeinsamen Hintergrunds, gemeinsamer Arbeit oder gleichen Bildungsstands können eine Rolle spielen. So wird berichtet, dass Siedlungen in Kabul oftmals aus Personen bestehen, die einen gemeinsamen räumlichen oder ethnischen Hintergrund haben und die sich ausschließlich aufeinander verlassen, um Unterkunft und Verdienstmöglichkeiten zu finden (EASO, Country Guidance: Afghanistan, Guidance note and common analysis, Juni 2019, S. 134).

In Kabul können Rückkehrer grundsätzlich nur als Tagelöhner arbeiten und die meisten von ihnen können nicht jeden Tag eine Verdienstmöglichkeit finden, sodass ihr Einkommen unsicher ist. Die meisten offiziellen Rückkehrer erhalten etwas finanzielle Unterstützung vom UNHCR (EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019, S. 31). Unter anderem Deutschland arbeitet eng mit der Internationalen Organisation für Migration (IOM) in Afghanistan zusammen, insbesondere, um die Reintegration zu erleichtern. IOM bietet Unterstützung bei Reiseformalitäten, Ankunft in Kabul mit bis zu zweiwöchiger Unterbringung und Begleitung der Reintegration einschließlich der Unterstützung bei der Suche nach einer Beschäftigung oder der Gewährung eines Anstoßkredits (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand Juli 2019, S. 30).

bb) Nach der ständigen Rechtsprechung hat sich bislang aus den Erkenntnismitteln zu Afghanistan grundsätzlich nicht ergeben, dass ein alleinstehender, arbeitsfähiger, männlicher Rückkehrer mit hoher Wahrscheinlichkeit alsbald nach seiner Rückkehr in eine derartige extreme Gefahrenlage geraten wird, die eine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich als unzumutbar erscheinen lässt.

Auch wenn die Versorgungslage in Afghanistan schlecht ist, ist im Wege einer Gesamtgefahrenschau nicht anzunehmen, dass bei einer Rückführung nach Afghanistan alsbald der sichere Tod drohen wird oder alsbald schwere Gesundheitsbeeinträchtigungen zu erwarten sind. Der Betroffene ist selbst ohne nennenswertes Vermögen und ohne familiären Rückhalt in der Lage, durch Gelegenheitsarbeiten wenigstens ein kleines Einkommen zu erzielen und sich damit zumindest ein Leben am Rand des Existenzminimums zu finanzieren (vgl. statt vieler: Bayerischer VGH, Urteil vom 6. Juli 2020 – 13a B 18.32817 –; OVG Bremen, Urteil vom 12. Februar 2020 – 1 LB 276/19, 1 LB 305/18 –; OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 22. Januar 2020 – 13 A 11356/19.OVG –; Niedersächsisches OVG, Urteil vom 29. Januar 2019 – 9 LB 93/18 –, OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 18. Juni 2019 – 13 A 3930/18.A – juris; siehe auch Urteil der Kammer vom 8. Januar 2020 – VG 3 K 41/17.A – juris; EASO, Country Guidance: Afghanistan, Guidance note and common analysis, Juni 2019, S. 137). Nach der Einschätzung des EASO drohen zwar auch in diesen Städten harte Lebensumstände, jedoch können junge, gesunde und arbeitsfähige Männer, die nicht auch noch für andere Personen sorgen müssen und bei denen auch keine sonstigen gefahrerhöhenden Umstände vorliegen, ihre Grundbedürfnisse an Unterkunft, Kleidung und Hygiene in diesen Städten decken.

