Gericht | OVG Berlin-Brandenburg 11. Senat | Entscheidungsdatum | 28.04.2022 | |
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Aktenzeichen | OVG 11 A 18/20 | ECLI | ECLI:DE:OVGBEBB:2022:0428.OVG11A18.20.00 | |
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 30 BauGB, § 31 BauGB, § 34 BauGB, § 38 BauGB, § 6 BImSchG, § 16 BImSchG, § 3 KrWG, § 28 KrWG, § 8 BauNVO, § 1 BImSchV 4 |
Der Bescheid des Beklagten vom 2. Februar 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. Januar 2020 wird aufgehoben.
Der Beklagte und die Beigeladene tragen die Kosten des Verfahrens jeweils zur Hälfte.
Die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren war notwendig.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung jeweils durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 Prozent des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Die Klägerin wendet sich gegen eine der Beigeladenen von dem Beklagten erteilte immissionsschutzrechtliche Genehmigung für eine Abfalllagerungs- und Abfallbehandlungsanlage.
Die Klägerin und die Beigeladene sind Eigentümer zweier benachbarter Grundstücke in einem Gewerbegebiet. Auf dem Grundstück der Klägerin, das westlich an das der Beigeladenen angrenzt, unterhält die __ GmbH als Mieter der Klägerin ihren Geschäftssitz sowie die Büroräume ihrer kaufmännischen und technischen Mitarbeiter. Das Betriebsgrundstück liegt – ebenso wie das Grundstück der Klägerin – im Geltungsbereich des Bebauungsplans „Gewerbegebiet S...“ der Gemeinde S... in der Fassung der 2. Änderung vom 8. Juli 1996 (im Folgenden: Bebauungsplan). Für die Art der baulichen Nutzung setzt der Bebauungsplan ein Gewerbegebiet gemäß § 8 BauNVO fest, wobei nach der Festsetzung Nr. 1.1.1.1 öffentliche Betriebe nicht zulässig sind. Unter dem 28. März 2022 wurde der Beigeladenen die Genehmigung erteilt, auf dem gleichfalls im Gewerbegebiet belegenen Grundstück mit der Anschrift A...eine Anlage zur Zwischenlagerung und zum Umschlag von Abfall zu betreiben. Ansonsten befinden sich in einem Radius von 1.000 m um die Anlage keine nach dem Bundes-Immissionsschutzgesetz genehmigten Anlagen.
Mit Bescheid vom 2. Februar 2018 erteilte der Beklagte der Beigeladenen die streitgegenständliche Genehmigung zur Errichtung und zum Betrieb einer Anlage zur zeitweiligen Lagerung und Behandlung von gefährlichen und nicht gefährlichen Abfällen gemäß Nrn. 8.12.1.2 bzw. 8.12.2 und Nrn. 8.11.2.4 bzw. 8.11.2.2 des Anhangs 1 zur 4. BImSchV. Der Genehmigung zufolge ist es der Beigeladenen gestattet, auf dem Betriebsgelände eine Menge von maximal 549,9 t Abfall zu lagern, wobei gefährliche Abfälle im Umfang von maximal 49,9 t umfasst sein dürfen. Pro Tag dürfen maximal 200 t nicht gefährliche und 9,9 t gefährliche Abfälle in der Anlage behandelt werden. Die genehmigte Jahresdurchsatzmenge beträgt 41.175 t. Der Betrieb ist werktags (Mo – Sa) von 6 bis 22 Uhr erlaubt, wobei die Anlage tatsächlich zwischen 6 und 18 Uhr betrieben wird.
Das Betriebsgrundstück hat eine Fläche von 7.175 m². Die Anlage besteht aus einer 741 m² großen Lager- und Sortierhalle, die an ihrer Nord- und Südseite jeweils mit einem Tor versehen ist, das die Ein- / Ausfahrt von Lkw ermöglicht. Neben Flächen zur Sortierung von Abfällen enthält die Halle jeweils ein Lager für gefährliche und eines für nicht gefährliche Abfälle. Außerhalb der Halle befinden sich an deren Westseite nach oben und vorne offene Schüttboxen, deren Seitenwände vier Meter hoch sind und die zur Lagerung von Holz, Boden, Mutterboden bzw. Sand oder auch Kleinlieferungen von Bauschutt genutzt werden können. Im Außenbereich der Anlage befinden sich an der westlichen Grundstücksgrenze Flächen für Container mit nicht gefährlichen und mit gefährlichen Abfällen, wobei für diese zusätzlich ein Sicherstellungsbereich vorgesehen ist. Die Anlage besteht ferner aus einer Lagerfläche für Leercontainer, einem Bürocontainer sowie einer Containerwerkstatt mit einem Lager für Hilfs- und Betriebsstoffe. Der Abstand von den Schüttboxen zum Grundstück der Klägerin beträgt circa 50 Meter.
Die eingesetzten Abfälle werden in auf Lastkraftwagen geladenen Containern auf das Betriebsgrundstück gebracht. Bereits vorsortierter Abfall, u. a. auch vorsortierter Bauschutt, wird mithilfe eines Radladers in die außerhalb der Halle befindlichen Schüttboxen umgeschlagen. Noch nicht sortierte Abfälle werden auf den Lastkraftwagen in die Halle gefahren, dort abgeschüttet und sodann sortiert. Die sortierten Abfallfraktionen werden in getrennte Container gefüllt und außerhalb der Halle auf den Containerflächen, jeweils für gefährliche und nicht gefährliche Abfälle getrennt, abgestellt. Ausweislich der Antragsunterlagen sind die wesentlichen Abfallarten Bauschutt (21.500 t), Baumischabfälle (8.000 t) und Boden (3.000 t). Anhand eines geplanten Durchsatzes von 160 t pro Arbeitstag bzw. von 133 t pro Werktag prognostizierte die Beigeladene einen Fahrzeugverkehr von maximal 50 Lkw pro Tag.
