Gericht | FG Berlin-Brandenburg 16. Senat | Entscheidungsdatum | 29.06.2022 | |
---|---|---|---|---|
Aktenzeichen | 16 K 16128/21 | ECLI | ECLI:DE:FGBEBB:2022:0629.16K16128.21.00 | |
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 171 Abs 3 AO, § 133 BGB, § 46 Abs 2 Nr 1 EStG, § 46 Abs 2 Nr 5 EStG, § 171 Abs 3a AO, § 169 Abs 1 S 1 AO, § 169 Abs 2 S 1 Nr 2 AO, § 170 Abs 1 AO, § 170 Abs 2 S 1 AO |
In der nach der Abgabe einer gesetzlich vorgeschriebenen Steuererklärung geäußerten Bitte um Bearbeitung ist ein eigenständiger Antrag auf Steuerfestsetzung gemäß § 171 Abs. 3 AO zu sehen, der den Eintritt der Festsetzungsverjährung hemmt (gegen FG München, gegen FG Berlin-Brandenburg 6. Senat, wie FG Baden-Württemberg).
Der Beklagte wird unter Aufhebung der Bescheide vom 22.06.2020 und 26.10.2020 über die Ablehnung der Einkommensteuerfestsetzung für 2005, 2009, 2010 und 2013 jeweils in Gestalt der Einspruchsentscheidungen vom 29.07.2021 (betreffend 2005, 2009 und 2010) und vom 05.08.2021 (betreffend 2013) verpflichtet, den Kläger zur Einkommensteuer 2005, 2009 und 2010 sowie die Kläger zusammen zur Einkommensteuer 2013 zu veranlagen.
Die Revision zum Bundesfinanzhof wird zugelassen.
Die Kosten des Verfahrens werden dem Beklagten auferlegt.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des Kostenerstattungsanspruchs der Kläger abwenden, wenn nicht die Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leisten.
Streitig ist, ob für die Jahre 2005, 2009, 2010 und 2013 (Streitjahre) Festsetzungsverjährung eingetreten ist.
Die Kläger sind Eheleute (Tag der Eheschließung: … … 2013) und begehren für das Jahr 2013 zusammen zur Einkommensteuer veranlagt zu werden. Für die Jahre 2005, 2009 und 2010 begehrt der Kläger allein zur Einkommensteuer veranlagt zu werden.
Dem Verfahren liegen im Wesentlichen folgende Sachverhalte zugrunde:
Kalenderjahr 2005:
Der Kläger bezog im Kalenderjahr 2005 Einkünfte aus Gewerbebetrieb (Beteiligungseinkünfte) von zusammen … Euro, Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit, steuerfreien Arbeitslohn nach Doppelbesteuerungsabkommen (… Euro, § 32 b Abs. 1 Nr. 3 EStG) und Einkünfte aus Kapitalvermögen.
Der Kläger hat seine Einkommensteuererklärung 2005 abgegeben am 17.04.2009.
Er hat mit Schreiben vom 26.06.2011, 31.03.2012 und 23.03.2013 an die vorliegende Steuererklärung für 2005 erinnert. In den Schreiben vom 22.11.2013, 31.03.2015, 31.03.2016, 29.07.2017, 20.01.2019 und 30.07.2019 erinnerte der Kläger erneut an die vorliegende Steuererklärung und bat um Festsetzung der Einkommensteuer so wie zuletzt für den entsprechenden Veranlagungszeitraum von ihm beantragt.
Kalenderjahr 2009:
Der Kläger bezog im Kalenderjahr 2009 Einkünfte aus Gewerbebetrieb (Beteiligungseinkünfte) von zusammen … Euro, Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit, steuerfreien Arbeitslohn nach Doppelbesteuerungsabkommen (… Euro, § 32b Abs. 1 Nr. 3 Einkommensteuergesetz -EStG-), Arbeitslosengeld von der Bundesagentur für Arbeit in Höhe von … Euro (§ 32b Abs. 1 Nr. 1 EStG) und Einkünfte aus Kapitalvermögen.
Der Kläger hat seine Einkommensteuererklärung 2009 abgegeben am 07.07.2011.
Er hat mit Schreiben vom 31.03.2012 und 23.03.2013 an die vorliegende Steuererklärung für 2009 erinnert. In den Schreiben vom 22.11.2013, 31.03.2015, 31.03.2016, 29.07.2017, 20.01.2019 und 30.07.2019 erinnerte der Kläger erneut an die vorliegende Steuererklärung und bat um Festsetzung der Einkommensteuer so wie zuletzt für den entsprechenden Veranlagungszeitraum von ihm beantragt.