Liegt nach alledem nahe, dass in der Regel Rückkehrer aus Europa nicht unmittelbar in eine extreme Gefahrenlage geraten, kann im Einzelfall bei Personengruppen mit erhöhten Gefährdungspotential auch nach dem strengen Maßstab des Art. 3 EMRK eine Situation bestehen, bei der sich die humanitären Gründe gegen eine Abschiebung als zwingend erweisen. Dies kann insbesondere bei Familien und alleinstehenden Frauen der Fall sein. Aber auch bei jungen, alleinstehenden Männern können bestimmte Persönlichkeitsdefizite dazu führen, im Einzelfall eine extreme Gefahrenlage anzunehmen, so dass insbesondere bei Personen, die nie bzw. nur in Kindesjahren in Afghanistan gelebt haben, maßgeblich sein kann, in welchem Alter sie Afghanistan verlassen haben, welche Verbindungen noch zu und in Afghanistan bestehen, welche Sprachen sie sprechen, welche Bildung sie genossen haben und ob zu erwarten ist, dass sie sich schnell an die Gepflogenheiten anpassen können (im Ergebnis jeweils das Bestehen eines Abschiebungsverbots verneinend: VGH Hessen, Urteil vom 27. September 2019 – 7 A 1923/14.A – juris Rn. 187 ff.; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 26. Juni 2019 – A 11 S 2108/18 – juris; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 18 Juni 2019 – 13 A 3930/18.A – juris Rn. 297 ff.; Niedersächsisches OVG, Urteil vom 29. Januar 2019 – 9 LB 93/18 – juris Rn. 137 ff.).

cc) Die vorstehenden Grundsätze bedürfen allerdings angesichts der Ausbreitung der Corona-Pandemie in Afghanistan einer sorgfältigen Überprüfung. Denn das das Finden von Unterkunft und Arbeit wird durch die Ausbreitung der Corona-Pandemie in Afghanistan nach Lage der Erkenntnismittel derzeit erschwert.

Am 24. November 2020 gab es in Afghanistan 45.278 bestätigte Fälle aus alle 34 Provinzen Afghanistans, von denen 36.122 als genesen gelten und 1.712 verstorben sind und insgesamt 141.863 Personen bei einer Bevölkerung von 37,6 Millionen getestet wurden (vgl. TOLOnews, Covid-19: 290 New Cases, 17 Deaths Reported in Afghanistan, 24. November 2020). Am meisten betroffen sind – gemessen an den bestätigten Fällen – neben den Provinzen Kandahar und Nangahar auch Herat, Balkh und Kabul. Nachdem im Frühjahr und Sommer weitgehende Ausgangssperren verhängt worden sind, die zur Schließung von Teilen von Städten bzw. zu Bewegungsbeschränkungen geführt haben, wurden die Maßnahmen inzwischen wieder aufgehoben bzw. gelockert. Das Land befindet sich derzeit in einer zweiten Welle, was sich schon in den letzten Wochen angedeutet hat. Die afghanische Regierung ordnete als Reaktion hierauf an, dass ab Ende Dezember 2020 Hochzeitshallen und andere öffentliche Orte schließen müssen (vgl. BAMF, Briefing Notes vom 23. November 2020).

Auf dem Arbeitsmarkt haben sich die veränderten Umstände in einer höheren Arbeitslosigkeit niedergeschlagen. Das Arbeitsministerium berichtet von zwei Millionen Menschen, die aufgrund der Corona-Pandemie arbeitslos geworden sind (BAMF, Briefing Notes vom 27. April 2020). Dies betrifft vor allem den Tagelöhnermarkt, die meisten Tagelöhner bleiben arbeitslos (BFA, Kurzinformation der Staatendokumentation, COVID-19 Afghanistan, Stand: 21. Juli 2020). Insbesondere in Kabul, Herat (und Nangahar) sind Arbeitsmöglichkeiten aufgrund der im März eingeführten Beschränkungen verloren gegangen (EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul City, Mazar-e Sharif and Herat City, August 2020, S. 29). Das Famine Early Warning Systems Network (FEWS) rechnet, dass ein Tagelöhner derzeit durchschnittlich 2,4 Tage pro Woche für 325 Afghani pro Tag (ca. 3,57 Euro) arbeiten kann. Damit könnte er ein Neuntel eines Monatspakets mit Grundnahrungsmitteln für einen sechsköpfigen Haushalt kaufen (vgl. BAMF, Briefing Notes vom 16. November 2020). Aufgrund überdurchschnittlich hoher Niederschläge zwischen Oktober 2019 und Mai 2020 erwartet das FEWS aber, dass die nationale Getreide-, Reis- und Gemüseproduktion nahezu durchschnittlich sein wird. Gegenwärtig wird prognostiziert, dass sich der Zugang zu Nahrungsmitteln nach der Ernte verbessert haben wird (FEWS, Afghanistan Food Security Outlook Juni 2020 bis Januar 2021, S. 1). Zwar sind die Lebensmittelpreise in der ersten Jahreshälfte gestiegen – so war allein im April ein Anstieg von 17 Prozent zu verzeichnen –, sie sind seitdem aber wieder gesunken (Weltbank, Afghanistan: New Grants to Cushion Impact of Covid-19 on Poor Households and Protect Food Security, 4. August 2020). Für 2020 geht die Weltbank von einer Rezession aus. Es wird erwartet, dass die Armutsquote auf 73 Prozent steigen wird (EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul City, Mazar-e Sharif and Herat City, August 2020, S. 29).

