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Entscheidung 1 K 2418/19.A


Metadaten

Gericht VG Potsdam 1. Kammer Entscheidungsdatum 27.01.2022
Aktenzeichen 1 K 2418/19.A ECLI ECLI:DE:VGPOTSD:2022:0127.1K2418.19.00
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens trägt der Kläger; Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Tatbestand

Der geborene Kläger ist eigenen Angaben nach türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit und muslimischer Religionszugehörigkeit.

Der Kläger reiste – nach seinen Angaben – am 2019 auf dem Landweg von Bosnien-Herzegowina nach Deutschland ein. Zuvor war er – wiederum nach seinen Angaben – am 2019 auf dem Luftweg aus der Türkei (I...) nach Nordmazedonien ausgereist und sodann von dort mit dem Bus in die Republik Bosnien-Herzegowina weitergereist. Am 2019 stellte der Kläger einen Asylantrag und wurde am selben Tag zur Klärung der Zuständigkeit für den gestellten Asylantrag angehört.

Bei der Anhörung zu seinen Asylgründen am 7. Juni 2019 gab er an, dass er die Türkei im Zusammenhang mit seiner Entlassung als Rekrut von einer Militärschule im Jahr 2016 verlassen habe. Nach dem Abitur habe er in der Türkei ab 2015 eine als Hochschule geltende Militärschule besucht. Es sei die Berufsfachschule für Unteroffiziere der Landstreitkräfte in B...gewesen. Die Ausbildung dort dauere zwei Jahre. Er habe sie jedoch nicht abgeschlossen, da er nach einem Jahr, nämlich nach dem Putschversuch im Juli 2016, zum 31. Juli 2016 mit allen anderen Schülern dort entlassen worden sei. Danach sei er zurück zu seinen Eltern nach O...gegangen und habe verschiedene kurzfristige Jobs angenommen, als Kellner oder auch als Aushilfe bei einem Buchhalter. 2017 sei er in den türkischen Teil Zyperns gegangen und habe dort für mehrere Monate fest bei einer Firma gearbeitet. Dann sei er aber zurückgekehrt zu seinen Eltern in die Türkei, wo er erneut Jobs angenommen habe. Er habe in einer wirtschaftlich guten Situation gelebt. Den Wehrdienst habe er nicht absolviert. Die Ausbildung an der Militärakademie wäre der Ersatz gewesen. Er befürchte, nach einer Rückkehr in die Türkei einberufen zu werden. Er sei zuletzt bis Juni 2019 zurückgestellt gewesen, da er sich an einer Universität immatrikuliert habe, um dem zu entgehen. Er habe ein Studium der Elektronik und Kommunikation aufgenommen an der Universität in K..., tatsächlich teilgenommen habe er daran aber nur ein Semester. Er befürchte, vom Wehrdienst nicht lebend zurückzukommen.

Nach dem „Rauswurf“ von der Schule sei er zunächst in Ruhe gelassen worden. Es seien zunächst nur Offiziere, dann auch Schüler des zweiten Jahrgangs zu Befragungen geladen und teilweise auch festgenommen worden. Dann sei 2019 die Polizei zu seiner Familie nach Hause kommen, als er gerade arbeiten gewesen sei. Sein Zimmer sei durchsucht und sein Computer mitgenommen worden. Es sei ein Schreiben hinterlassen worden, nach welchem er sich kurze Zeit später bei der Polizei melden sollte, um dort eine Aussage zu machen. Seitdem sei er nicht mehr nach Hause zurückgekehrt. Er sei bei verschiedenen Verwandten untergekommen. Er sei am Putschversuch nicht beteiligt gewesen. In der Türkei habe er aber Angst um sein Leben und vor dem Gefängnis. Deshalb sei er jetzt hier.

Gewisse Beziehungen habe er zur Gülen-Bewegung gehabt. Während der Gymnasialzeit habe er an Veranstaltungen in privaten Wohnungen teilgenommen. Das seien religiöse Gespräche gewesen. Es sei Hilfestellung beim Ausbildungsweg angeboten worden. Vor einer Prüfung solle er seine Personalien angeben, dann werde ihm geholfen. Zuletzt habe er in der Zeit an der Militärschule an so etwas teilgenommen, das sei aber in der Heimat gewesen, in den Ferien. Das sei wohl August/September 2015 gewesen und dann noch im Februar und April 2016. Dann sei nach dem Putschversuch die gesamte Schule geschlossen worden. Einen weiteren Kontakt zu Gülen-Anhängern habe er nicht mehr herstellen können. Maßgeblich für die Schulschließung sei das Gesetzesdekret 669 gewesen. Sie, die Militärschüler, hätten sich gerade in I...in einem Ausbildungscamp befunden; dann seien Soldaten gekommen und hätten alles gestoppt. Alles Militärische musste abgegeben werden und sie hätten auf eigene Kosten nach Hause fahren müssen.

Er habe dann auch noch eine Aufnahmeprüfung für eine Sondereinheit der Polizei (ähnlich einem Spezialeinsatzkommando) gemacht, habe diese aber nicht bestanden. Mündlich sei er in diesem Zusammenhang auf die Entlassung nach dem Dekret 669 verwiesen worden. Ein Mitschüler aus seiner Klasse bei der Militärschule sei seit zwei Jahren in Haft. Die Polizei sei dann später noch ein zweites Mal zu ihnen nach Hause gekommen und habe nach ihm gefragt. Er könne aber nicht zur Polizei gehen, weil er als verdächtig gelte. Sie könnten seine Verbindung zu Gülen herausgefunden haben, auch weil auf seinem Computer solche Hinweise gewesen seien.

Politisch sei er in der Türkei nicht aktiv gewesen. Mitglied in einer Partei ebenso wenig. Mit Freunden seien sie nach der Entlassung von der Militärschule zu Parteiversammlungen verschiedener Parteien gegangen, um auf ihre Situation und ungerechte Behandlung aufmerksam zu machen. Bei der MHP (Milliyetçi Hareket Partisi, Partei der Nationalistischen Bewegung) seien sie daraufhin bedroht worden, sie würden nicht mehr lange leben. Dies sei im September 2016 gewesen. Danach habe er sich ganz ins Privatleben zurückgezogen.