Kalenderjahr 2010:
Der Kläger bezog im Kalenderjahr 2010 Einkünfte aus Gewerbebetrieb (Beteiligungseinkünfte) von zusammen … Euro, Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit, Arbeitslosengeld von der Bundesagentur für Arbeit in Höhe von … Euro (§ 32b Abs. 1 Nr. 1 EStG) und Einkünfte aus Kapitalvermögen.
Der Kläger hat seine Einkommensteuererklärung 2010 abgegeben am 05.04.2012.
Er hat mit Schreiben vom 23.03.2013 an die vorliegende Steuererklärung für 2010 erinnert. In den Schreiben vom 22.11.2013, 31.03.2015, 31.03.2016, 29.07.2017, 20.01.2019 und 30.07.2019 erinnerte der Kläger erneut an die vorliegende Steuererklärung und bat um Festsetzung der Einkommensteuer so wie zuletzt für den entsprechenden Veranlagungszeitraum von ihm beantragt.
Kalenderjahr 2013:
Der Kläger bezog im Kalenderjahr 2013 Einkünfte aus Gewerbebetrieb (Beteiligungseinkünfte) von zusammen … Euro, Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit (u.a. … Euro ermäßigt besteuerte Abfindung für den Verlust des Arbeitsplatzes) und Einkünfte aus Kapitalvermögen. Die Klägerin hatte im Kalenderjahr 2013 keine eigenen Einkünfte.
Die Kläger haben ihre Einkommensteuererklärung 2013 abgegeben am 08.04.2015.
Mit Schreiben vom 31.03.2016, 29.07.2017, 20.01.2019 und 30.07.2019 erinnerten die Kläger an die vorliegende Steuererklärung und baten um Festsetzung der Einkommensteuer so wie zuletzt für den entsprechenden Veranlagungszeitraum von ihnen beantragt.
Am 04.03.2019 erließ das beklagte Finanzamt für den Kläger den Einkommensteuerbescheid 2003, aus dem sich ein Erstattungsbetrag i.H.v. … Euro Einkommensteuer und … Euro Solidaritätszuschlag sowie … Euro Zinsen zur Einkommensteuer ergaben.
Mit Schreiben vom 22.06.2020 hat das beklagte Finanzamt dem Kläger bzw. den Klägern jeweils mitgeteilt, die Veranlagung zur Einkommensteuer 2005, 2009, 2010 und 2013 sei aufgrund zwischenzeitlich eingetretener Festsetzungsverjährung nicht mehr möglich.
Mit Schreiben vom 23.07.2020 legte der Kläger bzw. legten die Kläger gegen diese Mitteilungen Einsprüche ein und gleichzeitig auch Untätigkeitseinsprüche betreffend die Nichtbearbeitung der Steuererklärungen 2005, 2009, 2010 und 2013.
Mit Bescheiden vom 26.10.2020 wurde dem Kläger bzw. den Klägern mitgeteilt, die Schreiben vom 22.06.2020 seien keine anfechtbaren Verwaltungsakte und es wurde gleichzeitig förmlich die Durchführung der Veranlagung zur Einkommensteuer 2005, 2009, 2010 und 2013 abgelehnt. Die jeweils beigefügten Rechtsbehelfsbelehrungen wiesen den Einspruch als statthaften Rechtsbehelf aus.
Mit Schreiben vom 21.11.2020 teilte der Kläger bzw. teilten die Kläger mit, weiterhin die Veranlagung zur Einkommensteuer 2005, 2009, 2010 und 2013 zu begehren und an den Einsprüchen festhalten zu wollen.
Da der Kläger bzw. die Kläger das Begehren auf Festsetzung der Einkommensteuer 2010 aufrechterhalten haben, deutete das beklagte Finanzamt die Schreiben vom 21.11.2020 um in fristgerechte Einsprüche gegen die Ablehnung der Durchführung der Steuerfestsetzungen 2005, 2009, 2010 und 2013 mit Verwaltungsakten vom 26.10.2020.
Mit Einspruchsentscheidung vom 29.07.2021 (betreffend 2005, 2009 und 2010) bzw. 05.08.2021 (betreffend 2013) wies das beklagte Finanzamt die Einsprüche als unbegründet zurück. Zur Begründung führt das Finanzamt aus, eine Steuerfestsetzung sei nach § 169 Abs. 1 Satz 1 Abgabenordnung --AO-- nicht mehr zulässig, da die Festsetzungsfrist für die Streitjahre abgelaufen sei. Der Ablauf der Festsetzungsfrist habe das Erlöschen der Ansprüche aus dem Steuerrechtsverhältnis zur Folge (§ 47 AO), es könne daher keine Rolle spielen, ob der Ablauf der Festsetzungsfrist auf ein schuldhaftes Verhalten des Steuerpflichtigen oder auf ein unsachgemäßes bzw. rechtswidriges Handeln der Finanzbehörden zurückzuführen sei.