Die Auswirkungen des Lockdowns, insbesondere die gestiegenen Preise und eingeschränkte Arbeitsmöglichkeiten, haben die Nahrungsmittelversorgung beeinträchtigt. Etwa 12 Millionen Menschen befinden sich in akuter Ernährungsunsicherheit, davon etwa 4 Millionen Menschen in einem Notfall-Status („Emergency“). Fast ein Drittel aller Einwohner des Landes ist derzeit von Ernährungsunsicherheit betroffen. Maßnahmen der Preiskontrolle sind nach wie vor unerlässlich, um die Schwächsten zu schützen. Von Konflikten betroffene Binnenvertriebene sind angesichts des Verlusts ihres Einkommens, des fehlenden Zugangs zu Produktionsmitteln und Nahrungsmittelreserven besonders von Ernährungsunsicherheit bedroht. Diese Situation wird durch die Verringerung der verfügbaren Tages- und Gelegenheitslohnmöglichkeiten in der Nähe städtischer Zentren noch verschärft (OCHA, Afghanistan COVID-19 Multi-Sectoral Response Operational Situation Report, S. 7).

Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten haben allerdings auch zu einer erheblichen Ausweitung humanitärer Unterstützung geführt, aufgrund derer Millionen von Menschen erreicht werden konnten (OCHA, Afghanistan, Strategic Situation Report: COVID-19, Stand 27. August 2020, S. 2) und die gleichsam kompensatorisch gewirkt hat. Neben der Durchführung von Aktivitäten, die die Ausbreitung der SARS-CoV-2-Pandemie eindämmen, reagieren die Hilfsorganisationen auch auf andere aufkommende humanitäre Bedürfnisse. So konnte - wie schon gezeigt - Hilfe wegen neuer Vertreibungen infolge von lokalen Konflikten gewährt werden. Von den 12 Millionen Menschen, die humanitäre Hilfe und Schutzhilfe benötigten, haben knapp 8 Millionen Menschen Soforthilfe erhalten (Afghanistan: COVID-19 Multi-Sectoral Response Operational Situation Report, S. 4).

 Auch die Nahrungsmittelhilfe wurde intensiviert. So wurden vom Welternährungsprogramm in den Monaten März bis August 2020 über 65.000 Tonnen Nahrungsmittel verteilt und über 7,4 Millionen Dollar in Form von Bargeldtransfers ausgezahlt. Insgesamt wurden in diesem Zeitraum mehr als 7,5 Millionen Menschen mit Nahrungsmittelhilfe erreicht (OCHA, Afghanistan – COVID-19 Multi-Sectoral Response, Operational Situation Report, S. 7). Die afghanische Regierung und die Weltbank haben eine nationale Verteilung von Nahrungsmitteln und Saatgut angekündigt, das Food Security and Agriculture Cluster (FSAC) hat im Norden des Landes bereits hunderttausende Personen mit einer spezifischen Nahrungsmittelhilfe in Reaktion auf den Lockdown erreicht. Die Wiedereröffnung des wichtigen Grenzübergangs Spin Boldak hat positive Auswirkung auf die Marktpreise für Grundnahrungsmittel und deren Verfügbarkeit (vgl. auch zur Bedeutung der Grenzöffnungen: Konrad-Adenauer-Stiftung, Covid-Krise in Afghanistan, Juli 2020, S. 3). Die Partner des FSAC arbeiten an der Wiederherstellung eines vollständigen Nahrungsmittelangebots, wobei der Beschaffung von Weizen-Soja-Mischungen und Pflanzenöl Priorität eingeräumt wird. Mit diesen Gütern können wieder vollständigere Nahrungsmittelhilfepakete zusammengestellt werden, die es den am stärksten gefährdeten afghanischen Haushalten ermöglichen, ihre tägliche Mindestkalorienzufuhr zu decken (OCHA, Afghanistan - COVID-19 Multi-Sectoral Response, Operational Situation Report, Stand 26.08.2020 S. 8).