Mit Bescheid vom 30. August 2019 lehnte das Bundesamt die Anträge auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, Asylanerkennung und subsidiären Schutz ab (Ziffern 1 bis 3); zugleich stellte es fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) nicht vorliegen (Ziffer 4). Des Weiteren wurde der Kläger aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von einer 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen, im Falle einer Klageerhebung ende die Ausreisefrist 30 Tage nach dem unanfechtbaren Abschluss des Verfahrens. Sollte er die Ausreisefrist nicht einhalten, werde er in die Republik Türkei abgeschoben (Ziffer 5). Zudem wurde eine Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung verfügt (Ziffer 6). Zur Begründung wurde ausgeführt, die Voraussetzungen für die Zuerkennung des internationalen Schutzes und die Anerkennung als Asylberechtigter lägen nicht vor. Der Kläger habe nicht mit Strafverfolgung oder anderen repressiven Maßnahmen zu rechnen. Er habe keine exponierte Stellung in der Gülen-Bewegung innegehabt. Von der Schulentlassung sei die gesamte Militärschule und Schülerschaft betroffen gewesen, nicht aufgrund individuellen Zugriffs er persönlich. Die Einleitung eines strafrechtlichen Verfahrens sei nicht ersichtlich. Die Ausreise mit auf seinen Namen lautenden Papieren sei problemlos gelungen. Was die Situation nach einer Rückkehr in die Türkei angehe, so sei kaum zweifelhaft, dass der Kläger wirtschaftlich wieder werde fußfassen können. Er habe sich auch früher durch eigene Arbeit versorgen können. Schutzwürdige Belange für eine Verkürzung des Einreise- und Aufenthaltsverbots seien weder vorgetragen noch ersichtlich.

Der Kläger hat am 17. September 2019 Klage erhoben. Mit Schriftsatz seines vormaligen Prozessbevollmächtigten vom 26. Mai 2020 hat er die geltend gemachten asyl- und flüchtlingsrechtlichen Ansprüche in Wiederholung und Vertiefung des Vorbringens in der Anhörung beim Bundesamt ergänzend begründet. Er befürchte eine Verfolgung als Gülen-Anhänger wegen der Schließung der Schule nach dem Notstandsdekret.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 30. August 2019 zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, hilfsweise subsidiären Schutz zu gewähren sowie weiter hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 des Aufenthaltsgesetzes vorliegen.

Die Beklagte hat mit Schreiben vom 24. September 2019 unter Bezugnahme auf den angefochtenen Bescheid beantragt,

die Klage abzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, dort insbesondere des Protokolls der mündlichen Verhandlung vom 27. Januar 2022, und die von der Beklagten eingereichte elektronische Asylakte einschließlich des Anhörungs-protokolls vom 7. Juni 2019 Bezug genommen.

Die Kammer hat den Rechtsstreit gemäß § 6 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.

Entscheidungsgründe

Das Gericht konnte trotz Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten in der mündlichen Verhandlung in der Sache verhandeln und entscheiden, da die Beklagte mit der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist (§ 102 Abs. 2 VwGO).

Die Klage ist zulässig, aber unbegründet.

Der angefochtene Bescheid vom 30. August 2019 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO); er hat – auf Grundlage der gemäß § 77 Abs. 1 des Asylgesetzes (AsylG) maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung – weder einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 AsylG) noch auf subsidiären Schutz (§ 4 AsylG) und auch nicht auf Feststellung von Abschiebungsverboten gemäß
§ 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG oder Herabsetzung der Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots.

Mit den von ihm geltend gemachten materiellen flüchtlingsrechtlichen Ansprüchen vermag der Kläger nicht durchzudringen.

1) Der Kläger hat zunächst keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG.

a) Der Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 4 AsylG setzt voraus, dass der Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Ju-
li 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlings-Konvention - GFK) ist (vgl. § 3 Abs. 1 AsylG). Dies ist dann der Fall, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will und er keine Ausschlusstatbestände erfüllt.

Als Verfolgung im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG) oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Verfolgungshandlungen in diesem Sinne sind insbesondere die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt (§ 3a Abs. 2 Nr.1 AsylG), gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden (§ 3a Abs. 2 Nr. 2 AsylG), unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung (§ 3a Abs. 2 Nr. 3 AsylG), Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung (§ 3a Abs. 2 Nr. 4 AsylG), Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen (§ 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG) und zuletzt Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind
(§ 3a Abs. 2 Nr. 6 AsylG). Zwischen den in § 3 Abs.1 Nr. 1 AsylG in Verbindung mit den in § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den in § 3a Abs. 1 und 2 AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG).

Eine Verfolgung kann nicht nur vom Staat ausgehen (§ 3c Nr. 1 AsylG), sondern auch von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (§ 3c Nr. 2 AsylG) oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in § 3c Nr. 1 und 2 AsylG genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (§ 3c Nr. 3 AsylG). Allerdings wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (§ 3e Abs. 1 AsylG).

Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn sie aufgrund der im Herkunftsland des Ausländers gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht,

sog. „real risk“, vgl. BVerwG, Urteil vom 1. Juni 2011 - 10 C 25.10 -, juris Rn. 22.

Dies setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen als die dagegensprechenden. Dabei ist eine sog. qualifizierende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann,

vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 - 10 C 23.12 -, juris Rn. 32; OVG NRW, Urteil vom 17. August 2010 - 8 A 4063/06.A -, juris Rn. 35 ff.

Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft setzt auch voraus, dass das Gericht von der Wahrheit – und nicht etwa nur von der Wahrscheinlichkeit – des von dem Asylbewerber behaupteten individuellen Schicksals die volle Überzeugung erlangt. Insbesondere hinsichtlich der den Schutzanspruch begründenden Vorgänge im Verfolgerland darf das Gericht dabei zwar wegen der (häufig bestehenden) asyltypischen Beweisschwierigkeiten keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit verlangen, sondern muss sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen, auch wenn Zweifel nicht völlig auszuschließen sind,

BVerwG, Urteil vom 16. April 1985 - 9 C 109.84 -, juris Rn. 16.