Es liege auch für keines der Streitjahre ein vor Ablauf der jeweiligen Festsetzungsfrist gestellter Antrag auf Steuerfestsetzung nach § 171 Abs. 3 AO vor, der eine Hemmung des Ablaufs der Festsetzungsfrist zur Folge hätte. Zwar hätten die Kläger mit jeweils vor Ablauf der Festsetzungsverjährung übersandten Schreiben wiederholt um „Festsetzung der Einkommensteuer so wie jeweils zuletzt für den entsprechenden Veranlagungszeitraum beantragt“ gebeten und hätten erfragt, ob und was sie selbst zur Beschleunigung der Abarbeitung rückständiger Steuererklärungen beitragen könnten. Insoweit lägen jedoch keine eigenständigen Anträge i.S.d. § 171 Abs. 3 AO vor, denn
(1) mit oder nach Abgabe der Steuererklärung übersandte Anschreiben des Steuerpflichtigen mit dem Antrag auf Steuerfestsetzung entsprechend der Erklärung (BFH, Urteil vom 08.09.2003, VI B 87/03, BFH/NV 2004, 9; Urteil vom 23.09.2002, V B 48/02, BFH/NV 2003, 141),
(2) Nachfragen zur Bearbeitung und Bitte um Beschleunigung des Verfahrens (FG München, Urteil vom 20.10.2015, 12 K 1733/11, EFG 2016, 8) und
(3) schriftliche Bitten um Durchführung der Veranlagung nach Abgabe der Steuererklärung (FG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 24.07.2008, 6 K 10383/05 B, juris)
hätten rein deklaratorischen Charakter und entfalteten keinerlei selbständige Wirkung neben der Steuererklärung.
Ferner hätten die Kläger auch in keinem Streitjahr einen, den Ablauf der Festsetzungsfrist nach § 171 Abs. 3a AO hemmenden Untätigkeitseinspruch eingelegt. Die jeweils vor Ablauf der Festsetzungsverjährung eingegangenen Schreiben der Kläger könnten nicht als Untätigkeitseinsprüche umgedeutet oder ausgelegt werden. Zwar seien die Schreiben analog § 133 Bürgerliches Gesetzbuch --BGB-- auszulegen, wobei auch außerhalb der Erklärung liegende Umstände zu berücksichtigen seien. Das Vorgehen der Kläger erlaube jedoch keine Auslegung der Schreiben als Untätigkeitseinsprüche, denn nachdem das beklagte Finanzamt auf die Schreiben nicht reagiert habe, hätten die Kläger in der logischen Folge Untätigkeitsklage einlegen können und müssen. Zumindest hätte ein ernsthafter Wunsch nach erklärungsgemäßer Veranlagung zeitnahe Nachfragen zum Erledigungsstand erwarten lassen. Stattdessen hätten die Kläger selbst jedoch erläutert, aus Sorge vor der Unterstellung, durch Druckausübung zu ungerechtfertigten Vergünstigungen kommen zu wollen, nur ein vorsichtiges Vorgehen in Erwägung gezogen zu haben.
Die Kläger haben fristgerecht Klage erhoben.
Sie begehren weiterhin die Durchführung der Veranlagungen zur Einkommensteuer in den Streitjahren.
Die Kläger sind der Meinung, Festsetzungsverjährung sei für keines der Streitjahre eingetreten, denn der Ablauf der Festsetzungsfrist sei durch Anträge auf Steuerfestsetzung und Untätigkeitseinsprüche gehemmt gewesen.
Bei Abgabe der Steuererklärung für den Veranlagungszeitraum 2013 mit Schreiben vom 31.03.2015 hätten dem beklagten Finanzamt noch zwölf Steuererklärungen des Klägers für die Veranlagungszeiträume 2001 bis 2012 vorgelegen, die mit Ausnahme der Veranlagungen 2001 und 2002, die sich seit langer Zeit im Einspruchsverfahren befunden hätten, alle noch bearbeitet werden mussten.
Die jeweils nach Abgabe der Steuererklärungen für die Streitjahre, aber noch vor Eintritt der Festsetzungsverjährung an das beklagte Finanzamt gerichteten Schreiben mit dem Hinweis auf die abgegebenen, aber noch nicht bearbeiteten Steuererklärungen, der Bitte um Mitteilung, was klägerseitig zur Beschleunigung der Abarbeitung beigetragen werden könne und der Bitte um erklärungsgemäße Veranlagung, stellten jeweils Anträge auf Veranlagung i.S.v. § 171 Abs. 3 AO dar. Denn aus der seitens des beklagten Finanzamts in Bezug genommenen Rechtsprechung könne nicht abgeleitet werden, dass jegliche nachgelagerten Aktivitäten der Steuerpflichtigen, die ein Bearbeiten und damit ein Tätigwerden der Behörde zum Ziel habe und dies mit ausreichend zeitlichem Abstand zur Abgabe der Steuererklärung, aber gleichzeitig noch vor Ablauf einer Festsetzungsfrist deutlich zum Ausdruck bringe, nur „deklaratorisch" und damit rechtlich unbeachtlich sein sollten.