Die WHO und UNICEF haben medizinische Hilfsgüter im Wert von 3 Millionen US-Dollar - darunter persönliche Schutzausrüstung, Laborbedarf und Krankenhausausrüstung - beschafft, die in Afghanistan eingetroffen sind und zur weiteren Verteilung übergeben wurden.

Rückkehrer aus dem Ausland stehen bei der Arbeitssuche vor einer zusätzlichen besonderen Herausforderung, weil diese als vermeintlich Verantwortliche für die Gefahr durch das Corona-Virus stigmatisiert werden (Stahlmann, Risiken der Verbreitung von SARS-CoV-2 und schweren Erkrankungen an Covid-19 in Afghanistan, besondere Lage Abgeschobener, 27. März 2020, S. 2). Sie stehen angesichts der völlig unzureichenden Versorgungslage zudem vor der Problematik, eine Unterkunft zu finden. Im Hinblick auf die in Großstädten überwiegend beengten Unterbringungsverhältnissen und des vorgegebenen „social distancing“, bestehen kaum Möglichkeiten, Obdach zu finden. Der Verweis auf eine Unterbringung in sogenannten Teehäusern erscheint auf absehbare Zeit kaum mehr möglich, denn es wird davon berichtet, dass diese sukzessive geschlossen wurden (Stahlmann, Risiken der Verbreitung von SARS-CoV-2 und schweren Erkrankungen an Covid-19 in Afghanistan, besondere Lage Abgeschobener, 27. März 2020, S. 3). Auch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl berichtet am 21. Juli 2020, dass die meisten Hotels, Teehäuser und ähnlichen Orte geschlossen seien, es sei denn, sie würden geheim und unbemerkt von staatlichen Stellen geöffnet (BFA, Kurzinformation der Staatendokumentation, COVID-19 Afghanistan; Stand: 21. Juli 2020, S. 3).

Andererseits können (freiwillige) Rückkehrer von Unterstützungsmaßnahmen profitieren, die der übrigen Bevölkerung nicht zugänglich sind. Aus Deutschland freiwillig zurückkehrende Afghanen werden finanziell gefördert (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29. November 2019 – A 11 S 2376/19 – juris Rn. 106 m.w.N.). Unter dem aktuellen „REAG/GARP-Programm 2020“, einem humanitären Hilfsprogramm des Bundes und der Länder, können Rückkehrer weitreichende finanzielle Unterstützung erhalten, die nicht nur die Reisekosten innerhalb Deutschlands und ins Herkunftsland in tatsächlicher Höhe nebst einer pauschalen Reisebeihilfe (200 Euro pro Erwachsenem) umfassen, sondern zusätzlich eine „Starthilfe“ in Höhe von 1.000 Euro pro Erwachsenem sowie eine „ergänzende Reintegrationsunterstützung im Zielland“ in Höhe von weiteren 1.000 Euro pro Erwachsenem (siehe das entsprechende Informationsblatt, abrufbar unter www.returningfromgermany.de). Damit ist nicht nur der Reiseweg innerhalb Afghanistans finanziell gesichert, sondern auch die erste Zeit nach der Ankunft am endgültigen Zielort. Aufgrund einer Vereinbarung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Islamischen Republik Afghanistan vom 2. Oktober 2016 werden Rückkehrer aus Deutschland nach der Landung von Vertretern des afghanischen Flüchtlingsministeriums empfangen und sind auch insofern bei der Ankunft zunächst nicht auf sich allein gestellt (vgl. auch OVG Bremen, Urteil vom 26. Mai 2020 – 1 LB 56/20 – juris Rn. 62).