Wenn keine weiteren Beweismittel zur Verfügung stehen, kann daher allein der Tatsachenvortrag des Asylbewerbers für eine Glaubhaftmachung ausreichen, sofern sich das Gericht von der Richtigkeit seiner Behauptungen zu überzeugen vermag. Eine Glaubhaftmachung setzt allerdings regelmäßig voraus, dass der Asylbewerber die Gründe für das Vorliegen einer Verfolgung im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG schlüssig, widerspruchsfrei und mit genauen Einzelheiten vorträgt. Der Art und Weise seiner Einlassung, seiner Persönlichkeit, insbesondere seiner Vertrauenswürdigkeit kommt insoweit entscheidende Bedeutung zu,

vgl. BVerwG, Urteil vom 12. November 1985 - 9 C 27.85 -, juris Rn. 16.

Es obliegt dem Schutzsuchenden, die Voraussetzungen glaubhaft zu machen. Er muss in Bezug auf die in seine eigene Sphäre fallenden Ereignisse und persönlichen Erlebnisse eine Schilderung abgeben, die geeignet ist, seinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft lückenlos zu tragen. Ein in diesem Sinne schlüssiges Schutzbegehren setzt im Regelfall voraus, dass der Schutzsuchende konkrete Einzelheiten seines individuellen Verfolgungsschicksals vorträgt und sich nicht auf unsubstantiierte allgemeine Darlegungen beschränkt. Er muss nachvollziehbar machen, wieso und weshalb gerade er eine Verfolgung befürchtet. An der Glaubhaftmachung von Verfolgungsgründen fehlt es regelmäßig, wenn er im Laufe des Verfahrens unterschiedliche Angaben macht und sein Vorbringen nicht auflösbare Widersprüche enthält, wenn seine Darstellungen nach der Lebenserfahrung oder auf Grund der Kenntnis entsprechender vergleichbarer Geschehensabläufe unglaubhaft erscheinen oder er sein Vorbringen im Laufe des Asylverfahrens steigert, insbesondere, wenn er Tatsachen, die er für sein Begehren als maßgebend bezeichnet, ohne vernünftige Erklärung erst spät in das Asylverfahren einführt,

vgl. BVerwG, Urteil vom 23. Februar 1988 - 9 C 273.86 -, juris Rn. 11.

Das Asylverfahren ist eine Einheit, so dass ein gegenüber den Angaben vor der Verwaltungsbehörde in gerichtlichen Verfahren vorgetragener neuer Sachverhalt regelmäßig Zweifel an der Richtigkeit dieses Vorbringens wecken wird. Dies bedeutet letztlich, dass der Ausländer unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern hat, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Heimatland zu verbleiben oder dorthin zurückzukehren.

b) Gemessen an diesen Grundsätzen und nach Auswertung der Behördenakten sowie der Erkenntnislage und auf der Grundlage der Anhörung und Befragung des Klägers in der mündlichen Verhandlung ist das Gericht zu der Überzeugung gelangt, dass dem Kläger weder zum Zeitpunkt seiner Ausreise aus der Türkei flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung drohte, noch dass er eine solche im Falle einer Rückkehr in die Türkei in absehbarer Zukunft zu befürchten hat. Damit hat der Kläger keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

Der Kläger hat zwar bereits beim Bundesamt und sodann vertiefend in der Befragung durch den Einzelrichter in der mündlichen Verhandlung auf seine Verbindung zur Gülen-Bewegung verwiesen und angegeben, dass er bis zu deren im Juli 2016 erfolgter Auflösung für etwa ein Jahr Schüler an der Militärschule in B...war. Die Schule sei – wie auch alle anderen Militärschulen und -akademien – in Folge des Putschversuchs vom 15./16. Juli 2016 auf der Grundlage des Gesetzesdekrets 669 vom 25. Juli 2016 zum 31. Juli 2016 aufgelöst worden, indem alle Lehrkräfte und Schüler entlassen worden seien. Dies habe seinen Grund darin gehabt, dass diese Schulen und Akademien als von der Gülen-Bewegung unterwandert angesehen worden seien. Er selber habe auch einen Einfluss der Gülen-Bewegung dort wahrgenommen, insbesondere bei manchen Lehrkräften. Sein persönlicher Kontakt zur Gülen-Bewegung habe aus etwa vier bis fünf Treffen zu seiner Oberschulzeit und einem Prüfungstraining vor der Zulassungsprüfung zur Militärschule, das in A...stattgefunden habe, bestanden. Dann habe er sich einmal noch vor der Schließung der Schule, auf einem Heimaturlaub, bei Vertretern der Gülen-Bewegung für die Unterstützung bei der Prüfungsvorbereitung bedankt.

Soweit der Kläger somit eine verfahrensrelevante Gefährdung seiner Person befürchtet, weil der türkische Staat in ihm einen „Gülenisten“ oder ihn der Gülen-Bewegung nahe stehend sehen könnte, vermag das Gericht dieser Auffassung nicht zu folgen. Zwar besteht nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 3. Ju-
ni 2021 (Stand: April 2021, im Folgenden: Lagebericht), S. 4, 7 f., die Gefahr systematischer Verfolgung mutmaßlicher Anhänger dieser Bewegung durch den türkischen Staat, indes bietet das Vorbringen des Klägers nebst vorgelegter Unterlagen keine tragfähige Grundlage für die Annahme einer derartigen Verfolgungsgefahr im konkreten Einzelfall des Klägers.

Der Lagebericht führt insoweit aus, dass die systematische Verfolgung mutmaßlicher Anhänger der Gülen-Bewegung andauert und die Kriterien für die Feststellung der Anhänger- bzw. Mitgliedschaft hierbei recht vage sind. In der Regel reiche eines der nachfolgenden Kriterien aus, um eine Strafverfolgung als mutmaßlicher Gülenist einzuleiten:

- Nutzen der Kommunikations-App Bylock,

- Geldeinlage bei der Bank Asya nach dem 25. Dezember 2013,

- Abonnement von Cihan oder der Zeitung Zaman,

- Spenden an zugeordnete Wohltätigkeitsorganisationen,

- Besuch Gülen zugeordneter Schulen durch Kinder,

- Kontakte zu Gülen zugeordneter Gruppen, Organisationen, Firmen (inkl. abhängiger Beschäftigung),

- Teilnahme an religiösen Versammlungen der Gülen-Bewegung.

In der Regel erschöpft sich der Vorwurf jedoch nicht in dem Vorhalt einer dieser Indizien, sondern in einer Kumulation mehrerer. Die Wahrscheinlichkeit zu „FETÖ“ zugeordnet zu werden, ist umso höher, je mehr Indizien bei einer Person zutreffen.