Durch Fahrbewegungen und bei Abkippvorgängen sind der Genehmigung zufolge Staubemissionen zu erwarten. Allerdings würden die besonders zu Staubemissionen neigenden Abfälle innerhalb der Halle abgekippt und umgeschlagen. Wesentlicher Abfall im Freien sei Erdaushub, der durch seine Feuchte weniger zu Staubemissionen neige. Die Genehmigung enthält zahlreiche Nebenbestimmungen zur Vermeidung bzw. Minderung von Staubemissionen. Beispielsweise sind sämtliche Fahrwege auf dem Anlagengelände bei Betrieb der Anlage (einschließlich Fahrzeugverkehr), wenn diese nicht durch Niederschläge ausreichend befeuchtet sind, ständig feucht zu halten, so dass sichtbare Staubemissionen nicht auftreten; das gilt auch, soweit lediglich eine Anlieferung bzw. ein Abtransport von Material erfolgt (4.3). Ferner ist das nördliche Zufahrtstor der Sortierhalle stets geschlossen zu halten. Dieses Tor darf lediglich zur Einfahrt der Fahrzeuge geöffnet werden, die jedoch nur erfolgen darf, wenn das Tor in der südlichen Giebelseite geschlossen ist (4.5). An den Abkipp- und Lagerflächen in der Halle und im Außenbereich sind Einrichtungen zur Benetzung (Wasserbedüsung) so anzuordnen und zu betreiben, dass sie bei auftretenden bzw. zu erwartenden Staubemissionen effektiv eingesetzt werden können (z.B. fest installierte Wasserzapfstellen / Beregnungsanlagen). Insbesondere sind staubende Inputmaterialien bei der Abkippung und beim Umschlag zu befeuchten (4.6). Die Lagerhöhe der Abfälle oder anderer Materialien innerhalb der Schüttboxen ist zur Vermeidung von Abwehungen in die Nachbarschaft nur bis zur maximalen Höhe der Betonelemente (4 m) zulässig (4.8).
Der Feststellung der unteren Bauaufsichtsbehörde des L... zufolge entspricht das Vorhaben den Festsetzungen des Bebauungsplans; die Gemeinde S... hat ihr Einvernehmen erteilt.
Die Erteilung der Genehmigung wurde der Klägerin oder deren Mieterin gegenüber nicht amtlich bekannt gegeben. Die behördliche Abnahme und Inbetriebnahme der Anlage erfolgte am 9. März 2018. Bereits mit Bescheid vom 2. Juni 2017 war der vorzeitige Baubeginn zugelassen worden, der die Errichtung der Lager- und Sortierhalle sowie die Befestigung der Lagerflächen und Fahrstraßen im Außenbereich umfasste. Die Anzeige über den Baubeginn für den Neubau der Halle datiert vom 30. Juni 2017. Zu diesem Zeitpunkt war ein Schild am Zaun des Betriebsgrundstücks angebracht gewesen, mit dem auf die Dienste der Beigeladenen hingewiesen worden ist.
Mit Schreiben vom 1. Juni 2018 beschwerte sich der geschäftsführende Gesellschafter der Klägerin W... bei der Handwerkskammer Frankfurt (Oder) über den Betrieb der Beigeladenen. Eine weitere telefonische Beschwerde von Herrn ___ erfolgte am 27. Juli 2018 beim Beklagten. Von den Beschwerden – erstere ist dem Beklagten von der Handwerkskammer weitergeleitet worden – wurde die Beigeladene in Kenntnis gesetzt.
Gegen die Genehmigung erhob die Klägerin am 1. März 2019 Widerspruch und begründete diesen mit Schriftsatz vom 29. März 2019.
Am 5. Juli 2019 hat die Klägerin wegen der Nichtbescheidung ihres Widerspruchs Untätigkeitsklage zum Verwaltungsgericht erhoben.
Am 7. Januar 2020 hat der Beklagte einen ablehnenden Widerspruchsbescheid erlassen.
Das Verwaltungsgericht hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 11. Mai 2020 mit Blick auf § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 VwGO an das Oberverwaltungsgericht verwiesen, da die Anlage auch die Lagerung / Behandlung gefährlicher Abfälle umfasse.
Die Klägerin meint, die Klage sei zulässig, insbesondere sei Verwirkung nicht eingetreten. Die Klage sei auch begründet: Der Betrieb der Bauschuttrecyclinganlage sei im Gewerbegebiet generell unzulässig und verletze ihren Gebietserhaltungsanspruch. Anders als in der Genehmigung festgelegt, erfolge die Entlüftung der Halle nach dem „Durchzugprinzip“, beide Tore seien zeitweise gleichzeitig offen. Entgegen der Festlegung sei auch das nördliche Tor fast immer offen und werde zum Herausfahren des sortierten Materials genutzt. Die Anlage sei auch aufgrund der Festsetzungen des Bebauungsplans unzulässig, weil es sich um einen öffentlichen Betrieb handele.
Sie beantragt,
den Genehmigungsbescheid des Beklagten vom 2. Februar 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. Januar 2020 aufzuheben, und
die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren für notwendig zu erklären.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
hilfsweise,
zum Beweis der Behauptung, dass das vom Beklagten mit Datum vom 2. Februar 2018 zugunsten der Beigeladenen genehmigte Vorhaben gebietsverträglich und immissionsschutzrechtlich zulässig ist, die Durchführung eines Ortstermins auf dem Betriebsgelände der Beigeladenen in S... einschließlich der Inaugenscheinnahme des Bürogebäudes der Klägerin.
Die Klage sei bereits unzulässig. Die Klägerin habe nicht rechtzeitig Widerspruch eingelegt, weswegen Verwirkung eingetreten sei; die Klägerin habe die Genehmigung spätestens am 9. März 2018 kennen müssen, dem Tag der behördlichen Abnahme der Anlage. Das Schreiben der Handwerkskammer vom 11. Juni 2018 sei jedenfalls kein Widerspruchsschreiben; spätestens mit Zugang seines Antwortschreibens vom 19. Juli 2018 habe die Klägerin von der Existenz der Genehmigung gewusst. Wegen der besonderen Umstände, insbesondere unter Berücksichtigung des nachbarschaftlichen Gemeinschaftsverhältnisses – die Beigeladene müsse doch wissen, ob ein Widerspruch eingelegt sei –, sei hier von Verwirkung deutlich vor Ablauf der Jahresfrist auszugehen. Die Klage sei auch unbegründet. Zwar gebe es Verstöße beim Betrieb der Anlage, das ändere aber nichts an der Rechtmäßigkeit der Genehmigung; um die Einhaltung der Nebenbestimmungen der Genehmigung zu gewährleisten, seien bereits Zwangsgelder angedroht worden. Hinsichtlich der bauplanungsrechtlichen Bedenken der Klägerin sei erneut die untere Bauaufsichtsbehörde beteiligt worden, die nach wie vor von der Gebietsverträglichkeit der Anlage ausgehe. Gewerbegebiete kämen für Anlagen, die im vereinfachten Genehmigungsverfahren genehmigt würden, in Betracht. Es erfolge im Bauplanungsrecht keine Anknüpfung an das Verfahrensrecht des Bundes-Immissionsschutzgesetzes, das würde mit § 15 Abs. 3 BauNVO auch nicht vereinbar sein. Deshalb komme es stets darauf an, ob eine Anlage im konkreten Einzelfall bei funktionsgerechter Nutzung nach ihrer Art und Betriebsweise dauerhaft und zuverlässig keine erheblichen Belästigungen befürchten lasse. Hier liege wegen der Einhausung der Anlage ein atypischer Fall vor. Hinsichtlich der Festsetzung „öffentlicher Betrieb“ im Bebauungsplan sei der Drittschutz fraglich, außerdem sei der Betrieb der Beigeladenen ein solcher der gewerblichen Wirtschaft.