Das sich aus diesen unterschiedlichen (größtenteils online verfügbaren, vgl. etwa Corona-Tracker des VGH Baden-Württemberg) Quellen ergebende Lagebild in der Stadt Kabul als End- bzw. Ankunftsort einer Abschiebung sowie in Afghanistan insgesamt, stellt sich zur Überzeugung des Gerichts so dar, dass bei aus dem westlichen Ausland zurückkehrenden Personen die hohen Anforderungen des Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG, Art. 3 EMRK im Einzelfall für vulnerable Personen und Familien erfüllt sein können. Bei Familien oder vulnerablen Personen bedarf es deshalb in tatsächlicher Hinsicht im Einzelfall der besonders gründlichen Feststellung, dass sie über namhaftes einsetzbares Vermögen verfügen, in ein soziales oder familiäres Netzwerk zurückkehren, sich in existenzsichernder Weise am Arbeitsmarkt werden durchsetzen können oder sich auf andere Weise am Rande des Existenzminimums werden „über Wasser halten" können. Lässt sich diese Feststellung nicht treffen, liegt die Annahme einer Verletzung von Art. 3 EMRK durch eine Abschiebung jedenfalls in tatsächlicher Hinsicht nahe (vgl. so auch: VG Freiburg, Urteil vom 8. September 2020 – A 8 K 10988/17 – UA, S. 28 f.; VG Hannover, Urteil vom 9. Juli 2020 – 19 A 11909/17 – juris Rn. 44 ff.; Urteil der Kammer vom 3. September 2020 – VG 3 K 1599/16.A – juris; vgl. zum Meinungsstand in der Rechtsprechung: VG Hamburg, Urteil vom 7. August 2020 – 1 A 3562/17 – juris Rn. 47 ff.).

dd) Dies zugrunde gelegt, gelangt das Gericht hier zu der Überzeugung, dass dem Kläger im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan keine extreme Gefahrenlage droht, die zu einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung um Sinne von Art. 3 EMRK führt.

Trotz der bestehenden sozio-ökonomischen Widrigkeiten würde es dem Kläger nach Auffassung des Gerichts aller Voraussicht möglich sein, Arbeit zu finden und dadurch seine Grundbedürfnisse zu sichern. Bei dem Kläger handelt es sich um einen jungen Mann im erwerbsfähigen Alter. Er ist – trotz seines deutschen Kindes – als alleinstehend zu behandeln.

Denn Hintergrund der Berücksichtigung von Familienangehörigen bei der Rückkehrprognose im Rahmen von § 60 Abs. 5 S. 1 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK ist, dass sich der einzelne Rückkehrer dann nicht nur in der verfassungsrechtlich geschützten Rechtspflicht zur Unterhaltsgewähr und Versorgung, sondern auch in einer entsprechenden sittlich-moralischen Pflicht sieht. Bei der Rückkehr im Familienverband, bei der lediglich ein Familienmitglied sein eigenes Existenzminimum (notdürftig) sichern könnte, nicht aber das seiner Angehörigen, steht dieses vor einer Alternative. Der Rückkehrer kann entweder unter Verletzung seiner Familienobliegenheiten zunächst vollständig seine eigene Existenz (hinreichend) sichern und dafür auch die tatsächliche Existenzgefährdung oder eine konventionswidrige Situation der von ihm abhängigen Angehörigen in Kauf nehmen. Alternativ kann der Ausländer unter dem Eindruck der in der Existenz gefährdeten Familienmitglieder auf die hinreichende Sicherung seiner eigenen Existenz durch „Teilen“ mit Familienangehörigen auch dann verzichten, wenn dies zu einer konkret drohenden Verletzung von Leib, Leben oder der Freiheit der eigenen Person führt. Art. 6 Grundgesetz (GG) und Art. 8 EMRK schützen jedenfalls normativ die – für die Rückkehrprognose naheliegende – Entscheidung eines Elternteils, auf die Erfüllung grundlegender familiärer Solidarpflichten auch dann nicht zugunsten der eigenen Existenzsicherung zu verzichten, wenn damit das eigene Existenzminimum unterschritten und für die eigene Person eine mit Art. 3 EMRK unvereinbare Lage herbeigeführt wird (BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 – 1 C 45 /18 – juris Rn. 27). Diese Voraussetzungen liegen bei dem Kläger offensichtlich nicht vor.