In Gülenisten-Prozessen kann nicht von einem fairen und unvoreingenommenen Verfahren ausgegangen werden. Seit dem Putschversuch vom 15./16. Juli 2016 gibt es Berichte von unfreiwilligem Verschwinden von Personen im zweistelligen Bereich und hiervon betroffen waren ausschließlich Personen, gegen die wegen Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung ermittelt wurde. Die Aufhebung des Notstandes vom 19. Juli 2018 hat nicht zu einer Abnahme der Repressionsmaßnahmen geführt.

Nach Auffassung des Gerichts lässt sich hieraus indes nicht schließen, dass stets bei Vorliegen eines der oben genannten oder weiterer Indizien mit hinreichender Wahrscheinlichkeit Strafverfahren eingeleitet werden. Das Gericht geht davon aus, dass nicht jede Person, die nur eines der in diesem Zusammenhang bestehenden Indizien verwirklicht, automatisch als Gülen-Anhänger in der Weise in das Visier des türkischen Staates gerät, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Flüchtlingsschutzstatus vorliegen. Somit ist es letztlich eine Frage des Einzelfalls, ob mutmaßliche Gülen-Anhänger Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten haben.

Vorliegend ist insoweit von Bedeutung, dass der Kläger nur eines der bezeichneten Indizien verwirklicht, nämlich die Teilnahme an religiösen Versammlungen, sog. Sohbets (dt.: Gespräche). Allerdings hat er nach seinen eigenen Angaben nur einige wenige Male als Oberschüler an solchen Treffen teilgenommen, nach seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung vier bis fünf Mal. Weitere Merkmale sind in der Person des Klägers nicht verwirklicht. Er hat zwar in der Zeit seiner Kontakte mit Anhängern der Gülen-Bewegung Zeitungen und Zeitschriften, die der Gülen-Bewegung zuzuordnen sind (Zaman und Sızıntı) gelesen und hin und wieder auch Einzelexemplare gekauft. Ein entsprechendes Abonnement hat er indes nicht bezogen. Mit dem Eintritt in die Ausbildung an der Militärschule brach sein Kontakt zu Mitgliedern der Gülen-Bewegung ab. Nach seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung war ihm klar, dass man sich dort von politischer oder religiöser Aktivität fernzuhalten hatte. Eine Kontaktaufnahme mit Gülen-Anhängern lag ihm insoweit in dieser Zeit fern. Auch an seinem „freien Tag“, einmal in der Woche, suchte er keinen Kontakt zu Gülen-Anhängern und hatte solche Kontakte auch nicht. Allein bei einem Heimaturlaub in O...nahm er noch einmal Kontakt auf, weil er es für angemessen hielt, sich bei Gülen-Anhängern für die erfahrene Unterstützung bei der Vorbereitung für die Aufnahmeprüfung der Schule zu bedanken. Weitere Kontakte mit der Gülen-Bewegung hatte der Kläger nach seinen Angaben nicht. Damit ergibt sich zur Überzeugung des Gerichts aus den Berührungspunkten des Klägers mit der Gülen-Bewegung für sich genommen keine hinreichende Wahrscheinlichkeit einer flüchtlingsmerkmalsbezogenen Verfolgung bei einer Rückkehr in die Türkei.

Allein seine Eigenschaft als ehemaliger Schüler der bezeichneten Militärschule in B... begründet ebenso wenig eine nachvollziehbare, hinreichende Verfolgungsfurcht. Wie der Kläger in der mündlichen Verhandlung zutreffend ausgeführt hat, sind auf der Grundlage des Gesetzesdekrets 669 in der gesamten Türkei alle Militärschulen und -akademien geschlossen und u. a. sämtliche Schüler/Kadetten entlassen worden. Der Kläger selber hat in der mündlichen Verhandlung insoweit für seine Schule eine Zahl von rund 2.000 betroffenen Schülern und für die gesamt Türkei von 14.000 Schülern angegeben. Das Gericht ist der Überzeugung, dass nicht all diese Schüler und Kadetten Opfer einer Verfolgung sind, die die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft rechtfertigen würde. Ersichtlich bestand zwar ein Verdacht der „Unterwanderung“ der Militärschulen durch die Gülen-Bewegung, ungeachtet der Entlassung aller Schüler nicht aber pauschal die Annahme, dass alle dort in einer Ausbildung befindlichen individuellen Schüler und Kadetten strafrechtlich zu verfolgende Anhänger der Bewegung waren. Anderenfalls hätte der türkische Staat ohne Weiteres in der Folge auf diese – auch den Kläger – zugreifen und sie inhaftieren und gegebenenfalls von der speziell im Bereich des FETÖ-Vorwurfs nicht unabhängigen, voreingenommenen Justiz aburteilen lassen können. Tatsächlich konnten die Schüler aber ohne Weiteres zu ihrem jeweiligen privaten Wohnort zurückkehren und – wie das Beispiel des Klägers zeigt – dort und an anderer Stelle in der Türkei leben, (Universitäts-) Ausbildungen nachgehen oder auch verschiedenste Berufe außerhalb des staatlichen Sektors ausüben. Auch die Verlegung des Lebensmittelpunkts aus der Türkei heraus (beim Kläger etwa nach Nordzypern) oder die Ausreise mit auf den eigenen Namen lautenden Personalpapieren stellen ersichtlich aus Sicht der türkischen Sicherheitsbehörden kein grundlegendes Problem dar. Vielmehr wurden seit dem Putschversuch Ermittlungen (auch) innerhalb des Personals und der Schülerschaft der Militärschulen durchgeführt, um einzelne Personen zu identifizieren, die als hervorgehobene Gülen-Anhänger und -Unterstützer einem Strafverfahren zuzuführen wären. Diese Ermittlungen führten dann in Einzelfällen zu Verhaftungen und auch zur Einleitung von strafrechtlichen Verfahren. Hierüber wurde auch im Jahr 2021 noch in deutschsprachigen Medien berichtet (vgl. beispielhaft tagesschau.de vom 27. April 2021, „Mutmaßliche Gülen-Anhänger: Türkei geht gegen 532 Beschuldigte vor“ - „Auch ehemalige Militärschüler seien unter den Verdächtigen“ -,