Dies decke sich auch mit der im Schreiben vom 13.01.2021 geäußerten Rechtsansicht der Rechtsbehelfsstelle des Finanzamts C…, wonach bezüglich der Steuererklärungen 2006 bis 2008, die wegen Sonderzuständigkeit bei – in den Jahren vorliegender - beschränkter Steuerpflicht des Klägers vom beklagten Finanzamt an das Finanzamt C… abgegeben worden waren und bei denen zunächst aufgrund der Ausführungen des beklagten Finanzamts von einer Festsetzungsverjährung ausgegangen worden sei, doch eine Ablaufhemmung gemäß § 171 Abs. 3 AO vorliege.
Ergänzend führen die Kläger aus, die wiederholt, in Bezug auf die einzelnen Streitjahre jeweils vor Ablauf der jeweiligen Festsetzungsfrist an das beklagte Finanzamt gerichteten Schreiben seien auch dahingehend zu verstehen, dass damit jedenfalls auch die Untätigkeit des beklagten Finanzamts in Bezug auf die jeweiligen Streitjahre gerügt werde, sodass damit auch Untätigkeitseinsprüche vorlägen. Der Inhalt der Schreiben habe nur so gedeutet werden können, dass die Kläger mit der ausbleibenden Bearbeitung der Steuererklärungen und Vornahme der entsprechenden Veranlagungen zur Einkommensteuer nicht einverstanden gewesen seien und deshalb ein Tätigwerden angemahnt hätte.
Schließlich sei das Vorgehen des beklagten Finanzamts, sich in Bezug auf die Streitjahre auf Festsetzungsverjährung zu berufen, treuwidrig und unzulässig.
Das beklagte Finanzamt habe erst im März 2019 und Ende Mai 2019 Einkommensteuerbescheide des Klägers für die Jahre 2003 und 2004 erlassen. Hier habe der Kläger in gleicher Weise in den Jahren zuvor um ein Tätigwerden gebeten. Auch hier seien die Bescheide nach so langer Bearbeitungszeit erlassen worden, ohne dass das Finanzamts auf die Festsetzungsverjährung hingewiesen hätte.
Die Kläger beantragen die „Feststellung, dass im vorliegenden Fall keine Festsetzungsverjährung eingetreten ist und noch eine Einkommensteuerfestsetzung vorzunehmen ist.“ Hilfsweise beantragen die Kläger „Festsetzung der Einkommensteuer 2013“ bzw. beantragt der Kläger „Festsetzung der Einkommensteuer 2005“, 2009 und 2010 so wie eingereicht und danach mehrfach vor Aussprache der Festsetzungsverjährung durch das beklagte Finanzamt schriftlich beantragt.
Der Senat legt den Antrag der Kläger dahingehen aus, dass sie beantragen,
den Beklagten unter Aufhebung der Bescheide vom 22.06.2020 und 26.10.2020 über die Ablehnung der Einkommensteuerfestsetzung für 2005, 2009, 2010 und 2013 jeweils in Gestalt der Einspruchsentscheidungen vom 29.07.2021 (betreffend 2005, 2009 und 2010) und vom 05.08.2021 (betreffend 2013) zu verpflichten, den Kläger zur Einkommensteuer 2005, 2009 und 2010 sowie die Kläger zusammen zur Einkommensteuer 2013 zu veranlagen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung nimmt der Beklagte auf die Einspruchsentscheidung Bezug und bringt ergänzend vor, die Kläger würden durch die Anwendung der Regeln über den Ablauf der Festsetzungsfrist auch unter Berücksichtigung des Grundsatzes von Treu und Glauben nicht unangemessen benachteiligt. Denn sie hätten den Ablauf der Frist durch eigenes Tätigwerden verhindern können. Die Kläger könnten sich nicht auf Treu und Glauben berufen, weil sie vor Ablauf der Festsetzungsfrist weder Untätigkeitseinspruch eingelegt noch einen Antrag nach § 171 Abs. 3 AO gestellt hätten und das Finanzamt – mit Ausnahme der Entgegennahme der Einkommensteuererklärungen – jedenfalls keinen Vertrauenstatbestand gesetzt habe.
