Gericht | VG Potsdam 3. Kammer | Entscheidungsdatum | 18.08.2022 | |
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Aktenzeichen | 3 L 490/22 | ECLI | ECLI:DE:VGPOTSD:2022:0818.3L490.22.00 | |
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 174 StGB, § 177 StGB, § 226 StGB, § 81 b 2 Alternative StPO |
1. Der Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz vom 11. Juli 2022 wird abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
2. Der Streitwert wird auf 2.500,00 Euro festgesetzt.
Das Passivrubrum wird von Amts wegen dahin berichtigt, dass Antragsgegner das Polizeipräsidium ist, weil gemäß § 78 Abs. 1 Nr. 2 VwGO i.V.m. § 8 Abs. 2 BbgVwGG die (hier in der Hauptsache zu erhebende) Anfechtungsklage gegen die Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen hat, zu richten ist.
1. Der sinngemäße Antrag des Antragstellers,
die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs vom 11. Juli 2022 gegen die Anordnung des Beklagten vom 29. Juli 2022 wiederherzustellen,
hat keinen Erfolg.
a) Die Anordnung der sofortigen Vollziehung entspricht (noch) den formellen Anforderungen nach § 80 Abs. 3 VwGO, wonach in den Fällen des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsaktes schriftlich zu begründen ist. Zwar darf sich die Begründung nicht auf eine formularmäßig verwandte allgemeine Begründung, die Verwendung stereotyper, formelhafter, allgemeiner und daher nichtssagender Wendungen erschöpfen (Külpmann in Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 7. Aufl. 2017, Rn. 746). Vorliegend lässt der Verweis auf das sucht- und triebbedingte Verhaltens – gemeint ist das des Antragstellers – noch einen ausreichenden Bezug zum Einzelfall erkennen und zeigt damit, dass sich die Behörde des Ausnahmecharakters des Sofortvollzugs bewusst war. Deckt sich die Begründung des besonderen Vollzugsinteresses mit der Begründung der Anordnung der erkennungsdienstlichen Behandlung teilweise – hier soweit auf die Gefahr der wiederholten Begehung von Straftaten abgestellt wird –, ist dies im Übrigen regelmäßig unschädlich, weil sich bei Gefahrenabwehrmaßnahmen aufgrund der typischerweise gesteigerten Gefährdungslage für das öffentliche Interesse eine (teilweise) Identität der Begründung schon aus der besonderen Dringlichkeit rechtfertigen lässt (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 10. Juni 2009 – OVG 1 S 97.09 – juris Rn. 3).
b) Die vom Gericht vorzunehmende Interessenabwägung fällt zu Lasten des Antragstellers aus, weil nach der im Verfahren nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO gebotenen aber auch ausreichenden summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage keine durchgreifenden Bedenken an der Rechtmäßigkeit der Anordnung der erkennungsdienstlichen Behandlung bestehen.
Die auf § 81b 2. Alt. StPO gestützte Anordnung ist formell rechtmäßig. Insbesondere ist sie auch hinsichtlich der angeordneten Maßnahme „andere Abbildung Narben, Tattoos, etc.“ inhaltlich hinreichend bestimmt, § 37 Abs. 1 VwVfG. Zwar ist für den Antragsteller weder aus dem Verwaltungsakt einschließlich seiner Begründung noch aus sonstigen ihm bekannten und ohne Weiteres erkennbaren Umständen klar und eindeutig ersichtlich (vgl. zu den Anforderungen Ramsauer in Kopp/Ramsauer, VwVfG, 22. Aufl. 2021, § 37 Rn. 5 f.; Schröder in Schoch/Schröder, Verwaltungsrecht, Stand: August 2021, § 37 VwVfG, Rn. 24), welche „andere Abbildung“ neben Narben und Tätowierungen von ihm angefertigt werden soll („etc.“). Allerdings wurde der Verstoß gegen die Bestimmtheit durch eine nachträgliche Klarstellung im Verwaltungsprozess geheilt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 21. Juni 2006 – 4 B 32.06 – juris Rn. 1). Der Antragsgegner führt in der Antragserwiderung aus, die Bezeichnung „andere Abbildungen“ erfasse Tätowierungen und „weitere auffallende oder besondere körperliche Merkmale“ (S. 2).
Die Anordnung ist voraussichtlich auch materiell rechtmäßig.
Nach § 81b Alt. 2 StPO dürfen Lichtbilder und Fingerabdrücke des Beschuldigten auch gegen seinen Willen aufgenommen und Messungen und ähnliche Maßnahmen an ihm vorgenommen werden, soweit dies für die Zwecke des Erkennungsdienstes notwendig ist. Diese Voraussetzungen liegen vor.
Die angefochtene Anordnung zur Durchführung erkennungsdienstlicher Maßnahmen nimmt darauf Bezug, dass der Antragsteller Beschuldigter in einem Strafverfahren wegen des Verdachts der Begehung von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung gemäß § 177 StGB, des sexuellem Missbrauchs von Schutzbefohlenen gemäß § 174 StGB und einer schweren Körperverletzung gemäß § 226 StGB ist. Dies bestreitet er auch nicht.
