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vorläufiger Rechtschutz; Anordnung der aufschiebenden Wirkung; Aufenthaltserlaubnis; im Bundesgebiet geborenes Kind; illegale Einreise der Mutter; Aufenthaltserlaubnis des Vaters; ermessensfehlerhafte Ablehnung


Metadaten

Gericht OVG Berlin-Brandenburg 3. Senat Entscheidungsdatum 22.07.2022
Aktenzeichen OVG 3 S 6/22 ECLI ECLI:DE:OVGBEBB:2022:0722.OVG3S6.22.00
Dokumententyp Beschluss Verfahrensgang -
Normen § 80 Abs 5 VwGO, § 33 Satz 1 AufenthG, § 38a AufenthG, § 81 Abs 2 S 2 AufenthG

Tenor

Auf die Beschwerde des Antragstellers zu 2 wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 3. März 2022 mit Ausnahme der Streitwertfestsetzung geändert.

Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers zu 2 gegen Ziffer 2 des Bescheids des Antragsgegners vom 18. Januar 2022 sowie gegen Ziffer 2 des Bescheids des Antragsgegners vom 7. Dezember 2021, soweit darin die Abschiebung des Antragstellers zu 2 angedroht wird, wird angeordnet.

Die Beschwerde der Antragstellerin zu 1 wird zurückgewiesen.

Von den Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge tragen der Antragsgegner drei Viertel und die Antragstellerin zu 1 ein Viertel.

Der Wert des Beschwerdegegenstandes wird auf 5.000,00 EUR festgesetzt.

Gründe

I.

Die Antragstellerin zu 1 ist nigerianische Staatsangehörige. Sie reiste nach eigenen Angaben im März 2019 aus Italien nach Deutschland ein und meldete sich im Mai 2019 beim Landesamt für Einwanderung. Sie zeigte dort ihre Schwangerschaft mit voraussichtlichem Entbindungstermin im August 2019 an und benannte als Vater des Kindes Herrn J, der ebenfalls nigerianischer Staatsangehöriger ist. Herrn J waren im Hinblick auf seine unbefristete italienische Aufenthaltserlaubnis zunächst am 24. April 2018 (befristet bis zum 19. April 2019) und erneut am 4. März 2019 (befristet bis zum 29. Februar 2020) eine Aufenthaltserlaubnis nach § 38a AufenthG erteilt worden. Seine aktuelle Aufenthaltserlaubnis nach § 38a AufenthG datiert vom 14. Dezember 2020 und ist bis zum 14. Dezember 2022 befristet.

Der Antragsteller zu 2 wurde am 19. August 2019 in Berlin geboren. Bereits am 8. August 2019 hatte Herr J mit notarieller Urkunde die Vaterschaft anerkannt und mit der Antragstellerin zu 1 eine gemeinsame Sorgerechtserklärung abgegeben. Beide sprachen am 26. September 2019 beim Landesamt für Einwanderung vor und legten u.a. Reisepässe beider Antragsteller, die Geburtsurkunde des Antragstellers zu 2 und die Sorgerechtserklärung vor. Den Antragstellern wurden daraufhin Duldungen erteilt.

Mit Bescheid vom 7. Dezember 2021 stellte das Landesamt für Einwanderung fest, dass beide Antragsteller verpflichtet seien, das Bundesgebiet zu verlassen (Ziffer 1) und drohte ihnen für den Fall, dass sie nicht bis zum 4. Januar 2022 freiwillig ausreisen, die Abschiebung nach Nigeria an (Ziffer 2). Gegen diesen Bescheid erhoben die Antragsteller am 3. Januar 2022 Klage zum Verwaltungsgericht und beantragten hinsichtlich der Abschiebungsandrohung (Ziffer 2 des Bescheids) die Anordnung der aufschiebenden Wirkung. Mit weiterem Bescheid vom 18. Januar 2022 lehnte das Landesamt für Einwanderung die von dem Prozessbevollmächtigten der Antragsteller mit Schriftsatz vom 28. Dezember 2021 gestellten Anträge auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für die Antragstellerin zu 1 (Ziffer 1) und für den Antragsteller zu 2 (Ziffer 2) ab. Auch gegen diesen Bescheid erhoben die Antragsteller Klage, der Antragsteller zu 2 beantragte darüber hinaus die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage hinsichtlich Ziffer 2 des Bescheids. Beide Klage- und Eilverfahren sind durch Beschlüsse vom 3. März 2022 verbunden worden. Mit weiterem Beschluss vom 3. März 2022 lehnte das Verwaltungsgericht die Anträge auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ab. Hiergegen wenden sich die Antragsteller mit der Beschwerde.