Der Kläger verfügt mit Blick auf die deutsche Staatsangehörigkeit seines Kindes und seiner Lebensgefährtin nicht über eine in diesem Sinne berücksichtigungsfähige Familie, mit denen er gemeinsam abgeschoben werden könnte (siehe oben). Dass von einer gemeinsamen Rückkehr nach Afghanistan auszugehen sei, trägt der Kläger auch nicht vor. Soweit er ein Abschiebungsverbot wegen seines in Deutschland verbleibenden deutschen Kindes geltend macht, kann hieraus insbesondere mit Blick auf die familiäre Bindung nur ein inlandsbezogenes Abschiebungsverbot nach § 60a Abs. 2 AufenthG folgen, das von der Ausländerbehörde, nicht aber in diesem Verfahren zu beachten ist (vgl. VG München, Beschluss vom 22. Mai 2020 – M 10 S 20.31295 – juris Rn. 19; Urteil vom 10. April 2020 – M 6 K 19.33373 – juris Rn. 15; VG Oldenburg, 5. Februar 2019 – 7 A 4566/18 – juris Rn. 16 ff. – insbesondere in Bezug auf Art. 8 EMRK). Dies gilt auch unter Berücksichtigung der gegenüber seinem deutschen Kind bestehenden Unterhaltspflichten (vgl. VG München, Urteil vom 10. April 2020 – M 6 K 19.33373 – juris Rn. 16; VG Cottbus, Urteil vom 27. Oktober 2020 – 2 K 1387/17.A – S. 37 d. Entscheidungsabdrucks), zumal ohnehin solange nicht mit einer Abschiebung zu rechnen sein dürfte, soweit er seinen Unterhaltspflichten auch nachkommt (vgl. VG München, Urteil vom 10. April 2020 – M 6 K 19.33373 – juris Rn. 16). Daher ist davon auszugehen, dass er bei Rückkehr nach Afghanistan ausschließlich seinen eigenen Lebensunterhalt zu erwirtschaften hat. Soweit er derzeit seine Eltern in Afghanistan finanziell unterstützt, ist diese freiwillige Unterhaltsleistung nicht zu berücksichtigen. Er verfügt über in Afghanistan erworbene mehrjährige Arbeitserfahrung als Lagerist und Schuhmacher und ist mit den Verhältnissen im Land vertraut. Zudem hat er sich in Deutschland weitere praktische Kenntnisse angeeignet; er ist als Arbeiter in einer Produktionsfirma tätig. Er verfügt über eine – für afghanische Verhältnisse – weit überdurchschnittliche Schuldbildung und spricht neben der Landessprache Dari auch Englisch und Deutsch. Die Bildung und Kenntnisse geben ihm einen Vorsprung im Gegensatz zu den üblicherweise auf dem afghanischen Tagelöhnermarkt zu findenden Erwerbs- und Bildungsbiografien. Soweit der Kläger in der mündlichen Verhandlung auf psychische Probleme in Form von Angstzuständen und Schlafstörungen verwiesen hat, entstand beim Gericht aufgrund der vorgelegten ärztlichen Berichte und des Verhaltens des Klägers in der mündlichen Verhandlung nicht der Eindruck, dass seine psychische Belastbarkeit erheblich eingeschränkt ist. Dies ergibt sich zunächst aus dem Umstand, dass der Kläger seit zwei Jahren auch in Deutschland durchgängig einer Tätigkeit nachgeht und laut eigenen Angaben in der Lage ist, sich um sein Kind zu kümmern. Zudem sind die vorgelegten ärztlichen Berichte, unabhängig davon, dass sie den Anforderungen an die Glaubhaftmachung psychischer Erkrankungen nicht genügen, nicht aktuell, sondern stammen aus April 2016 (Behandlungsberichte des Klinikum Niederlausitz) bzw. aus dem Frühjahr 2016 (Bericht des Dipl.-Psych. Manfred Neumann). Den vorgelegten Unterlagen lässt sich jedenfalls nicht entnehmen, dass der Kläger derzeit noch in Behandlung ist. Dies trägt er auch nicht vor. Er räumt selbst ein, auf eine durchgehende Behandlung verzichtet zu haben. Soweit er behauptet, derzeit „zwei bis drei“ Tabletten gegen Schlafstörungen und zur Beruhigung einzunehmen, war der Kläger nicht in der Lage, die Namen der Medikamente zu nennen. Dies lässt allenfalls auf eine nur gelegentliche Einnahme schließen, zumal er die Medikamente laut Schilderungen seines Prozessbevollmächtigten bereits 2019 erhalten hat. Zudem geht das Gericht davon aus, dass der Kläger im Fall einer Rückkehr voraussichtlich auch mit der Unterstützung seiner dort und im benachbarten Ausland lebenden Großfamilie rechnen kann. So hält das Gericht es für möglich, dass er bei den in Kabul lebenden Eltern (oder etwa auch bei seiner Schwester in Masar-e Sharif) zumindest für die Anfangszeit unterkommen könnte und ihm damit eine Unterkunft zur Verfügung steht. Im Kulturkreis des Klägers ist es üblich, dass die Familie in Notsituationen Unterstützung leistet (Stahlmann, Überleben in Afghanistan? Zur humanitären Lage von Rückkehrern und ihren Chancen auf familiäre Unterstützung, Asylmagazin 3/2017, S. 78 ff.). Ferner kann der Kläger im Fall einer freiwilligen Rückkehr die oben dargestellten finanziellen Rückkehrhilfen in Anspruch nehmen.