Die Beigeladene beantragt,
die Klage abzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten wird ergänzend auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsvorgänge des Beklagten (2 Ordner und 1 Hefter) Bezug genommen.
Die Klage hat Erfolg.
A.
Die ursprünglich als Untätigkeitsklage erhobene und nach Erlass des Widerspruchsbescheides als Anfechtungsklage fortgeführte Klage ist zulässig, insbesondere ist das Widerspruchsverfahren gemäß § 68 Abs. 1 Satz 1 VwGO ordnungsgemäß durchgeführt worden; weder war der Widerspruch vom 1. März 2019 wegen unzulässiger Rechtsausübung unzulässig noch hatte die Klägerin ihr Widerspruchsrecht zum Zeitpunkt der Einlegung des Rechtsbehelfs (materiellrechtlich) verwirkt.
Für das Baunachbarrecht ist anerkannt, dass dann, wenn die für den Lauf der Widerspruchsfrist maßgebende Bekanntgabe des Verwaltungsakts an einen Drittbetroffenen unterblieben ist, die Ausübung des Widerspruchs gegen Treu und Glauben verstoßen kann, mit der Folge, dass der Widerspruch zwar nicht wegen Verfristung, jedoch wegen unzulässiger Rechtsausübung unzulässig ist. Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung muss sich der Nachbar von dem Zeitpunkt an, von dem er von der erteilten Baugenehmigung zuverlässig Kenntnis erlangt hat oder zuverlässige Kenntnis hätte haben müssen, weil sich ihm das Vorliegen der Baugenehmigung aufdrängen musste und es ihm möglich und zumutbar war, sich darüber Gewissheit zu verschaffen, so behandeln lassen, als sei ihm die Genehmigung bekannt gegeben worden (grundlegend: BVerwG, Urteil vom 25. Januar 1974 - IV C 2.72 -, juris Rn. 24 f. [= BVerwGE 44, 294]). Der besondere Rechtfertigungsgrund für diese Annahme liegt in dem besonderen nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnis, das von dem durch eine Baugenehmigung drittbetroffenen Nachbarn verlangt, aktiv daran mitzuwirken, dass wirtschaftliche Schäden und Vermögensverluste, die dem Bauherrn mit der Verzögerung seines Vorhabens durch eine Drittklage drohen können, möglichst gering gehalten werden, und ihm deshalb zumutet, seine Einwendungen gegen das Vorhaben ohne Zögern mit den verfahrensrechtlich verfügbaren Mitteln geltend zu machen. Ab dem Zeitpunkt, in dem Kenntnis erlangt worden ist bzw. hätte erlangt werden müssen, beginnt die Jahresfrist nach § 58 Abs. 2 VwGO entsprechend zu laufen (BVerwG, Urteil vom 25. Januar 1974 - IV C 2.72 -, juris Rn. 25 [= BVerwGE 44, 294].
Dies ist zu unterscheiden von der unzulässigen Ausübung des materiellen Rechts, die den Widerspruch wegen Verwirkung unbegründet macht. Die Verwirkung als Hauptanwendungsfall des „venire contra factum proprium“ (Verbot widersprüchlichen Verhaltens) setzt voraus, dass seit der Möglichkeit der Geltendmachung des Rechts längere Zeit verstrichen ist und dass besondere Umstände hinzutreten, die die verspätete Geltendmachung als Verstoß gegen Treu und Glauben und damit als illoyal erscheinen lassen (BVerwG, Urteil vom 7. Februar 1974 - III C 115.71 -, juris Rn. 18 [= BVerwGE 44, 339]). In zeitlicher Hinsicht kann der Berechtigte nicht ohne weiteres entsprechend § 70 Abs. 2, § 58 Abs. 2 eine einjährige Überlegungs- und Untätigkeitsfrist in Anspruch nehmen; die Verwirkung kann auch vor Ablauf der Jahresfrist eintreten (BVerwG, Urteil vom 25. Januar 1974 - IV C 2.72 -, juris Rn. 28 f. [= BVerwGE 44, 294]). Neben dem Zeitmoment setzt Verwirkung voraus, dass der Verpflichtete infolge eines bestimmten Verhaltens des Berechtigten darauf vertrauen durfte, dass das Recht nicht mehr geltend gemacht wird (Vertrauensgrundlage), dass er tatsächlich darauf vertraut hat, dass das Recht nicht mehr ausgeübt werde (Vertrauenstatbestand) und dass er sich so eingerichtet hat, dass ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstehen würde (Vertrauensbetätigung).
Gemessen hieran war der Widerspruch der Klägerin weder wegen unzulässiger Rechtsausübung unzulässig noch hat sie ihr Widerspruchsrecht in materieller Hinsicht verwirkt, wobei davon auszugehen ist, dass die Rechtsprechung zur Verwirkung anwendbar sowie die für das Baunachbarrecht geltenden Besonderheiten auf den hiesigen Fall einer immissionsschutzrechtlichen Genehmigung, die Dritte betrifft, übertragbar sind (vgl. zu letzterem: Schenke, in: Kopp/Schenke, VwGO, 27. Aufl. 2021, § 70 Rn. 6g).
Von einer zuverlässigen Kenntniserlangung hinsichtlich der der Klägerin nicht amtlich bekannt gegebenen immissionsschutzrechtlichen Genehmigung bzw. von einem zuverlässigen Kennenmüssen ist vor Ende März / Anfang April 2018 nicht auszugehen. Der Widerspruch der Klägerin vom 1. März 2019 war damit – in Ermangelung des Ablaufs von einem Jahr – nicht wegen unzulässiger Rechtsausübung unzulässig.