Den wiederholt an den Beklagten gesendeten Schreiben der Kläger sei zu entnehmen, dass die Kläger um einen Hinweis baten, was sie zur Beschleunigung der Abarbeitung ihrer die Streitjahre betreffenden Steuererklärungen beitragen könnten. Hilfsweise hätten die Kläger erneut um Festsetzung der Einkommensteuer für die Streitjahre, so wie zuletzt beantragt gebeten. Anhaltspunkte dafür, dass die Kläger über den eindeutigen Wortlaut hinaus mit diesem Schreiben eine Überprüfung im Rechtsbehelfsverfahren in Gang bringen wollten, seien nicht erkennbar. Die Schreiben könnten daher nicht als Untätigkeitseinsprüche i.S.v. § 347 Abs. 1 Satz 2 AO ausgelegt werden.
Die Statthaftigkeit des Untätigkeitseinspruchs setzte ferner voraus, dass das Finanzamt die Entscheidung über den Antrag des Steuerpflichtigen ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes verzögert habe. Diese Mitteilung könne formlos erfolgen. Habe die Behörde den Grund für die Verzögerung mitgeteilt, sei der Untätigkeitseinspruch nur dann zulässig, wenn es sich nicht um einen zureichenden Grund handele. Ob ein zureichender Grund vorliege, richte sich nach den Umständen des Einzelfalles. Ein zureichender Grund könne bereits darin gesehen werden, dass der Steuerpflichtige mit einer Zurückstellung seines Antrags einverstanden gewesen sei.
Ferner hätten die Kläger in der Zeit nach Einreichung der Steuererklärungen bis zum Eintritt der Festsetzungsverjährung für die jeweiligen Streitjahre zur Verhinderung des Ablaufs der Festsetzungsfrist einen Antrag auf Steuerfestsetzung nach § 171 Abs. 3 AO stellen können und müssen. Dies sei nicht geschehen, denn Nachfragen zur Bearbeitung und Bitten um Beschleunigung des Verfahrens seien ebenso wie schriftliche Bitten um Durchführung der Veranlagung nach Abgabe der Steuererklärung lediglich deklaratorischer Natur, denen keine Wirkung i.S. eines Antrags nach § 171 Abs. 3 AO zukomme.
Im Übrigen wird zum Vorbringen der Parteien auf die wechselseitigen Schriftsätze, die eingereichten Anlagen und die Streitakten Bezug genommen.
Der Berichterstatter hat am 20.05.2022 einen Termin zur Erörterung der Sach- und Rechtslage durchgeführt. Die Beteiligten haben sich im Erörterungstermin mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt. Auf die Niederschrift des Termins wird Bezug genommen.
Neben den Streitakten des hiesigen Verfahrens haben vier Bände Einkommensteuerakten und ein Band Hinweisakten „Vorgänge alle VZ betreffend“ vorgelegen.
I.
Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt (§ 90 Abs. 2 FGO).
II.
Die zulässige Klage ist begründet.
1.
Die Klage ist als Verpflichtungsklage zulässig.
Es handelt sich um eine Verpflichtungsklage zur Durchführung der Einkommensteuerveranlagungen 2005, 2009, 2010 und 2013 (§ 40 Abs. 1, 2. Alternative Finanzgerichtsordnung --FGO--). Durch die Ablehnungsbescheide vom 22.06.2020 und 26.10.2020 hat der Beklagte die Durchführung dieser Veranlagungsverfahren abgelehnt, weil eine Steuerfestsetzung nach seiner Ansicht wegen eingetretener Festsetzungsverjährung nicht durchzuführen sei. Mit den materiellen Fragen der Besteuerung hat er sich noch nicht befasst, so dass insofern noch kein Vorverfahren stattgefunden hat.
Das hiesige Verfahren wird ausschließlich um die Frage geführt, ob der Beklagte die Veranlagung zur Einkommensteuer 2005, 2009, 2010 und 2013 wegen Eintritts von Festsetzungsverjährung ablehnen durfte. Weitergehende Feststellungen können im anhängigen Verfahren nicht getroffen werden. Die Sache kann insofern im anhängigen Verfahren auch nicht spruchreif gemacht werden. Deshalb kann im hiesigen Klageverfahren ein Bescheidungsurteil nur dahingehend ergehen, dass der Beklagte verpflichtet wird, die Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden (§ 101 Satz 2 FGO).
2.
Die Ablehnungsbescheide sind rechtswidrig und verletzen die Kläger in ihren Rechten (§ 101 Satz 1, Satz 2 FGO), denn hinsichtlich der Streitjahre 2005, 2009, 2010 und 2013 ist keine Festsetzungsverjährung gemäß § 169 Abs. 1 Satz 1 AO eingetreten, da der Fristablauf gemäß § 171 Abs. 3 AO wegen Antrags auf Steuerfestsetzung, jedenfalls aber gemäß § 171 Abs. 3a AO wegen Untätigkeitseinspruchs gehemmt war.
a) (1)
Der Kläger ist für die Kalenderjahre 2005, 2009 und 2010 nach § 46 Abs. 2 Nr. 1 Einkommensteuergesetz --EStG-- verpflichtend zur Einkommensteuer zu veranlagen, da die positive Summe seiner einkommensteuerpflichtigen Einkünfte, die nicht dem Steuerabzug vom Arbeitslohn zu unterwerfen waren (Beteiligungseinkünfte) und die positive Summe der Einkünfte und Leistungen, die dem Progressionsvorbehalt unterliegen (nach DBA steuerfreier Arbeitslohn, Lohnersatzleistungen, Arbeitslosengeld), jeweils mehr als 410 Euro betragen haben.