Ein Abschiebungsverbot aus § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG scheidet für den Kläger ebenfalls aus.

Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG sind die Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen. Nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG kann die oberste Landesbehörde anordnen, dass die Abschiebung für längstens sechs Monate ausgesetzt wird. Eine Abschiebestopp-Anordnung besteht jedoch für die hier in Rede stehende Personengruppe nicht.

Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Dies kann aus individuellen Gründen der Fall sein, kommt aber ausnahmsweise auch infolge einer allgemein unsicheren oder wirtschaftlich schlechten Lage im Zielstaat in Betracht. Eine solche Ausnahme können die im Zielstaat herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage darstellen, wenn bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit eine extreme Gefahrenlage vorläge. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahr ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit strengeren Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit in dem Sinn drohen, dass er im Fall der Abschiebung sozusagen sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert wäre. Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren, wenn also z.B. der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert wäre. Von diesem Maßstab ausgehend bietet § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG unter dem Gesichtspunkt der extremen Gefahrenlage keinen weitergehenden Schutz als § 60 Abs. 5 i.V.m. Art. 3 EMRK. Liegen also die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen schlechter humanitärer Bedingungen nicht vor, so scheidet auch eine im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG relevante extreme Gefahrenlage aus (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 12. Oktober 2018 – A 11 S 316/17 – juris Rn. 453). Die fraglos schlechten Lebensverhältnisse in Afghanistan begründen wie oben dargestellt bereits keinen Verstoß gegen Art. 3 EMRK und erfüllen damit erst recht nicht die höheren Voraussetzungen der extremen Gefahrenlage gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.

4. Die Abschiebungsandrohung findet ihre Rechtsgrundlage in § 34 AsylG, § 59 AufenthG. Die Ausreisefrist von 30 Tagen ergibt sich aus § 38 Abs. 1 AsylG.