Die erkennungsdienstlichen Maßnahmen sind notwendig. Der in § 81b 2. Alt. StPO enthaltene Begriff der Notwendigkeit ist bei der Beurteilung des Einzelfalles dasjenige Tatbestandsmerkmal, das dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Rechnung trägt und eine Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an einer wirksamen Bekämpfung der Kriminalität und dem persönlichen Interesse des Betroffenen erfordert, nicht aufgrund erkennungsdienstlicher Unterlagen ungerechtfertigt in Ermittlungsverfahren verwickelt zu werden mit den vielfältigen sich daraus ergebenden Folgen. Ausgehend von dem Grundsatz, dass die Polizei nicht jeden, der einmal aufgefallen oder angezeigt worden ist, bereits deswegen als potenziellen Rechtsbrecher erkennungsdienstlich behandeln darf, muss sich die Notwendigkeit im Sinne des § 81b 2. Alt. StPO danach richten, ob der anlässlich des gegen den Betroffenen gerichteten Strafverfahrens festgestellte Sachverhalt nach kriminalistischer Erfahrung angesichts aller Umstände des Einzelfalls Anhaltspunkte für die Annahme bietet, dass der Betroffene künftig oder gegenwärtig mit guten Gründen als Verdächtiger in den Kreis potentieller Beteiligter an einer noch aufzuklärenden strafbaren Handlung einbezogen werden könnte, und dass die erkennungsdienstlichen Unterlagen die dann zu führenden Ermittlungen – den Betreffenden schließlich überführend oder entlastend – fördern könnten (BVerwG, Urteil vom 27. Juni 2018 – 6 C 39/16 – juris Rn. 22; Urteil vom 19. Oktober 1982 – 1 C 29/79 – juris Rn. 33).
Kriterien für die prognostizierende Wiederholungswahrscheinlichkeit sind insbesondere Art, Schwere und Begehungsweise der dem Betroffenen im strafrechtlichen (Anlass-) Ermittlungs- bzw. Strafverfahren zur Last gelegten Taten, seine Persönlichkeit sowie der Zeitraum, während dessen er strafrechtlich nicht (mehr) in Erscheinung getreten ist (vgl. grundlegend BVerwG, Urteil vom 19. Oktober 1982 – 1 C 29/79 – juris; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 13. Juni 2016 – OVG 1 S 71.15 – juris Rn. 12).
Die Behörde hat ihrer Entscheidung den von der Anlasstat festgestellten Sachverhalt aus dem Strafverfahren zugrunde zu legen und zum einen die daraus abzuleitenden bzw. verbliebenen Verdachtsmomente auf den konkreten Einzelfall bezogen zu begründen. Zum anderen muss sie hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte für die Gefahr dartun, dass der Betroffene zukünftig (wieder) straffällig wird.
Ausgehend von diesen Grundsätzen erweist sich die angeordnete erkennungsdienstliche Maßnahme unter dem Gesichtspunkt einer Wiederholungsgefahr als notwendig. Dies wird schon durch die Schwere und Begehungsweise der dem Antragsteller vorgeworfenen Taten untermauert. Ihm wird vorgeworfen, am 23. Juni 2022 und ca. zwei Wochen zuvor seine Stieftochter zweimal zum vaginalen Geschlechtsverkehr gezwungen und sie mehrfach im Intimbereich angefasst sowie versucht zu haben, sie zu küssen. Bei Sexualtaten handelt es sich um Straftaten von erheblichem Gewicht, die mit Freiheitsstrafen von mehreren Jahren bedroht sind, u.a. wird ihm eine Vergewaltigung nach § 177 Abs. 6 StGB und damit ein vom Gesetz regelmäßig als besonders schwer bezeichneter Fall zur Last gelegt. Auch steht eine schwere Körperverletzung gemäß § 226 StGB wegen einer möglichen HIV-Übertragung im Raum, die mit Freiheitsstrafe von bis zu zehn Jahren bedroht ist (dies gilt auch für die hier ebenfalls in Betracht kommende gefährliche Körperverletzung gemäß § 224 Abs. 1 StGB). Hinzu kommt, dass die Stieftochter erst 15 Jahre alt ist und diese dem Antragsteller anvertraut war. Ferner soll der Antragsteller ihr ein empfindliches Übel angedroht haben, indem er äußerte, weitere Freunde von sich „zu holen“, sollte sie nicht „mitmachen“ oder jemanden „von der Sache“ erzählen.
Auch dann, wenn der Antragsteller bislang strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten ist, kann von einer Einmaligkeit nicht ausgegangen werden. Den Angaben der Stieftochter zufolge soll es zu zwei (oder auch drei) Übergriffen gekommen sein, zudem soll er ihre körperliche Nähe gesucht und versucht haben, sie innerhalb von zwei Monaten fünf- bis sechsmal zu küssen.