https://www.tagesschau.de/ausland/asien/guelen-tuerkei-105.html, abgerufen am 26. Januar 2022). Für den Fall des Klägers ist – vor dem Hintergrund seines in den letzten Jahren begonnenen Universitätsstudiums, seiner verschiedenen beruflichen Tätigkeiten und auch des mehrfachen ungehinderten Verlassens der Türkei – weder ersichtlich, dass er in der Vergangenheit als relevanter Anhänger der Gülen-Bewegung angesehen und deshalb aus politischen Gründen verfolgt wurde, noch ist hinreichend wahrscheinlich, dass dies bei einer Rückkehr in die Türkei der Fall wäre. Dem steht auch nicht die vom Kläger vorgetragene Ablehnung seiner Bewerbung für ein Spezialkommando der Polizei entgegen. Selbst wenn diese Ablehnung im Zusammenhang damit stand, dass er bis 2016 Militärschüler in B...gewesen war und dann wie alle Mitschüler nach dem Gesetzesdekret 669 entlassen wurde, so enthält die Bewerbungsablehnung letztlich keine weitergehende (für eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht hinreichende) Diskriminierung als die Entlassung von der Schule selbst. Sie gründet sich, wie dargelegt, auf die pauschale Vermutung einer Gülen-Nähe dieser Einrichtung, nicht auf einen individuellen Vorwurf gegenüber dem Kläger, der eine Inhaftierung und ein strafrechtliches Vorgehen zur Folge haben würde. Im Ergebnis das Gleiche gilt für die vom Kläger vorgetragene, teils auch nur vermutete Begründung der Ablehnung einer Festanstellung durch private Arbeitgeber, welche Kenntnis von seiner Entlassung von der Militärschule erhielten.

Schließlich wird diese Einschätzung, auch bei einer Gesamtbetrachtung mit den zuvor geschilderten Umständen, nicht verändert durch das Vorbringen des Klägers zu der Aufsuchung seiner familiären Wohnung durch die Polizei Anfang des Jahres 2019 und erneut etwas später im Jahr 2019, bei denen nach ihm gefragt, sein Zimmer in der Wohnung der Familie durchsucht und verschiedene Dinge von dort mitgenommen worden sein sollen, u. a. sein persönlicher Computer, und bei dem eine an ihn gerichtete, von einem Polizeibeamten der Polizeidirektion R... (O...) ausgestellte Erscheinensaufforderung hinterlassen wurde. Diese von ihm in Kopie beim Bundesamt vorgelegte Aufforderung enthält nach seinem Namen, der ID-Nummer und der Heimadresse in O...das Betreff „Im Rahmen einer Ermittlung“ sowie folgenden Text: „Um den oben genannten Vorgang voran zu bringen, kommen Sie am 14.02.2019 um 08.30 Uhr zur Polizeidirektion R... und melden Sie sich bei dem unten genannten Beamten. Wenn Sie nicht erscheinen, wird rechtlich gegen Sie vorgegangen.“ Die Authentizität dieses Schreibens unterstellt begründet auch dieser Umstand keine hinreichende Verfolgungswahrscheinlichkeit. Das Schreiben selbst gibt zunächst keinen Aufschluss darüber, in welcher Angelegenheit der Kläger sich bei der Polizei melden soll. Es muss sich also bereits nicht zwingend um seine Militärschulzeit und die Thematik der Gülen-Bewegung handeln. Selbst wenn man dies aber – zu Gunsten des Klägers – unterstellt, folgt daraus für die Klage nichts Maßgebliches. Wie der Kläger selber bei seiner Anhörung angegeben hat, wurden verschiedene vormalige Militärschüler nach der Schließung der Schulen von den Sicherheitsbehörden befragt. Für das Gericht sind zwar ein gewisses Unbehagen bzw. gegebenenfalls auch eine Befürchtung des Klägers nachvollziehbar, dass er bei einer solchen Befragung gegebenenfalls Aussagen über Mitschüler oder auch Lehrkräfte und seine Kenntnis von deren etwaiger Verstrickung mit der Gülen-Bewegung machen soll. Dies würde indes, unabhängig davon, mit welchem Aussageverhalten der Kläger hierauf reagieren würde, keine politische Verfolgung des Klägers darstellen. Die Aufforderung, auf der Polizeidirektion zu erscheinen, enthält keinerlei Hinweis, dass gegen den Kläger selbst ermittelt wird. Es fehlt insbesondere auch ein entsprechendes Aktenzeichen, das etwa auf ein staatsanwaltliches Verfahren oder einen Haftbefehl hindeuten könnte. Mit Blick auf die Angaben des Klägers zu seinen äußerst geringfügigen persönlichen Berührungspunkten mit der Gülen-Bewegung – zudem in einem Lebensalter von noch unter 20 Jahren – sowie auf seine starke Zurückhaltung in politischen und religiösen Themen während seiner Zeit an der Militärschule erscheint ein solches gegen ihn gerichtetes Ermittlungs- bzw. Strafverfahren selbst unter den in der Türkei herrschenden Verhältnissen hinsichtlich der Verfolgung von sog. FETÖ-Anhängern nicht hinreichend wahrscheinlich.

Gegen ein staatliches Verfolgungsinteresse spricht zudem die unbehelligte Ausreise des Klägers aus der Türkei auf dem Luftweg von Istanbul aus nach Nordmazedonien mit einem auf seinen Namen lautenden Reisepass ungeachtet der an den türkischen Flughäfen durchgeführten eingehenden Kontrollen. Da in der Türkei strenge Ausreisekontrollen stattfinden, wird türkischen Staatsangehörigen, gegen welche ein vom türkischen Innenministerium oder von einer Staatsanwaltschaft verhängtes Ausreiseverbot vorliegt und die auf einer entsprechenden Liste stehen, bereits die Erteilung eines Reisepasses versagt oder sie werden bei Besitz eines Reisepasses an der Ausreise gehindert (vgl. Lagebericht, S. 25 f.). Eine unbehelligte Ausreise ist daher ein Indiz gegen ein staatliches Verfolgungsinteresse. Nicht glaubhaft ist das klägerische Vorbringen bzw. seine Vermutung, dass allein das Einwirken des Schleusers ihm die Passage durch die türkischen Grenzkontrollen am Flughafen ermöglicht habe. Den vorliegenden Erkenntnismitteln ist eine Unzuverlässigkeit der Kontrollen aufgrund von Bestechlichkeit der Grenzbeamten durch Schleuser nicht zu entnehmen.