Zwar ist mit Bescheid vom 2. Juni 2017 auf Antrag der Beigeladenen der vorzeitige Beginn nach § 8a BImSchG zugelassen worden; auch hat die Beigeladene hiervon ab Sommer 2017 Gebrauch gemacht. Allerdings bezog sich die Zulassung auf die Errichtung der Lager- und Sortierhalle sowie die Befestigung der Lagerflächen und Fahrstraßen im Außenbereich. Aus der Aufnahme dieser Bautätigkeit konnte die Klägerin nicht auf die zukünftige – für sie aufgrund des Lärms und Staubs störende – Nutzung des Betriebsgrundstücks für den Betrieb einer Abfallbehandlungsanlage, mithin auf das Vorliegen einer immissionsschutzrechtlichen Genehmigung, schließen. Insoweit unterscheidet sich der Fall von etwaigen Konstellationen des Baunachbarrechts, bei denen das Störpotenzial dem Baukörper selbst innewohnt. Da es sich bei der auf dem Nachbargrundstück errichteten Halle dem äußeren Erscheinungsbild nach auch um ein (bloßes) Lagerhaus hätte handeln können, bestand für die Klägerin auch so lange keine aktive Erkundigungspflicht, wie die tatsächlich beabsichtigte Nutzung und deren Störpotential nicht erkennbar waren. Auch aus dem Umstand, dass bereits vor Juni 2017 am Grundstückszaun ein Schild mit einem Hinweis auf das Unternehmen der Beigeladenen angebracht gewesen sein soll, kann nicht auf eine Pflicht nachzufragen bzw. ein Kennenmüssen hinsichtlich der dem Unternehmen erteilten immissionsschutzrechtlichen Genehmigung geschlossen werden; dies gilt schon deshalb, weil mit dem Schild lediglich die Dienste der Beigeladenen beworben worden sind, ein Hinweis auf eine konkrete Nutzung eines konkreten Grundstücks enthielt das Schild nicht. Vor diesem Hintergrund bestand auch kein Anlass für die Beigeladenen, Erkundigungen einzuholen. Erst nachdem der Beklagte die Anlage am 9. März 2018 abgenommen hatte, nahm die Beigeladene den Betrieb entsprechend der erteilten Genehmigung auf. Aber auch eine Verwirkung des materiellen Widerspruchsrechts, der in zeitlicher Hinsicht womöglich eine kürzere Zeitspanne seit der Kenntniserlangung zugrunde zu legen wäre, kommt nicht in Betracht. Eine Vertrauensgrundlage, wie sie für das die Verwirkung kennzeichnende Umstandsmoment erforderlich ist, hat nicht bestanden. Bereits mit Schreiben vom 1. Juni 2018 – d. h. 2 Monate nach Inbetriebnahme der Anlage – hat sich W..., einer der geschäftsführenden Gesellschafter der Klägerin, im Namen von deren Mieterin, der ___ GmbH sowie einer Reihe weiterer im Gewerbegebiet ansässiger Unternehmen mit einer Beschwerde an die Handwerkskammer Frankfurt (Oder) gewandt. Das von der Handwerkskammer weitergeleitete Schreiben hat der Beklagte mit Schreiben vom 19. Juli 2018 beantwortet, wobei die Beigeladene von den Beschwerden in Kenntnis gesetzt und von der Beklagten „daran erinnert“ worden ist, dass sie dafür Sorge tragen müsse, dass beim Betrieb ihrer Anlage die Nachbarschaft nicht belästigt werde und vorgeschriebene Staubminderungsmaßnahmen eingesetzt werden müssten. Am 13. Juli 2018 hat die Beklagte wegen der Beschwerde eine unangekündigte Kontrolle durchgeführt. Es folgte eine weitere telefonische Beschwerde von Herrn ...beim Beklagten unter dem 27. Juli 2018. Auf dieser Basis konnte die Beigeladene nicht darauf vertrauen, dass Eigentümer benachbarter Grundstücke, insbesondere auch des Nachbargrundstücks mit der Anschrift A... einen Drittwiderspruch gegen die immissionsschutzrechtliche Genehmigung nicht einlegen würden. Dass die Klägerin nicht sofort – wohl in der Hoffnung auf eine Besserung der Situation durch ein Tätigwerden des Beklagten verbunden mit einer stärkeren Kontrolle der Einhaltung der verhaltensbezogenen Staubminderungsmaßnahmen – Widerspruch eingelegt hat, kann ihr vor diesem Hintergrund nicht zum Nachteil gereichen.
B.
Die Klage ist begründet. Die der Beigeladenen am 2. Februar 2018 erteilte immissionsschutzrechtliche Genehmigung ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin dadurch in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO) (I). Dem Hilfsbeweisantrag musste das Gericht mangels Erheblichkeit nicht nachgehen (II.).
I. Die angefochtene Genehmigung verletzt die Klägerin in ihrem Anspruch auf Bewahrung der festgesetzten Gebietsart (vgl. § 6 Abs. 1 Nr. 2 BImSchG i. V. m. § 30 Abs. 1 BauGB und § 8 BauNVO, hierzu 2.). § 38 BauGB ist nicht anwendbar (1.).
1. Der Anwendung von § 30 BauGB steht hier nicht § 38 BauGB entgegen. Die Voraussetzungen der Vorschrift liegen nicht vor.
Gemäß § 38 Satz 1 BauGB sind die §§ 29 bis 37 BauGB auf Planfeststellungsverfahren und sonstige Verfahren mit den Rechtswirkungen der Planfeststellung für Vorhaben von überörtlicher Bedeutung sowie auf die auf Grund des Bundes-Immissionsschutzgesetzes für die Errichtung und den Betrieb öffentlich zugänglicher Abfallbeseitigungsanlagen geltenden Verfahren nicht anzuwenden, wenn die Gemeinde beteiligt wird; städtebauliche Belange sind zu berücksichtigen.