(2)
Die Kläger sind für das Kalenderjahr 2013 nach § 46 Abs. 2 Nr. 1 und 5 EStG verpflichtend zur Einkommensteuer zu veranlagen, da die positive Summe der einkommensteuerpflichtigen Einkünfte des Klägers, die nicht dem Steuerabzug vom Arbeitslohn zu unterwerfen waren (Beteiligungseinkünfte) mehr als 410 Euro betragen haben und zudem vom Arbeitgeber für den Kläger die Lohnsteuer für einen sonstigen Bezug im Sinne des § 34 Absatz 2 Nr. 2 EStG (Entschädigung im Sinne des § 24 Nr. 1 EStG für den Verlust des Arbeitsplatzes) nach § 39b Absatz 3 Satz 9 EStG ermittelt worden ist.
b)
Nach § 169 Abs. 1 Satz 1 AO ist eine Steuerfestsetzung nicht mehr zulässig, wenn die Festsetzungsfrist abgelaufen ist. Die Festsetzungsfrist beträgt nach § 169 Abs. 2 Nr. 2 Satz 1 AO für die Einkommensteuer, wenn diese - wie im Streitfall - nicht hinterzogen oder leichtfertig verkürzt worden ist, vier Jahre.
(1)
Grundsätzlich beginnt die Festsetzungsfrist mit Ablauf des Kalenderjahrs, in dem die Steuer entstanden ist (§ 170 Abs. 1 AO).
Abweichend davon beginnt die Festsetzungsfrist in Fällen, in denen der Steuerpflichtige zur Abgabe einer Steuererklärung verpflichtet ist, mit Ablauf des Kalenderjahrs, in dem die Steuererklärung eingereicht wird, spätestens mit Ablauf des dritten Kalenderjahres, das auf das Kalenderjahr folgt, in dem die Steuer entstanden ist (§ 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO).
(2)
Im Einzelnen ergeben sich danach für die Streitjahre nachstehende Festsetzungsfristen:
Jahr | Beginn | Abgabe | Beginn | Ende |
2005 | 31.12.2008 | 17.04.2009 | 31.12.2008 | 31.12.2012 |
2009 | 31.12.2012 | 07.07.2011 | 31.12.2011 | 31.12.2015 |
2010 | 31.12.2013 | 05.04.2012 | 31.12.2012 | 31.12.2016 |
2013 | 31.12.2016 | 08.04.2015 | 31.12.2015 | 31.12.2019 |
c)
Der Ablauf der Festsetzungsfrist war nach § 171 Abs. 3 AO für alle Streitjahre gehemmt, da die Kläger wirksame Anträge auf Steuerfestsetzung gestellt haben.
(1)
Nach der Rechtsprechung des BFH kann die Abgabe einer Steuererklärung nicht als Antrag i.S.d. § 171 Abs. 3 AO gewertet werden (vgl. BFH, Urteil vom 18.06.1991, VIII R 54/89, BStBl II 1992, 124; vom 25.01.1996, V R 42/95, BStBl II 1996, 338; vom 11.05.1995, V R 136/93, BFH/NV 1996, 1, m.w.N.). Danach ist eine Steuererklärung kein Ausdruck des Willens, besteuert zu werden; vielmehr kommt der Erklärende mit ihr nur seiner gesetzlich vorgegebenen Mitwirkungspflicht nach. Als Antrag i.S.d. § 171 Abs. 3 AO sind daher grundsätzlich nur Willenserklärungen zu verstehen, die ein Tätigwerden der Finanzbehörde außerhalb des infolge der Amtsmaxime ohnehin gebotenen Verwaltungshandelns auslösen sollen. Kein solcher Antrag ist die Abgabe einer gesetzlich vorgeschriebenen Steuererklärung, da sie nur der Durchführung der regulären Steuerfestsetzungstätigkeit der Finanzbehörden dient, die diese auch ohne Erklärungsabgabe - wenn auch unter erschwerten Bedingungen - vorzunehmen hätte. Dabei ist nicht maßgebend, ob die eingereichte Erklärung zu einer Steuernachforderung oder -erstattung führt. Entscheidend ist allein, ob eine gesetzliche Verpflichtung zur Abgabe einer Steuererklärung besteht.