Nach alldem ist für das Gericht die vom Kläger vorgetragene Furcht nicht nachvollziehbar, bei einer Rückkehr in die Türkei Opfer individueller Verfolgungsmaßnahmen zu werden und auf Dauer im Zusammenhang mit einem flüchtlingsschutzbezogenen Anknüpfungspunkt inhaftiert zu werden. Er muss bei der Rückkehr in die Türkei nicht damit rechnen, dass mit nicht rechtsstaatlichen Mitteln gegen ihn vorgegangen wird oder dass er in Haft kommt und dort mit Folter oder schweren Misshandlungen konfrontiert wird.

Was das auf den Wehrdienst bezogene Vorbringen des Klägers angeht, so vermag dies seine Klageanträge ebenso wenig erfolgreich zu stützen. Der Kläger hat zwar bereits beim Bundesamt angegeben, dass er befürchte, nach einem Antritt zum Wehrdienst von dort nicht lebend zurückzukommen. Der Kläger will insoweit keine Gewissensgründe – gegen Krieg im Allgemeinen oder die Benutzung von Waffen oder das Töten im Speziellen – anführen; er habe ja auch selbst ursprünglich zum Militär gehen wollen und stehe dem türkischen Staat grundsätzlich positiv gegenüber. An der Glaubhaftigkeit des Vorbringens, dass er vor allem aus diesem Grund, aus Furcht vor einer Einziehung zum Militär, die Türkei verlassen hat, bestehen allerdings – nach den vorbezeichneten Maßgaben für die Gewinnung der vollen Überzeugung vom behaupteten individuellen Verfolgungsschicksal – nicht geringe Zweifel. Soweit der Kläger in der Zukunft eingezogen werden sollte (zuletzt vor seiner Ausreise hatte eine Zurückstellung gegolten, die bei einer Fortsetzung des Studiums ggf. verlängert werden könnte) und er eine Freikaufoption nach dem Wehrpflichtgesetz vom 25. Juni 2019 nicht nutzt, sind für das Gericht keine nachvollziehbaren Gründe ersichtlich, warum der Kläger den sechsmonatigen Wehrdienst nicht wie jeder andere Rekrut absolvieren sollte. Aus den Erkenntnismitteln ergeben sich keine Anhaltspunkte, dass vormalige Schüler von 2016 geschlossenen Militärschulen insoweit etwa anders behandelt würden als sonstige Rekruten und etwa besonders drangsaliert würden oder gar im Wehrdienst zu Tode kämen.

Selbst bei Zugrundelegung der Annahme, dass der Kläger sich dem Wehrdienst mit der Ausreise entziehen wollte, würde ihm eine individuelle Verfolgung i. S. des
§ 3 i. V. m. § 3a Abs. 2 AsylG in Gestalt einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung nicht drohen. Es ist nicht ersichtlich, dass die Verhängung einer Geldbuße oder Geldstrafe oder im Wiederholungsfall einer Haftstrafe, die regelmäßig nicht vollstreckt, sondern umgewandelt oder aufgeschoben wird,

vgl. im Einzelnen hierzu auch VG Augsburg, Urteil vom 1. September 2020 - Au 6 K 19.30565 -, juris Rn. 40 ff.,

keinen angemessenen Ausgleich zwischen der Durchsetzung des staatlichen Dienstanspruchs einerseits und der privaten Gewissensentscheidung des Betroffenen andererseits darstellte. Anhaltspunkte für eine im vorliegenden Fall abweichende Bewertung sind nicht ersichtlich. Daher bestehen für den Kläger keine Gründe für eine Verfolgungsfurcht; eine Verfolgung i. S. des § 3 i. V. m. § 3a Abs. 2 AsylG in Gestalt einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung droht angesichts der mittlerweile milden Strafpraxis der Türkei nicht.

Soweit eine Strafverfolgung des Klägers wegen Wehrdienstentziehung möglich sein sollte, droht schließlich auch keine flüchtlingsrechtsrelevante Vorgehensweise der türkischen Behörden oder der türkischen Justiz; besondere Umstände, aus denen sich ergibt, dass Strafmaßnahmen nicht nur der Ahndung eines Verstoßes gegen eine allgemeine staatsbürgerliche Pflicht gelten, sind nicht ersichtlich. Insbesondere gibt es keine belastbaren Erkenntnisse, dass die Heranziehung zum Militärdienst an gruppenbezogenen Merkmalen bzw. persönlichen Merkmalen i. S. v. § 3b AsylG oder an der Volkszugehörigkeit orientiert ist, mithin ein „Politmalus“ oder „Religionsmalus“ zum Tragen kommt. Die Heranziehung zum Wehrdienst und die Bestrafung wegen seiner Verweigerung stellen in der Türkei daher keine politische Verfolgung dar. Insoweit ist die die Wehrdienstentziehung betreffende Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts von besonderer Bedeutung, in der es heißt (Urteil vom 6. Februar 2019 - 1 A 3.18 -, juris Rn. 98):

„Auch eine etwaig drohende Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung ist nicht schon für sich genommen eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung. Die an eine Wehrdienstentziehung geknüpften Sanktionen stellen nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, selbst wenn sie von totalitären Staaten ausgehen, nur dann eine flüchtlingsrechtlich erhebliche Verfolgung dar, wenn sie nicht nur der Ahndung eines Verstoßes gegen eine allgemeine staatsbürgerliche Pflicht dienen, sondern darüber hinaus den Betroffenen auch wegen seiner Religion, seiner politischen Überzeugung oder eines sonstigen asylerheblichen Merkmals treffen sollen.“

2) Die Voraussetzungen für die Gewährung des subsidiären Schutzstatus gemäß § 4 Abs. 1 AsylG liegen ebenso wenig vor. Subsidiär schutzberechtigt ist danach, wer stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, ihm drohe in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden. Als ernsthafter Schaden gilt die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3). Die vorgenannten Gefahren müssen dabei gemäß § 4 Abs. 3 i. V. m. § 3c AsylG in der Regel von dem in Rede stehenden Staat oder den ihn beherrschenden Parteien oder Organisationen ausgehen. Die Bedrohung durch nichtstaatliche Akteure kann hingegen nur dann zu subsidiärem Schutz führen, wenn der betreffende Staat selbst nicht willens oder nicht in der Lage ist, Schutz zu gewähren. Unter Berücksichtigung des Vorgenannten hat der Kläger bei einer Rückkehr nicht mit derartigen Gefahren zu rechnen.