Ferner bestärkt die Persönlichkeit des Antragstellers die Annahme einer Wiederholungsgefahr. Die kriminalistische Einschätzung des Antragsgegners, dass bei einem Sexualdelikt „regelmäßig“ von einer besonderen Veranlagung oder Neigung des Täters auszugehen ist und damit diese eine signifikant höhere Rückfallgefahr bergen, wenn nicht die Tatumstände und alle weiteren bedeutsamen Faktoren auf eine zu erwartende Einmaligkeit der Tat hindeuten, ist nicht zu beanstanden (vgl. OVG Saarland, Beschluss vom 13. März 2009 – 3 B 34.09 – juris; Bayerischer VGH, Beschluss vom 2. April 2015 – 10 C 15.304 – juris Rn. 8; OVG Sachsen, Beschluss vom 8. Juli 2015 – 3 D 33/15 – juris; VG Cottbus, Beschlüsse vom 28. Januar 2022 – 3 L 14/22 – juris Rn. 15; vom 14. Februar 2018 – 3 L 95/18 – juris Rn. 13). Von einer solchen Neigung ist angesichts der oben dargestellten Häufigkeit der dem Antragsteller zur Last gelegten Vorkommnisse auszugehen. Soweit er in diesem Zusammenhang einwendet, in der Anordnung fehlten Angaben zu seiner Person, seinem Umfeld und der Person der Geschädigten, sodass keine hinreichenden Rückschlüsse zu seiner Persönlichkeit gezogen werden könnten, trifft dies ausweislich der obigen Darstellungen und der Daten im oberen Teil auf Seite 1 der Anordnung nicht zu. Welcher weiteren Angaben zur Person es zur Darstellung der Persönlichkeit bedurft hätte, führt der Antragsteller nicht aus. Im Übrigen hat der Antragsgegner vorgetragen, dass es sich bei der Geschädigten um die 15-jährige Stieftochter handelt und ein Persönlichkeitsdefizit des Antragstellers dadurch untermauert, dass dieser das zu ihr bestehende Vertrauensverhältnis zur Befriedigung eigener Bedürfnisse ausgenutzt haben soll.
Die Abnahme von Finger- und Handflächenabdrücken ist gerade für die Taten, für die eine Wiederholungsgefahr begründet werden kann, geeignet und erforderlich, ein diesbezügliches künftiges Ermittlungsverfahren zu fördern. Durch einen Abgleich von Fingerabdrücken kann er als möglicher Täter zukünftiger Taten ermittelt werden.
Die weiter angeordneten Maßnahmen zur Erfassung des äußeren Erscheinungsbildes des Antragstellers können helfen, diesen durch Zeugen oder auf Fotos zu identifizieren oder eben aus dem Kreis der Verdächtigen (zu seinen Gunsten) auszuschließen. Der Antragsgegner hat knapp, aber (noch) nachvollziehbar ausgeführt, dass es zu weiteren sexuellen Kontaktaufnahmen auch außerhalb des familiären Umfelds des Antragstellers kommen könne. Dies deckt sich mit der kriminalistischen Einschätzung, dass die dem Antragsteller zur Last gelegten Delikte regelmäßig nicht auf den häuslichen, rein privaten Bereich beschränkt sind (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 8. Juni 2022 – OVG 1 B 3/22 – juris Rn. 12). Daher hält sich die Anordnung einer Personenbeschreibung, der Fertigung eines Lichtbildes 5-teilig, einer Ganzaufnahme sowie der weiteren, näher konkretisierten Abbildungen im Rahmen der gesetzlich geforderten Notwendigkeit.
Die angeordneten erkennungsdienstlichen Maßnahmen erweisen sich zudem im Verhältnis zur Schwere der vorgeworfenen Taten als verhältnismäßig. Da Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung gerade gegenüber Kindern ein erhebliches Gefährdungspotenzial zukommt, weil diese das Kind nicht nur aktuell gefährden, sondern zudem erhebliche Gefahren vor allem für die weitere geistige und psychische Entwicklung eines Kindes drohen, hat das Begehren des Antragstellers trotz des erheblichen Eingriffs in sein Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Alt. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) hinter dem Interesse des Antragsgegners an der Gewinnung der Unterlagen für erkennungsdienstliche Zwecke zurückzustehen.
Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass sich die prognostizierte Wiederholungsgefahr in naher Zukunft realisiert und deshalb nicht bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens mit der Durchführung der erkennungsdienstlichen Maßnahmen zugewartet werden kann, deckt sich insoweit das allgemeine Vollzugsinteresse mit dem besonderen öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
2. Der Streitwert entspricht der Bedeutung der Sache für den Antragsteller, §§ 52 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG i.V.m. Nr. 35.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit, wobei dieser im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes zu halbieren ist (vgl. ebd., Nr. 1.5).