Der Grundsatz, dass ein Antrag i.S.d. § 171 Abs. 3 AO auf ein Tätigwerden der Finanzbehörde außerhalb der Amtsmaxime gerichtet ist, gilt jedoch nicht ausnahmslos. Das ergibt sich bereits aus dem Wortlaut der Norm. § 171 Abs. 3 AO spricht von einem „Antrag“ und enthält als einzige Einschränkung diejenige, dass der Antrag außerhalb eines Einspruchs- oder Klageverfahrens gestellt sein muss. Der Wortlaut lässt nicht erkennen, dass die Vorschrift nur Anträge auf Maßnahmen erfassen soll, welche die Behörde nicht von Amts wegen vornehmen muss (BFH, Urteil vom 24.05.2006, I R 93/05, BStBl II 2007, 76). Deshalb unterfallen zum Beispiel auf § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO oder auf § 174 Abs. 3 AO gestützte Änderungsanträge dem Regelungsbereich des § 171 Abs. 3 AO. Auch jene Vorschriften erlegen der Behörde eine Pflicht zur Änderung auf (zu § 174 Abs. 3 AO vgl. BFH, Urteil vom 28.11.1989, VIII R 83/86, BStBl II 1990, 458, 459 m.w.N.).
Vor diesem Hintergrund hat der BFH klargestellt, dass für die fehlende Antragseigenschaft von Steuererklärungen nicht die Erwägung tragend ist, dass Anträge i.S.d. § 171 Abs. 3 AO nur auf ein Tätigwerden außerhalb des infolge der Amtsmaxime ohnehin gebotenen Verwaltungshandelns gerichtet sein können (BFH, Urteil vom 17.02.1998, VIII R 21/95, BFH/NV 1998, 1356); bestimmend ist vielmehr der Umstand, dass durch die Auslegung des Antragsbegriffs in § 171 Abs. 3 AO die in § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO abschließend geregelten Auswirkungen des Einreichungszeitpunkts von Steuererklärungen auf die Festsetzungsfrist nicht zum Nachteil desjenigen Steuerpflichtigen unterlaufen werden dürfen, der seiner gesetzlich auferlegten Erklärungsverpflichtung nachkommt (vgl. BFH, Urteil vom 18.06.1991, VIII R 54/89, BStBl II 1992, 124; vom 11.05.1995, V R 136/93, BFH/NV 1996, 1).
§ 171 Abs. 3 AO erfasst demnach alle - ausdrücklich oder stillschweigend - vorgetragenen Begehren oder Bitten an die Finanzbehörde auf ein entsprechendes Verwaltungshandeln, und zwar auch dann, wenn der Antrag auf Maßnahmen abzielt, welche die Behörde --wie eine Steuerfestsetzung-- von Amts wegen vornehmen muss (BFH, Urteil vom 22.01.2013, IX R 1/12, BStBl II 2013, 663; Urteil vom 24.06.2008, IX R 64/06, BFH/NV 2008, 1676, m.w.N.).
(2)
Die vom Kläger bzw. den Klägern aufgrund gesetzlicher Verpflichtung abgegebenen Einkommensteuererklärungen für die Streitjahre führen für sich allein betrachtet zu keiner Ablaufhemmung nach § 171 Abs. 3 AO. Dies ist zwischen den Beteiligten unstreitig. Der Senat sieht daher von weiteren Ausführungen ab.
Jedoch ergibt die Würdigung aller Umstände des konkreten Einzelfalls, dass die Kläger mit jeweils vor Ablauf der Festsetzungsfrist eingegangenen Schreiben für die Streitjahre jeweils einen Antrag auf Steuerfestsetzung mit den Rechtswirkungen des § 171 Abs. 3 AO gestellt haben, da darin ausdrücklich oder konkludent um die Vornahme von Steuerfestsetzungen für die jeweiligen Kalenderjahre gebeten wurde.