Die Aufenthaltsbeendigung eines Ausländers durch einen Konventionsstaat kann Art. 3 EMRK verletzen, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme vorliegen und bewiesen sind, dass der Ausländer im Zielstaat einer Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ausgesetzt zu werden. Dann ergibt sich aus Art. 3 EMRK die Verpflichtung für den Konventionsstaat, den Betroffenen nicht in dieses Land abzuschieben.

Vgl. EGMR, Urteil vom 13. Dezember 2016 - 41738/10 -, NVwZ 2017, 1187 ff. Rn. 173 m. w. N.

Der Kläger hat eine ernsthafte Bedrohung, so sie eine Gefährdungslage i. S. des
§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG in Gestalt der Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe begründen würde, nicht glaubhaft gemacht. Die Todesstrafe ist in der Türkei abgeschafft (vgl. Lagebericht Seite 23). Für extralegale Hinrichtungen liegen derzeit keine Anhaltspunkte vor. Die Türkei unterliegt als Unterzeichnerstaat der Europäischen Menschenrechtskonvention dem Folterverbot ebenso wie den Mindeststandards für die Ausgestaltung von Haftbedingungen, wie sie vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte näher beschrieben worden sind,

BVerwG, Beschluss vom 9. November 2017 - 1 VR 9.17 -, juris Rn. 7, unter Bezugnahme auf EGMR, Urteil der Großen Kammer vom 20. Oktober 2016 - Nr. 7334/13 – (Mursic/Kroatien).

Eine beachtliche Gefahr von Folter besteht nicht. Nach den ausgewerteten Erkenntnismitteln besteht in der Türkei derzeit zwar eine abstrakte Gefahr von Misshandlungen in staatlichem Gewahrsam, eine systematische Folter aber findet nicht statt (vgl. Lagebericht Seite 22). In der Person des Klägers liegt auch kein das Risiko von Folter zum Grad der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhender Umstand vor, weil er von türkischer Seite aus – wie dargelegt – nicht der Gülen-Bewegung (und auch nicht der PKK) zugerechnet wird. Der Kläger hat auch eine ernsthafte Bedrohung, so etwa eine Gefährdungslage i. S. des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG wegen einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts, nicht glaubhaft gemacht.

Der Kläger würde im Fall seiner Abschiebung in die Türkei auch nicht wegen seiner Asylantragstellung unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden. Rückkehrerinnen und Rückkehrer werden nach den vorliegenden Erkenntnissen keiner unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe unterworfen. Dem Auswärtigen Amt und türkischen Menschenrechtsorganisationen, zu denen die Deutsche Botschaft engen Kontakt unterhält, ist in den letzten Jahren kein Fall bekannt geworden, in dem ein aus Deutschland in die Türkei zurückgekehrter Asylbewerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten – dies gilt selbst für exponierte Mitglieder und führende Persönlichkeiten terroristischer Organisationen – gefoltert oder misshandelt worden ist (vgl. Lagebericht S. 23).

In der Türkei finden Einreisekontrollen für alle Personen statt. Bei dieser Personenkontrolle können türkische Staatsangehörige mit einem gültigen türkischen, sie zur Einreise berechtigenden Reisedokument die Grenzkontrolle grundsätzlich ungehindert passieren. Seit dem Putschversuch vom Juli 2016 werden alle türkischen Staatsangehörigen auch auf Inlandsflügen einer fahndungsmäßigen Überprüfung unterzogen. In Fällen von Rückführungen gestatten die Behörden die Einreise nur mit türkischem Reisepass oder Passersatzpapier (vgl. Lagebericht Seite 28). Die Einreisekontrollen wurden bereits im Zuge der Flüchtlingskrise verstärkt, nicht erst seit dem Putschversuch (vgl. Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13. Januar 2017, S. 3), nun aber gezielter mit Listen mutmaßlicher Gülen- oder PKK-Anhänger (Schweizer Flüchtlingshilfe SFH, Schnellrecherche an das VG Karlsruhe vom 17. Februar 2017, S. 2). Ein abgelehnter kurdischer Asylbewerber läuft bei der Rückkehr nicht Gefahr, allein wegen seiner Volkszugehörigkeit verhaftet zu werden, außer er hat sich für kurdische Rechte oder Organisationen aktiv eingesetzt oder z. B. in erheblichem Umfang an prokurdischen Demonstrationen teilgenommen (vgl. Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13. Januar 2017, S. 3 f., 28 f.; auch SFH ebenda S. 2 f., 10 f.). Dies ist vorliegend nicht der Fall. Bei der vorzunehmenden Gesamtwürdigung ist das Gericht nicht davon überzeugt, dass der Kläger im Fall einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in der Türkei Verfolgungsgefahren ausgesetzt sein wird. Vorliegend ist für den Kläger auch nicht nachvollziehbar und glaubhaft dargelegt worden oder sonst ersichtlich, dass etwa ein Haftbefehl zu vollstrecken wäre. Der Kläger ist insoweit gegebenenfalls auf die Inanspruchnahme des in seinem Herkunftsstaat gewährleisteten Rechtsschutzes zu verweisen und nicht in Gefahr weiterer Maßnahmen als einer bloßen Einreisekontrolle.

3) Es liegen auch keine nationalen Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 AufenthG oder nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor. Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit eine Abschiebung nach den Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention unzulässig ist. Der Verweis auf Abschiebungsverbote, die sich aus der Anwendung der EMRK ergeben, umfasst auch das Verbot der Abschiebung in einen Zielstaat, in dem dem Ausländer unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne von
Art. 3 EMRK droht. Ein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG https://www.juris.de/r3/?docId=BJNR195010004BJNE006607116&docFormat=xsl&oi=GsUBqChhdN&docPart=S&sourceP=%7B%22source%22:%22Link%22%7D kommt nicht nur bei Gefahren für Leib und Leben, die seitens eines Staates oder einer staatsähnlichen Organisation drohen, in Betracht, sondern auch bei extremen Gefahren, die sich z. B. aus einer katastrophalen Versorgungslage ergeben können. Schlechte humanitäre Verhältnisse verletzen Art. 3 EMRK aber nur in ganz außergewöhnlichen Fällen, wenn nämlich die gegen die Ausweisung sprechenden humanitären Gründe als zwingend anzusehen sind,

BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013 - 10 C 15.12 https://www.juris.de/r3/?docId=WBRE410019432&docFormat=xsl&oi=GsUBqChhdN&docPart=K&sourceP=%7B%22source%22:%22Link%22%7D -, juris Rn. 25.