 5. Die als Teilanfechtungsklage statthafte Klage hinsichtlich der Festsetzung eines Einreise- und Aufenthaltsverbotes mit einer Dauer von 30 Monaten in Ziffer 6 des Bescheides vom 26. Januar 2017 ist hingegen begründet. Der Bescheid ist insoweit rechtswidrig und verletzt Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Als statthafte Klageart kommt hier nur die Anfechtungsklage in Betracht (§ 42 Abs. 1, 1. Var. VwGO). Die angegriffene Ziffer 6 des Bescheides der Beklagten ist ein einheitlicher Verwaltungsakt mit dem Regelungsgegenstand eines Einreiseverbots von gewisser Dauer. Ist die Fristsetzung rechtswidrig, ist die Entscheidung auf die Anfechtungsklage hin in der Folge insgesamt aufzuheben (OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 6. Juli 2020 – OVG 3 B 3/20 – juris Rn. 15 f.).
Die Rechtmäßigkeit bestimmt sich hier nach der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung. Das folgt aus § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG, der gemäß § 83c AsylG auch für Rechtsbehelfe gegen die Entscheidungen des Bundesamtes gemäß § 75 Nr. 12 AufenthG gilt. Nach der zuletzt genannten Bestimmung gehört es unter anderem zu den Aufgaben des Bundesamtes, das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG im Fall einer Abschiebungsandrohung nach den §§ 34, 35 AsylG anzuordnen. Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung ist hier somit das Aufenthaltsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl. I S. 162), das zuletzt durch Art. 169 der Verordnung vom 19. Juni 2020 (BGBl. I S. 1328) geändert worden ist.
Rechtsgrundlage für das aufgrund der Aufgabenzuweisung in § 75 Nr. 12 AufenthG durch das Bundesamt verfügte Einreise- und Aufenthaltsverbot ist § 11 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 2 bis 4 und Abs. 3 AufenthG.
Nach § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ist gegen einen Ausländer, der ausgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben worden ist, ein Einreise- und Aufenthaltsverbot zu erlassen, und zwar gemäß § 11 Abs. 2 Satz 2 AufenthG mit der Abschiebungsandrohung unter der aufschiebenden Bedingung der Ab- oder Zurückschiebung, spätestens mit der Ab- oder Zurückschiebung. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot ist bei seinem Erlass von Amts wegen zu befristen, § 11 Abs. 2 Satz 3 AufenthG. Über die Länge der Frist wird gemäß § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG nach Ermessen entschieden.
Die Einräumung behördlichen Ermessens ist im Hinblick auf höher- und vorrangiges Recht unbedenklich (OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 6. Juli 2020 – OVG 3 B 3/20 – juris Rn. 21).
Gemäß § 114 Satz 1 VwGO ist die durch § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG eröffnete Ermessensentscheidung gerichtlich nur eingeschränkt, nämlich nur dahingehend überprüfbar, ob die Behörde die gesetzlichen Grenzen ihres Ermessens überschritten (Ermessensüberschreitung) oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat (Ermessensfehlgebrauch). Das schließt auch den Fall ein, dass die Behörde das ihr eingeräumte Ermessen nicht erkannt hat (Ermessensausfall, Ermessensnichtgebrauch; vgl. nur BVerwG, Urteil vom 27. Mai 2010 – 5 C 8.09 – juris Rn. 43; Schenke/Ruthig, in: Kopp/Schenke, VwGO, 25. Aufl. 2019, § 114 Rn. 14). Ein solcher nach § 114 Satz 1 VwGO beachtlicher Ermessensfehler liegt hier vor.

Im Rahmen des Ermessens nach § 11 AufenthG ist eine Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse, den Ausländer eine gewisse Zeit vom Bundesgebiet fernzuhalten und dem privaten Interesse des Ausländers an baldiger Wiedereinreise und erneuten Aufenthalt in Deutschland vorzunehmen. Dabei sind die persönlichen Belange des Ausländers umfassend zu berücksichtigen. Die Behörde ist zum Zeitpunkt des Erlasses des Bescheides davon ausgegangen, dass Anhaltspunkte für schutzwürdige Belange des Klägers weder ausreichend vorgetragen wurden, noch nach den Erkenntnissen des Bundesamts vorliegen. Nach der für die gerichtliche Entscheidung maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung bestehen mittlerweile jedoch zu berücksichtigende schutzwürdige Belange des Klägers. Dieser hat in der mündlichen Verhandlung vorgetragen, Vater eines deutschen Kindes zu sein und mit dessen deutscher Mutter – wenn auch nicht in einer räumlichen – zumindest aber in einer familiären Lebensgemeinschaft zu leben. Ausweislich der als Kopie vorgelegten Urkunde über die Sorgeerklärung übt er gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin das Sorgerecht aus. Die Beziehungen sind nach Art. 6 Grundgesetz (GG) als schützenswert anzusehen. Diese schutzwürdigen Belange wurden seitens des Bundesamtes nicht berücksichtigt. Dies stellt einen Ermessensfehlgebrauch dar, der insoweit zur Aufhebung des Bescheids führt.

7. Die Kostenentscheidung ergeht nach § 154 Abs. 1, 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO, § 83b AsylG. Die Kosten konnten dem Kläger ganz auferlegt werden, weil die Beklagte betreffend die Ziffer 6 des streitgegenständlichen Bescheides nur zu einem geringen Teil unterlegen ist. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.