Die Anlage der Beigeladenen stellt keine Abfallbeseitigungsanlage im Sinne von § 38 Satz 1 2. Halbsatz BauGB, sondern eine hiervon nicht erfasste Abfallbehandlungsanlage dar. Dies ergibt sich aus den Regelungen des Abfallrechts. Nach § 3 Abs. 22 KrwG bezeichnet „Abfallentsorgung“ Verwertungs- und Beseitigungsverfahren, einschließlich der Vorbereitung vor der Verwertung oder Beseitigung. § 3 Abs. 1 Satz 2 KrWG bestimmt, dass Abfälle zur Verwertung solche sind, die verwertet werden und Abfälle, die nicht verwertet werden, Abfälle zur Beseitigung sind. Nach § 3 Abs. 23 KrWG ist Verwertung jedes Verfahren, als dessen Hauptergebnis die Abfälle innerhalb der Anlage oder in der weiteren Wirtschaft einem sinnvollen Zweck zugeführt werden, indem sie entweder andere Materialien ersetzen, die sonst zur Erfüllung einer bestimmten Funktion verwendet worden wären, oder indem die Abfälle so vorbereitet werden, dass sie diese Funktion erfüllen. Formen der Verwertung sind beispielsweise die Vorbereitung zur Wiederverwendung oder das Recycling (vgl. § 3 Abs. 24, 25 KrWG sowie Anlage 2 zum KrWG). Beseitigung ist nach § 3 Abs. 26 KrWG jedes Verfahren, das keine Verwertung ist, auch wenn das Verfahren zur Nebenfolge hat, dass Stoffe oder Energie zurückgewonnen werden (vgl. Anlage 1 zum KrWG für Beseitigungsverfahren). Nach § 28 Abs. 1 KrWG sind „Abfallbeseitigungsanlagen“ Anlagen oder Einrichtungen zur Behandlung, Lagerung oder Ablagerung von Abfällen zum Zwecke der Beseitigung. Ob eine – zeitweilige – Lagerung von Abfällen zum Zwecke der Verwertung oder der Beseitigung erfolgt, hängt davon ab, ob nach dem Konzept des Handelnden zum Zwecke späterer Verwertung oder zum Zwecke späterer Beseitigung gelagert wird. Soweit eine Anlage danach sowohl der Abfallverwertung als auch der Abfallbeseitigung dient, ist für die Einordnung als Abfallbeseitigungsanlage der Hauptzweck der Anlage maßgeblich (vgl. BVerwG, Urteil vom 26. April 2007 - 7 C 7.06 -, juris Rn.8 mit Hinweis auf die Abfallrahmenrichtlinie [RL 75/442/EWG] und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs; vgl. auch § 28 Abs. 1 Satz 2 KrWG)
Hieran gemessen handelt es sich bei der Anlage der Beigeladenen um eine Abfallverwertungsanlage. Hauptzweck der Anlage der Beigeladenen ist die Verwertung von Abfällen. Zwar müssen einige der in der Anlage zugelassenen Abfälle nach Behandlung (hier Aussortierung) bzw. Lagerung in der Anlage der Beigeladenen der Beseitigung durch ein drittes Unternehmen zugeführt werden. Allerdings handelt es sich um Abfälle im Umfang von circa 1.130 t (insbes. Baustoffe auf Gipsbasis, inkl. solcher, die durch gefährliche Stoffe verunreinigt sind; Aufsaug- und Filtermaterialien, durch gefährliche Stoffe verunreinigte Wischtücher und Schutzkleidung; Dämmmaterial, auch solches, das aus gefährlichen Stoffen besteht oder solche enthält; asbesthaltige Baustoffe). Der Anteil dieser Abfälle ist angesichts des Jahresdurchsatzes von 41.175 t gering. Die übrigen von der Beigeladenen behandelten und / oder gelagerten Abfälle sind solche, die entweder ausschließlich als Abfälle zur Verwertung zu qualifizieren sind oder Abfallgemische, die nach Sortierung ganz überwiegend einer Verwertung zugeführt werden. Dies stimmt überein mit der von dem Beklagten im Genehmigungsverfahren vorgenommen Beurteilung, wonach die Entsorgung der Abfälle bei Einhaltung der Verwertungskriterien nach Anlage 2 zum KrWG als Verwertungsverfahren R 12 und R 13 eingestuft wird (vgl. Nr. 31 der Hinweise zum Genehmigungsbescheid). Danach werden die Abfälle in der Anlage der Beigeladenen entweder ausgetauscht, um sie einem der in R 1 bis R 11 der Anlage 2 zum KrWG genannten Verwertungsverfahren zuzuführen, oder die Abfälle werden bis zur Anwendung einer der in R 1 bis R 12 der Anlage 2 aufgeführten Verfahren gelagert, wobei es sich nicht um eine zeitweilige Lagerung bis zur Sammlung auf dem Gelände der Entstehung der Abfälle handelt. Der Code R 12 schließt nach der Fußnote 4 der Anlage 2 zum KrWG vorbereitende Verfahren, wie beispielsweise die hier erfolgende Sortierung, vor Anwendung eines der in R 1 bis R 11 aufgeführten Verfahren ein. Das deckt sich mit den Angaben des technischen Betreuers der Beigeladenen im Termin zur mündlichen Verhandlung, wonach der ganz überwiegende Teil der Abfälle nach dem Abtransport von der Anlage einer energetischen oder sonstigen Verwertung zugeführt werde.
Davon abgesehen ist die Entsorgungsanlage der Beigeladenen aber auch nicht „öffentlich zugänglich“ im Sinne von § 38 BauGB.
Durch die Beschränkung auf öffentlich zugängliche Abfallbeseitigungsanlagen wird sichergestellt, dass nicht sämtliche im Verfahren nach dem Bundes-Immissionsschutzgesetz zu genehmigenden Abfallanlagen der Wirtschaft an der Privilegierung des § 38 BauGB, der die bauplanungsrechtlichen Vorgaben der §§ 29 bis 37 BauGB (weitgehend) außer Kraft setzt, teilhaben (vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 13. September 1994 - 7 B 11901/94 -, NVwZ 1995, 290, 291; Runkel, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, 143. EL Stand August 2021, § 38 Rn. 43; Rieger, in Schrödter, BauGB 9. Aufl. 2019, § 38 Rn. 32; Dippel, NVwZ 1999, 921, 927; in der Tendenz ebenso: Kraft, in BeckOK Spannowsky/Uechtritz, 54. Ed. Stand 1. August 2021, § 38 Rn. 17; a. A.: Hölscher, NVwZ 1998, 1134, 1136). Voraussetzung ist daher zum einen, dass Private, Einzelpersonen wie auch Unternehmen, ihre Abfälle anliefern können, dass die Anlage also nicht nur der Abfallentsorgung des Betreibers oder einem engen Kreis von Betrieben dient. Zum anderen setzt das Kriterium öffentlicher Zugänglichkeit voraus, dass dann, wenn die Anlage nicht unmittelbar vom öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträger betrieben wird, der private Dritte von diesem beauftragt worden ist oder die Anlage aufgrund einer öffentlich-rechtlichen Pflichtenübertragung betreibt. Denn die Anwendung der Privilegierung des § 38 BauGB auf private Träger ist nur im Falle dauerhafter Sicherung des Gemeinwohlzwecks gerechtfertigt, was eine rein faktische Bestimmung der öffentlichen Zugänglichkeit ausschließt.
Dies zugrunde gelegt, stellt sich die Anlage der Beigeladenen nicht als öffentlich zugänglich dar. Zwar kann ein potentiell unbegrenzter Kreis von Personen Abfälle durch die Beigeladene am Ort der Entstehung abholen und in der Anlage anliefern lassen. Insofern dürfte es keine Rolle spielen, dass die Kunden der Beigeladenen das Betriebsgelände ganz überwiegend nicht persönlich betreten, sondern eine die Abholung einschließende Entsorgung der Abfälle bei der Beigeladenen beauftragen. Allerdings sind der Beigeladenen vom öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträger weder Pflichten übertragen worden noch ist sie kraft Beauftragung in die öffentliche Abfallentsorgung eingebunden.