Für die Beurteilung, ob außerordentliche Umstände vorliegen, die dem abschiebenden Staat nach Art. 3 EMRK eine Abschiebung des Ausländers verbieten, ist grundsätzlich auf den gesamten Abschiebungszielstaat abzustellen und zunächst zu prüfen, ob solche Umstände an dem Ort vorliegen, an dem die Abschiebung endet,

BVerwG, a. a. O. Rn. 26.

Für die Türkei sind solche Gefahren weder vom Kläger geltend gemacht worden noch sonst ersichtlich.

Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Insoweit muss es sich um Gefahren handeln, die den einzelnen Ausländer in konkreter und individualisierbarer Weise betreffen. Erfasst werden dabei nur zielstaatsbezogene Gefahren. Diese müssen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Erkrankungen sind durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft zu machen (Satz 2 i. V. m. § 60a Abs. 2c Sätze 2 und 3 AufenthG).

Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen vor, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden (Satz 3). Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist (Satz 4). Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist (Satz 5). In Bezug auf eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen setzt der Gesetzgeber damit voraus, dass Abschiebungsverbote nur bei äußerst gravierenden Erkrankungen mit einer erheblichen konkreten Leibes- und Lebensgefahr, die sich durch die Abschiebung konkretisiert, zu bejahen sind,

vgl. VG München, Urteil vom 27. Februar 2017 - M 21 K 14.31075 -, juris Rn. 46.

Eine Erkrankung hat der Kläger nicht geltend und erst recht nicht substantiiert dargelegt und glaubhaft gemacht.

Eine erhebliche konkrete Gefahr i. S. v. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG kann auch aufgrund der Lebensbedingungen, die einen Ausländer im Abschiebezielstaat erwarten, insbesondere die dort herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage, nur dann angenommen werden, wenn er bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013 - 10 C 15.12 -, juris Rn. 38.

Für die erforderliche Gefahrenprognose ist bei einem nicht landesweiten bewaffneten Konflikt auf den tatsächlichen Zielort des Ausländers bei einer Rückkehr abzustellen. Dies ist regelmäßig die Herkunftsregion des Ausländers. Kommt die Herkunftsregion als Zielort wegen der dem Ausländer dort drohenden Gefahr nicht in Betracht, kann er nur unter den Voraussetzungen des internen Schutzes auf eine andere Region des Landes verwiesen werden,

BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013, a. a. O. Rn. 13 f.

Gefahren, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, „allgemein“ ausgesetzt ist, sind demgegenüber nach § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG bei Abschiebestopp-Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen. Insoweit entfaltet § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG grundsätzlich eine gewisse Sperrwirkung. Die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG greift aufgrund der Schutzwirkungen der Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes (GG) nur dann ausnahmsweise nicht, wenn der Ausländer im Zielstaat landesweit einer extrem zugespitzten allgemeinen Gefahr dergestalt ausgesetzt wäre, dass er „gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert“ würde.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 12. Juli 2001 - 1 C 2.01 -, juris Rn. 9 (noch zu § 53 Abs. 6 des Ausländergesetzes a. F.); Urteil vom 29. Juni 2010 - 10 C 10.09 -, juris Rn. 15; Urteil vom 29. September 2011 - 10 C 24.10 -, juris Rn. 20.

Auch hierfür bestehen auf der Grundlage des Akteninhalts und des Vorbringens des Klägers keine Anhaltspunkte. Der Kläger hat im Rahmen einer Gesamtbetrachtung nicht mit Lebensbedingungen zu rechnen, die sie mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage aussetzen. Denn es leben in der Türkei mehrere nähere Verwandte des Klägers, insbesondere seine Eltern und Geschwister, und der Kläger konnte sich darüber hinaus auch vor seiner Ausreise durch die Aufnahme verschiedener Arbeitstätigkeiten selbst gut versorgen. Insoweit ist bei einer lebensnahen Betrachtung für die Wohnverhältnisse wie auch für die allgemeine materielle Versorgung des Klägers in der Türkei, wie auch vor seiner Ausreise, gesorgt.

4) Die Ausreiseaufforderung und die Abschiebungsandrohung entspricht den Regelungen gemäß §§ 34, 38 Abs. 1 AsylG i. V. m. § 59 AufenthG.

Auch soweit die Klage gegen das auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristete Einreise- und Aufenthaltsverbot gerichtet ist, hat sie keinen Erfolg,

zur Statthaftigkeit der Anfechtungsklage insoweit vgl. jeweils m. w. N. VG Berlin, Urteil vom 9. September 2019 - 19 K 447.17 -, juris Rn. 51; Urteil vom 19. September 2019 - 31 K 397.19.A -, juris Rn. 13.

Gemäß § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG in der – zum hier maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) geltenden – Fassung des Zweiten Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht vom 15. August 2019 (BGBl. I, S. 1294) ist gegen einen Ausländer, der ausgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben worden ist, ein Einreise- und Aufenthaltsverbot zu erlassen. Gemäß § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG wird über die Länge der Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach Ermessen entschieden. Nach § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG darf sie außer in den Fällen der Absätze 5 bis 5b fünf Jahre nicht überschreiten. Dem wird die hier getroffene Regelung gerecht; insbesondere lässt die Ermessensentscheidung über die Länge der Frist keine Rechts- oder Ermessensfehler erkennen. Es ist nicht zu beanstanden, dass die Beklagte in Fällen, in denen – wie hier – keine individuellen Gründe glaubhaft gemacht worden sind, generell eine Befristung von 30 Monaten vornimmt,

vgl. VG Berlin, Urteil vom 19. September 2019 - 31 K 397.19 A -, juris Rn. 47 m. w. N.

5) Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten der Entscheidungsgründe sieht das Gericht von einer weiteren eigenen Darstellung ab und verweist insoweit auf die zutreffenden Ausführungen im angegriffenen Bescheid (§ 77 Abs. 2 AsylG). Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO und § 83b AsylG.