II.

Die Beschwerde des Antragstellers zu 2 ist begründet. Insoweit rechtfertigt das maßgebliche Beschwerdevorbringen (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO) die Änderung des angefochtenen Beschlusses.

Hinsichtlich der beantragten Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen die Ablehnung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 33 Satz 1 AufenthG in Ziffer 2 des Bescheids vom 18. Januar 2022 macht die Beschwerde zu Recht geltend, dass die Versagung der Aufenthaltserlaubnis voraussichtlich rechtswidrig ist, weil die Behörde bei ihrer Ermessensentscheidung - und das Verwaltungsgericht bei deren Überprüfung - von falschen Maßstäben der Ermessensausübung ausgegangen ist.

Nach § 33 Satz 1 AufenthG kann einem Kind, das - wie der Antragsteller zu 2 - im Bundesgebiet geboren wird, abweichend von § 5 und § 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG von Amts wegen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn ein Elternteil eine Aufenthaltserlaubnis, eine Niederlassungserlaubnis oder eine Erlaubnis zum Daueraufenthalt - EU besitzt. Herr J, der nach seiner vom Antragsgegner nicht durchgreifend in Frage gestellten Vaterschaftsanerkennung der Vater des Antragstellers zu 2 ist, hatte zum maßgeblichen Zeitpunkt der Geburt (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 21. Februar 2017 - OVG 3 B 14.16 - juris Rn. 16; Beschluss vom 27. Januar 2014 - OVG 12 S 72.13, 12 M 43.13 - juris Rn. 7 m.w.N.) - und auch noch zum jetzigen Zeitpunkt - einen Aufenthaltstitel nach § 38a AufenthG. Hierbei handelt es sich nicht um einen humanitären Aufenthaltstitel im Sinne des § 29 Abs. 3 Satz 3 AufenthG, bei dem Familiennachzug nicht gewährt wird, und der dementsprechend auch nicht Grundlage eines abgeleiteten Aufenthaltstitels nach § 33 Satz 1 AufenthG sein kann (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 21. Februar 2017 - OVG 3 B 14.16 - juris Rn. 15 m.w.N.; Beschluss vom 27. Januar 2014 - OVG 12 S 72.13, 12 M 43.13 - juris Rn. 7). Soweit man als weitere - ungeschriebene - Tatbestandsvoraussetzung das Bestehen einer familiären Lebensgemeinschaft zwischen dem Elternteil und dem Kind ansieht (so OVG Münster, Urteil vom 7. April 2016 - 17 A 2389/15 - juris Rn. 25 ff.; vgl. auch VGH Mannheim, Beschluss vom 30. März 2021 - 11 S 3421/20 - juris Rn. 19), sprechen für das Bestehen einer engeren familiären Bindung neben der schon vor der Geburt abgegebenen Sorgerechtserklärung zum jetzigen Zeitpunkt der Umstand, dass die Antragsteller seit März 2022 unter der Adresse des Herrn J wohnen, und die mit der Beschwerdebegründung vorgelegten Fotos, die gerade auch den Antragsteller zu 2 mit Herrn J zusammen in durchaus natürlich wirkenden familiären Situationen zeigen.