2. Die Abfallbehandlungs- und Abfalllagerungsanlage der Beigeladenen ist in dem im Bebauungsplan der Gemeinde S... festgesetzten Gewerbegebiet nicht zulässig. Da es sich um eine erheblich belästigende, also industriegebietstypische Anlage handelt, ist der Gebietserhaltungsanspruch der Klägerin verletzt (a.). Auch ist für eine behördliche Befreiung von der Festsetzung der Gebietsart rechtlich kein Raum (b.).
a) Nach § 6 Abs. 1 Nr. 2 BImSchG kann eine immissionsschutzrechtliche Genehmigung nur erteilt werden, wenn dem Betrieb der Anlage andere öffentlich-rechtliche – so auch bauplanungsrechtliche – Vorschriften nicht entgegenstehen.
Nach § 30 Abs. 1 BauGB ist im Geltungsbereich eines Bebauungsplans, der allein oder gemeinsam mit sonstigen baurechtlichen Vorschriften mindestens Festsetzungen über die Art und das Maß der baulichen Nutzung, die überbaubaren Grundstücksflächen und die örtlichen Verkehrsflächen enthält, ein Vorhaben zulässig, wenn es diesen Festsetzungen nicht widerspricht und die Erschließung gesichert ist. Gemäß § 1 Abs. 3 BauNVO können im Bebauungsplan die in § 1 Abs. 2 BauNVO bezeichneten Baugebiete festgesetzt werden. Durch die Festsetzung werden die Vorschriften der §§ 2 bis 14 BauNVO Bestandteil des Bebauungsplans (vgl. § 1 Abs. 3 Satz 2 BauNVO), soweit nicht auf Grund der Absätze 4 bis 10 von § 1 BauNVO etwas anderes bestimmt wird. Gemäß § 8 Abs. 1 BauNVO dienen Gewerbegebiete vorwiegend der Unterbringung von nicht erheblich belästigenden Gewerbebetrieben.
Die Festsetzung von Baugebieten durch einen Bebauungsplan hat grundsätzlich nachbarschützende Funktion zugunsten der Planbetroffenen. Das bedeutet, dass sich ein Nachbar im Plangebiet auch dann gegen die Zulassung einer gebietswidrigen Nutzung wenden kann, wenn er durch sie selbst nicht unzumutbar beeinträchtigt wird. Im Rahmen des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses soll jeder Planbetroffene das Eindringen einer gebietsfremden Nutzung und damit die schleichende Umwandlung des Baugebiets verhindern können (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. September 1993 - BVerwG 4 C 28.91 -, juris Rn. 23 [= BVerwGE 94, 151] zu § 12 BauNVO; BVerwG, Beschluss vom 2. Februar 2000 - 4 B 87.99 -, juris, Rn. 9). Der Eigentümer eines Grundstücks im durch Bebauungsplan festgesetzten Gewerbegebiet hat daher kraft Bundesrechts einen Abwehranspruch gegen die Genehmigung eines i. S. d. § 8 Abs. 1 BauNVO – seiner Art nach – erheblich belästigenden und daher nur in einem Industriegebiet nach § 9 BauNVO allgemein zulässigen Gewerbebetriebs. Darauf, ob die von dem Gewerbebetrieb ausgehenden Belästigungen unzumutbar i. S. d § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO oder erheblich i. S. d. § 5 Abs. 1 Nr. 1 BImSchG sind, kommt es – anders als bei den Abwehransprüchen von Betroffenen außerhalb des Gebiets – für den Schutz des Gebiets gegen „schleichende Umwandlung“ nicht an.
Der Begriff des „nicht erheblich belästigenden Gewerbebetriebs“ kann nicht in eine qualitative Beziehung, bspw. zur Definition von „erheblichen Belästigungen“ im Bundes-Immissionsschutzgesetz, gebracht werden; er soll vielmehr eine sinnvolle Abstufung der verschiedenen Baugebiete gewährleisten: In Mischgebieten haben Gewerbebetriebe und das Wohnen (noch) gleichberechtigt nebeneinander ihren Standort, Gewerbegebiete dienen bereits vorwiegend der Unterbringung von Gewerbebetrieben (aller Art) unter gleichzeitigem Ausschluss der üblichen Wohnnutzung und Industriegebiete sind ausschließlich als Standort von Gewerbebetrieben und zwar vorwiegend solchen, die in anderen Baugebieten unzulässig sind, vorgesehen. Funktion des Gewerbegebiets als vielgestaltiges „Auffang-Baugebiet“ ist die Unterbringung nicht erheblich störender Betriebe des Handwerks sowie von Dienstleistungsbetrieben einschließlich Tankstellen, Geschäfts-, Büro- und Verwaltungsgebäuden sowie Lagerplätzen und -häusern bzw. von Gewerbebetrieben aller Art (vgl. § 8 Abs. 2 BauNVO). Die Kategorie umfasst nach ihrem Wortlaut sämtliche gewerblichen Nutzungen, die mit Rücksicht auf das Wohnen wegen ihres Störgrades nicht mehr ohne weiteres mischgebietsverträglich sind, ohne andererseits so zu belästigen, dass sie nur in einem Industriegebiet zulässig sind (BVerwG, Beschluss vom 8. November 2004 - 4 BN 39.04 -, juris Rn. 21).
Die immissionsschutzrechtliche Genehmigungsbedürftigkeit einer Anlage ist Ausgangspunkt für die Frage, ob ein Gewerbebetrieb den im Gewerbegebiet zulässigen Störgrad „nicht erheblich belästigend“ einhält. Bei solchen Anlagen darf und muss – da die immissionsschutzrechtliche Genehmigungsbedürftigkeit ein anlagentypisches Gefährdungspotential kennzeichnet – in aller Regel ein konkretes, die Gebietsprägung beeinträchtigendes Störpotential unterstellt werden. Allerdings ist die Zulässigkeit der Anlagen in den Baugebieten nach § 15 Abs. 3 BauNVO nicht allein nach den verfahrensrechtlichen Einordnungen des Immissionsschutzrechts zu beurteilen (sog. eingeschränkte typisierende Betrachtungsweise; vgl. BVerwG, Urteil vom 24. September 1992 - 7 C 7.92 -, juris Rn. 12, 15; Beschluss vom 2. Februar 2000 - 4 B 87.99 -, juris Rn. 10). Vielmehr fordert die baurechtliche Beurteilung eines gewerblichen Vorhabens eine Vorausschau, die nicht nur die aktuellen Störwirkungen des Betriebs für seine Umgebung einbezieht, sondern auch diejenigen Beeinträchtigungen, die künftig selbst bei funktionsgerechter Nutzung der Anlage eines entsprechenden Betriebstyps nicht auszuschließen sind (VGH BaWü, Urteil vom 17. Juni 1999 - 10 S 44/99 -, juris, Rn. 18), wobei sich die Überschreitung aus der besonderen Störintensität, aber auch, beispielsweise bei besonders gefährlichen Betrieben, aus einer sonstigen Unverträglichkeit ergeben kann (Fickert/Fieseler, BauNVO, 13. Aufl. 2019, § 8 Rn. 3.1). Ein konkretes, die Gebietsprägung beeinträchtigendes Störpotential kann dann nicht unterstellt werden, wenn die jeweilige Anlage in der Weise atypisch ist, dass sie nach ihrer Art und Betriebsweise von vornherein keine Störungen befürchten lässt und damit ihre Gebietsverträglichkeit dauerhaft und zuverlässig sichergestellt ist (BVerwG, Urteil vom 24. September 1992 - 7 C 7.92 -, juris Rn. 15; VGH BaWü, Urteil vom 17. Juni 1999 - 10 S 44/99 -, juris, Rn. 18).
Hieran gemessen stellt die Abfalllagerungs- und Abfallbehandlungsanlage der Beigeladenen einen nicht gebietsverträglichen – industriegebietstypischen – Gewerbebetrieb dar.
Nach dem Bebauungsplan 1/91 „Gewerbegebiet Schöneiche-Nord“ ist für das Baugebiet, in dem die Grundstücke der Klägerin und der Beigeladenen belegen sind, gemäß § 8 BauNVO i. V. m. § 1 Abs. 5, 6 BauNVO ein Gewerbegebiet festgesetzt. Von einer Prüfung der Wirksamkeit des Bebauungsplans kann der Senat – Fehler insoweit sind auch nicht geltend gemacht – absehen. Selbst wenn der Bebauungsplan unwirksam sein sollte, wäre § 8 BauNVO anwendbar, weil es sich bei dem Gebiet auch faktisch der Eigenart nach unstreitig um ein Gewerbegebiet handelt (vgl. § 34 Abs. 2 BauGB).
Für die bauplanungsrechtliche Beurteilung der Gebietsverträglichkeit der genehmigten Anlage am Maßstab des § 8 Abs. 1 BauNVO ist zunächst von ihrer immissionsschutzrechtlichen Einordnung auszugehen. Bei der Anlage der Beigeladenen handelt es sich um eine Anlage zur Behandlung und Lagerung von gefährlichen und nicht gefährlichen Bauabfällen (insbes. Bauschutt, Baumischabfälle, Boden), die gem.§ 4 BImSchG i.V.m. § 1 4. BImSchV und Nrn. 8.12.1.2 bzw. 8.12.2 und Nrn. 8.11.2.4 bzw. 8.11.2.2, jeweils Spalte 2 des Anhangs 1 zur 4. BImSchV, im vereinfachten Verfahren gem. § 19 BImSchG genehmigungsbedürftig ist.
Immissionsschutzrechtlich genehmigungsbedürftigen Abfallbehandlungsanlagen dieser Art wohnt typischerweise ein konkretes Störpotential inne. Gemäß § 4 Abs. 1 S. 1 BImSchG bedürfen die Errichtung und der Betrieb gewerblicher Anlagen, die aufgrund ihrer Beschaffenheit oder ihres Betriebs in besonderem Maße geeignet sind, u. a. schädliche Umwelteinwirkungen hervorzurufen, sowie von ortsfesten Abfallentsorgungsanlagen zur Lagerung oder Behandlung von Abfällen einer Genehmigung. Abfallentsorgungsanlagen werden den übrigen genehmigungsbedürftigen Anlagen nach dem Bundes-Immissionsschutzgesetz danach zwar gleichgestellt, ohne die Genehmigungsbedürftigkeit ausdrücklich von einem Umweltgefährdungspotential abhängig zu machen. Bei verständiger Auslegung ist aber davon auszugehen, dass der Verordnungsgeber der 4. BImSchV auch insoweit mit konstitutiver Wirkung unter Berücksichtigung des Umweltgefährdungspotenzials über die Genehmigungsbedürftigkeit entscheidet (Feldhaus in: Feldhaus, Bundesimmissionsschutzrecht, 59. Update Dezember 2021/220. AL, II. Entstehungsgeschichte des Rechts der genehmigungsbedürftigen Anlagen mit Begründung der Bundesregierung zu den wichtigsten jeweiligen Änderungen, Rn. 20; vgl. auch Dietlein, in: Landmann/Rohmer, Umweltrecht, Stand: 96. EL September 2021, § 4 Rn. 38). Dies hat er mit den die Genehmigungsbedürftigkeit begründenden Tatbeständen und Schwellenwerten des Anhangs 1 der 4. BImSchV getan. Daraus folgt zugleich, dass der Betrieb derartiger Abfalllagerungs- und -behandlungsanlagen in einem Gewerbegebiet regelmäßig ein erhebliches bauplanungsrechtliches Konfliktpotential in sich birgt (vgl. auch VGH BaWü, Urteil vom 17. Juni 1999 - 10 S 44/99 -, juris, Rn. 17).
Auch dem Betrieb der Beigeladenen wohnt ein konkretes, die Gebietsprägung beeinträchtigendes Störpotential inne. Dies folgt insbesondere daraus, dass bei einer Anlage der hier genehmigten Größe, in der täglich ein hoher Durchsatz von bis zu 200 t nicht gefährlicher Abfälle und 9,9 t gefährlicher Abfälle behandelt werden darf (Jahresdurchsatzmenge 41.175 t) und bei der der Anteil an Bauschutt (21.500 t) und Baumischabfällen (8.000 t) beinahe 75 % beträgt, mit einer Staubentwicklung zu rechnen ist, die sie erheblich von anderen, in einem Gewerbegebiet zulässigen Gewerben unterscheidet und deren Störpotential grundsätzlich nicht gebietsverträglich ist. Hinzu kommt das Gefährdungspotential, das aus der beantragten und zugelassenen Lagerung (max. 49,9 t) und Behandlung (9,9 t/d) auch gefährlicher Abfälle in einer nur geringfügig unter den Schwellen für ein Verfahren mit Öffentlichkeitsbeteiligung (vgl. Nr. 8.11.2.1 bzw. 8.12.1.1 des Anhangs 1 der 4. BImSchV) liegenden Größenordnung resultiert. Die Abfalllagerungs- und Abfallbehandlungsanlage der Beigeladenen ist auch unter Berücksichtigung der Maßgaben der Genehmigung nicht in der Weise atypisch, dass sie nach ihrer Art und Betriebsweise von vornherein keine Störungen befürchten lässt; ihre Gebietsverträglichkeit ist nicht dauerhaft und zuverlässig sichergestellt.
Eine Atypik der Anlage ergibt sich insbesondere nicht aus der Tatsache, dass ein erheblicher Teil der Betriebsabläufe innerhalb der Lager- und Sortierhalle stattfindet. Eine Einhausung störender Betriebsprozesse erscheint zwar grundsätzlich geeignet, der Gebietsverträglichkeit entgegenstehende Staubemissionen dauerhaft und zuverlässig zu vermeiden. Dies setzt allerdings voraus, dass die immissionsträchtigen Betriebsprozesse tatsächlich nur innerhalb des Gebäudes stattfinden und dass die genehmigte Einhausung eine erhebliche Belästigung umliegender Grundstücke mit Immissionen tatsächlich dauerhaft und zuverlässig verhindern kann. Beides ist hier nicht der Fall.