Die Beschwerde macht mit Erfolg geltend, dass der Antragsgegner das ihm nach § 33 Satz 1 AufenthG eröffnete Ermessen - anders als das Verwaltungsgericht meint - nicht fehlerfrei ausgeübt hat. Grundsätzlich verfolgt § 33 AufenthG das Ziel, ein im Bundesgebiet geborenes Kind am rechtmäßigen Aufenthalt eines Elternteils teilhaben zu lassen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 25. Oktober 2005 - 2 BvR 524/01 - juris Rn. 34 zu § 21 AuslG). Die Ermessensregelung in Satz 1 soll den Ausländerbehörden bessere Steuerungsmöglichkeiten geben; bei der Ausübung des Ermessens soll der besonderen Beziehung zwischen den Eltern und dem Kleinkind unmittelbar nach der Geburt im Interesse der Gewährung der Familieneinheit und zur Aufrechterhaltung der nach Art. 6 Abs. 1 GG besonders geschützten familiären Betreuungsgemeinschaft Rechnung getragen werden, wobei hinsichtlich des Vaters eines nichtehelichen Kindes insbesondere zu berücksichtigen ist, ob ihm ein Sorgerecht zusteht oder er in familiärer Lebensgemeinschaft mit seinem Kind lebt (vgl. BT-Drs. 16/5065, S. 176; OVG Lüneburg, Beschluss vom 4. Februar 2021 - 8 ME 2/21 - juris Rn. 15).

Diesen Gesichtspunkten ist nicht schon durch den Hinweis des Antragsgegners, dass Art. 6 Abs. 1 und 2 GG keinen unmittelbaren Aufenthaltsanspruch gewährt, und es den Antragstellern und Herrn J zumutbar sei, die familiäre Lebensgemeinschaft in Nigeria zu leben, hinreichend Rechnung getragen. Es hat vielmehr eine umfassende Ermessensabwägung stattzufinden, bei der die Situation des Kindes in den Blick genommen wird (OVG Lüneburg, Beschluss vom 4. Februar 2021 - 8 ME 2/21 - juris Rn. 16). Dies hat der Antragsgegner nicht geleistet. Er hat sich in seinem Versagungsbescheid vom 18. Januar 2022 in erster Linie damit befasst, dass die Antragstellerin zu 1 keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG habe, weil sie nicht tatsächlich oder rechtlich an der Ausreise gehindert sei. Im Anschluss daran hat er nur kurz § 33 Satz 1 AufenthG als Rechtsgrundlage für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an den Antragsteller zu 2 benannt, sich anschließend dazu geäußert, dass diese nicht an einen Aufenthaltstitel der Antragstellerin zu 1 anknüpfen könne, den sie nicht habe, und sich im Übrigen auf die Feststellungen beschränkt, dass Herr J im Besitz eines befristeten Aufenthaltstitels aufgrund seines unbefristeten italienischen Aufenthaltstitels sei, „allein“ hieraus aber „nicht automatisch ein Aufenthaltsrecht für Ihr Kind abgeleitet werden“ könne, um hieran wieder den Hinweis anzuschließen, dass der Mutter kein Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet zustehe und es dem Kind ebenfalls zugemutet werden könne, in ihrem Heimatland zu leben, dessen Staatsangehörigkeit es habe. Diese Erwägungen tragen § 33 Satz 1 AufenthG, der gerade auf die Beziehung des Kindes zu dem Elternteil abstellt, das bei seiner Geburt einen Aufenthaltstitel hat, lediglich ansatzweise Rechnung.

Auch wenn die Ausländerbehörde grundsätzlich berücksichtigen darf, ob die Familieneinheit auch im Ausland hergestellt werden kann (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 17. September 2021 - OVG 3 S 53/21 -), wird aus der Begründung des Bescheids deutlich, dass der Antragsgegner maßgeblich auf das fehlende Aufenthaltsrecht und die illegale Einreise der Antragstellerin zu 1 abstellt, deren aufenthaltsrechtliches Schicksal der Antragsteller zu 2 teile (Seite 6 des Bescheids vom 7. Dezember 2021), und die Beziehung zum Kindsvater nur nachrangig und nicht umfassend in den Blick genommen wird. Unabhängig davon, ob es schon für sich genommen ermessensfehlerhaft ist, wenn dem öffentlichen Interesse an der Beendigung des Aufenthalts des Kindes allein deshalb höheres Gewicht als seinem Interesse an einem Verbleib im Bundesgebiet beigemessen wird, weil der andere Elternteil über kein Aufenthaltsrecht verfügt und ausreisepflichtig ist (so OVG Lüneburg, Beschluss vom 4. Februar 2021 - 8 ME 2/21 - juris Rn. 16), lässt der Hinweis auf den „nur auf Grund seines in Italien bestehenden Daueraufenthalts“ erteilten Aufenthaltstitel (Seite 6 des Bescheids vom 18. Januar 2022) darauf schließen, dass der Antragsgegner diesem Aufenthaltstitel nur geringen Wert beimisst, ohne dass es hierfür einen rechtlichen Anknüpfungspunkt gäbe. Im Gegenteil stellt § 38a Abs. 1 AufenthG die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an einen Ausländer, der einen in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten innehat, nicht ins Ermessen, und knüpft sie auch nicht an weitere spezifische Voraussetzungen. Danach erlaubt die Befristung des dem Kindsvater in Deutschland erteilten Aufenthaltstitels nicht ohne weiteres den - vom Antragsgegner auch nicht explizit gezogenen - Schluss, es sei mit einem künftigen Wegfall des Aufenthaltsrechts zu rechnen (vgl. zu diesem Gesichtspunkt VGH Mannheim, Beschluss vom 30. März 2021 - 11 S 3421/20 - juris Rn. 22; OVG Lüneburg, Beschluss vom 4. Februar 2021 - 8 ME 2/21 - juris Rn. 16). Soweit es um die Erfüllung der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung der Sicherung des Lebensunterhalts (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG) geht, dürfte unter Berücksichtigung der durch Gehaltsabrechnungen belegten Beschäftigungsverhältnisse, insbesondere des unbefristeten Beschäftigungsverhältnisses bei T. Hotels, einiges dafür sprechen, dass es ihm auch künftig gelingen wird, seinen Lebensunterhalt - und darüber hinaus auch den der Antragsteller - zu sichern. Hierzu verhält sich der Bescheid nicht.

Angesichts der fehlerhaften Ermessensausübung kommt es auf die Ausführungen der Beschwerde zur Zumutbarkeit einer Rückkehr nach Nigeria auch für den Vater des Antragstellers hier nicht entscheidungserheblich an.

Hinsichtlich der Abschiebungsandrohung in Ziffer 2 des Bescheids vom 7. Dezember 2022 macht die Beschwerde ebenfalls mit Erfolg geltend, dass das Aussetzungsinteresse des Antragstellers zu 2 das gesetzlich normierte öffentliche Vollzugsinteresse überwiegt, indem sie darauf hinweist, dass dieser zum Zeitpunkt des Erlasses der Abschiebungsandrohung nicht vollziehbar ausreisepflichtig war. Das Verwaltungsgericht geht in dem angefochtenen Beschluss selbst zutreffend davon aus, dass sein Aufenthalt in Deutschland bis zur Ablehnung der von Amts wegen zu prüfenden Aufenthaltserlaubnis nach § 33 Satz 1 AufenthG nach § 81 Abs. 2 Satz 2 AufenthG als erlaubt galt. Es kommt daher auch nicht darauf an, ob die Vorsprache der Eltern am 26. September 2019 beim Landesamt für Einwanderung unter Vorlage u.a. der Geburtsurkunde, der Vaterschaftsanerkennung und Sorgerechtserklärung sowie des Reisepasses als konkludenter Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis angesehen werden kann.

Die Beschwerde hat indessen keinen Erfolg, soweit sie sich dagegen wendet, dass das Verwaltungsgericht es abgelehnt hat, die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin zu 1 gegen Ziffer 2 des Bescheids des Landesamts für Einwanderung vom 7. Dezember 2021 anzuordnen. Dies gilt schon deshalb, weil sie sich nicht mit der Einschätzung des Verwaltungsgerichts auseinandersetzt, die Antragstellerin zu 1 sei vollziehbar ausreisepflichtig gewesen, sondern nur auf die dem Antragsteller zu 2 zugutekommende Fiktionswirkung abstellt.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 i.V.m. § 155 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 2 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).