Zum einen wird ein (wenn auch deutlich kleinerer) Teil des besonders zu Staubbildung neigenden Abfalls (insbes. vorsortierter Bauschutt) außerhalb der Lager- und Sortierhalle direkt von den Lastkraftwagen in nach oben und vorne offene Schüttboxen abgekippt bzw. umgeschlagen. Dass die zur Reduzierung der damit verbundenen Staubentwicklung vorgesehene Berieselung jedenfalls bei sommerlich heißen Temperaturen Staubemissionen nicht verhindern kann, hat der im Termin zur mündlichen Verhandlung zu den Betriebsabläufen angehörte Geschäftsführer der Beigeladenen selbst eingeräumt.
Zum anderen ist es der Beigeladenen erlaubt, während des Betriebs stets ein Tor der Lager- und Sortierhalle geöffnet zu halten, obwohl in dieser nach der Genehmigung rund 200 Tonnen Abfall täglich behandelt werden dürfen, von denen - wie bereits angeführt - der überwiegende Teil zu erheblicher Staubbildung neigt. Ein Austritt von Staub kann – auch angesichts des hohen Durchsatzes - zwar durch die Einhausung verringert, aber nicht verhindert werden. Entsprechendes gilt für die in der Halle vorhandene Berieselungsanlage. Eine inzwischen wohl ebenfalls vorhandene Abluftanlage ist nicht Gegenstand der Genehmigung und deshalb hier nicht zu berücksichtigen. Im Übrigen handelt es sich bei der Bestimmung, wonach eine der beiden Türen stets geschlossen bleiben muss, um eine verhaltensbezogene Auflage. Soweit sich die Beigeladene darauf beruft, schon aus Gründen des Arbeitsschutzes dürfe es in der Halle und deren Umgebung nicht zu einer unzumutbaren Staubentwicklung kommen, handelt es sich nicht um genehmigungsbedingte Vorkehrungen, die zu einer Gebietsverträglichkeit führen.
Die der Beigeladenen aufgegebenen Vorkehrungen zur Begrenzung der Staubemissionen sind nicht geeignet, das gebietsunverträgliche Störpotential des Anlagenbetriebs dauerhaft und sicher zu bewältigen. Die den Immissionsschutz betreffenden Nebenbestimmungen – wie beispielsweise die Reinigung der Fahrwege bei Verschmutzung, das ständige Befeuchten der Fahrwege, die Vermeidung bzw. Beseitigung von Verschmutzungen, das Geschlossenhalten des nördlichen Zufahrtstores sowie die Öffnung nur für die Einfahrt von Fahrzeugen, dies jedoch nur nach vorheriger Schließung des südlichen Tors, die Einstellung des Betriebs bei Ausfall der Wasserbedüsungseinrichtungen bzw. der Wasserbereitstellung – sind zum ganz überwiegenden Teil verhaltensbezogen. Die Einhaltung dieser Nebenbestimmungen setzt ein arbeitsintensives Tätigwerden von Betriebsangehörigen der Beigeladenen und deren wirksame Beaufsichtigung voraus. Als anlagenbezogen können lediglich die Bereitstellung einer Wasserentnahmestelle mit ausreichender Wasserbereitstellungsmenge sowie die Installation einer Wasserbedüsungseinrichtung an den Abkipp- und Lagerflächen in der Halle und im Außenbereich angesehen werden, wobei auch hier davon auszugehen ist, dass für die entsprechende Steuerung Personal zum Einsatz kommt (vgl. zum Ganzen VGH BaWü, Urteil vom 17. Juni 1999 - 10 S 44/99 -, juris, Rn. 23). Durch die verhaltensbezogenen Nebenbestimmungen können – dies zeigt im Übrigen die Betriebspraxis seit Aufnahme der Tätigkeit, die ein Einschreiten des Beklagten schon mehrfach erforderlich gemacht hat – Störungen nicht von vornherein ausgeschlossen und die Gebietsverträglichkeit nicht dauerhaft und zuverlässig sichergestellt werden.
b) Eine im pflichtgemäßen Ermessen der Genehmigungsbehörde stehende Befreiung gemäß § 31 Abs. 2 BauGB ist für die Anlage der Beigeladenen nicht erteilt worden. Dass eine solche hier hätte erteilt werden können, erscheint schon mit Blick auf die sich u.a. aus der Begründung zum Bebauungsplan 1993 ergebenden Grundzüge der Planung zweifelhaft, kann aber dahinstehen. Denn die Möglichkeit, die Rechtswidrigkeit durch eine nachträgliche Befreiung zu beseitigen, vermag in diesem Verfahren kein abweichendes Ergebnis zu begründen (vgl. Söfker, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, § 31 Rn. 67).
II. Dem vom Beklagten hilfsweise gestellten Antrag, zum Beweis der Behauptung, dass das Vorhaben gebietsverträglich und immissionsschutzrechtlich zulässig ist, einen Ortstermin auf dem Betriebsgelände der Beigeladenen einschließlich Inaugenscheinnahme des Bürogebäudes der Klägerin durchzuführen, musste der Senat nicht nachgehen. Der Frage ungeachtet, ob eine zu beweisende Tatsache vom Beklagten überhaupt benannt worden ist, kommt es auf den Antrag nicht entscheidungserheblich an, da das Gericht die Frage der Gebietsverträglichkeit des Vorhabens hier aufgrund der Umstände des Einzelfalles bereits anhand der ihm vorliegenden Akten und aufgrund der durchgeführten mündlichen Verhandlung abschließend beurteilen kann. Auf die Frage der immissionsschutzrechtlichen Zulässigkeit der Anlage kommt es in Ermangelung der Gebietsverträglichkeit des Vorhabens (gleichfalls) nicht an.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1, 3 VwGO.
Die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren war notwendig (vgl. § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO). Die Beauftragung eines Bevollmächtigten schon im Vorverfahren war vom Standpunkt einer verständigen, nicht rechtskundigen Partei im Zeitpunkt der Bestellung angesichts der Komplexität der bauplanungs- und immissionsschutzrechtlichen Materie erforderlich und es war den Gesellschaftern der Klägerin in Ermangelung persönlicher Rechtskunde nicht zumutbar, das Verfahren selbst zu führen.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V. m. § 708 Nr. 10, § 711 der Zivilprozessordnung.
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keiner der in § 132 Abs. 2 VwGO genannten Gründe vorliegt.