Konkret legt der Senat daher die nachstehenden Erklärungen des Klägers bzw. der Kläger jeweils als Antrag i.S.d. § 171 Abs. 3 AO gerichtet auf Durchführung der Veranlagung zur Einkommensteuer in Bezug auf die einzelnen Streitjahre aus:
VZ | Abgabe | Ablauf | Antrag auf Veranlagung |
2005 | 17.04.2009 | 31.12.2012 | Schreiben vom 26.06.2011:4 |
2009 | 07.07.2011 | 31.12.2015 | Schreiben vom 22.11.2013:5 |
2010 | 05.04.2012 | 31.12.2016 | |
2013 | 08.04.2015 | 31.12.2019 | Schreiben vom 31.03.2016:6 |
Soweit im Schreiben des Klägers vom 26.06.2011 – anders als in den übrigen vorstehend in Bezug genommenen Schreiben – nicht ausdrücklich um „Festsetzung der Einkommensteuer“ gebeten wird, wird gleichwohl ein genau darauf gerichtetes Rechtsschutzinteresse aus den im Rahmen der Auslegung mit zu berücksichtigenden Gesamtumständen deutlich. Unter Berücksichtigung des Umstands, dass der Kläger zum Zeitpunkt des Versands des Schreibens vom 26.06.2011 für die Kalenderjahre 2001 bis 2009, mithin für neun aufeinanderfolgende Veranlagungszeiträume Einkommensteuererklärungen abgegeben hatte, kann der Inhalt der Erklärung nur dahingehend ausgelegt werden, dass der Kläger die Durchführung der Veranlagung zur Einkommensteuer für den Veranlagungszeitraum 2005 begehre.
Im Übrigen vermag sich der Senat der Rechtsprechung des FG München (Urteil vom 20.10.2015, 12 K 1733/11, EFG 2016, 8) und des FG Berlin-Brandenburg (Urteil vom 24.07.2008, 6 K 10383/05 B, juris) und der diesen Entscheidungen folgenden Auslegung des beklagten Finanzamts, bei den vorstehend genannten Schreiben handele es sich lediglich um rechtlich unbeachtliche Erklärungen ausschließlich deklaratorischen Charakters, nicht anzuschließen. Nach Überzeugung des Senats wäre es nicht sachgerecht, dem ausdrücklich oder konkludent erklärten Willen der Kläger im vorliegenden Fall die fristhemmende Wirkung des § 171 Abs. 3 AO zu versagen.
Denn § 171 Abs. 3 AO hat nicht nur die Zielsetzung, der Behörde ausreichend Zeit zur Prüfung eines Antrags auf Steuerfestsetzung zu geben. Die Norm will auch und vor allem den Rechtsschutz des Bürgers verbessern: Sie stellt sicher, dass der Erfolg eines einmal gestellten Antrags nicht von der Arbeitsweise und -geschwindigkeit der Behörde abhängt; eine antragsgemäße Entscheidung soll nach dem Willen des Gesetzgebers nicht allein daran scheitern, dass die Behörde die Prüfung des Antrags nicht innerhalb der nach anderen Vorschriften zu bestimmenden Festsetzungsfrist abschließt (BFH, Urteil vom 24.05.2006, I R 93/05, BStBl II 2007, 76).
Es wäre auch mit den Grundsätzen eines fairen Verfahrens nicht zu vereinbaren, wenn die Behörde eine ihr mögliche und zumutbare Steuerfestsetzung innerhalb der Festsetzungsfrist nicht durchführt und die Steuerfestsetzung dann wegen Ablaufs der Festsetzungsfrist ablehnt. Der Steuerpflichtige wäre in diesem Fall im Besteuerungsverfahren praktisch schutzlos gestellt und müsste gegebenenfalls einen Amtshaftungsanspruch geltend machen. Wegen des Vorrangs des Primärrechtsschutzes ist daher eine Auslegung vorzuziehen, die dem Steuerpflichtigen bereits im Besteuerungsverfahren zu seinem Recht verhilft.
d)
Selbst wenn die vorstehend in Bezug genommenen Erklärungen der Kläger nicht als Anträge auf Steuerfestsetzung i.S.v. § 171 Abs. 3 AO einzuordnen sein sollten, sind diese nach Überzeugung des Senats jedenfalls als auf ein behördliches Tätigwerden gerichtete Anträge (Vornahme der Veranlagung zur Einkommensteuer) auszulegen, in Bezug auf welche die Kläger durch weitere Schreiben jeweils vor Eintritt der Festsetzungsverjährung für die einzelnen Streitjahre wirksam Untätigkeitseinsprüche eingelegt haben, sodass der Ablauf der Festsetzungsfrist jedenfalls gemäß § 171 Abs. 3a AO gehemmt war.
(1)
Außerprozessuale Verfahrenserklärungen sind entsprechend § 133 BGB auszulegen. Entscheidend ist, wie das FA als Erklärungsempfänger den objektiven Erklärungswert des Schreibens verstehen musste. Dabei ist bei auslegungsfähigen Rechtsbehelfen grundsätzlich davon auszugehen, der Steuerpflichtige habe denjenigen Rechtsbehelf einlegen wollen, der seinem materiell-rechtlichen Begehren am ehesten zum Erfolg verhilft. Die unrichtige Bezeichnung des Einspruchs allein schadet nach § 357 Abs. 1 Satz 4 AO nicht. Lässt deshalb die Äußerung eines Steuerpflichtigen ungewiss, ob er einen Rechtsbehelf einlegen will, so ist die Erklärung im Allgemeinen als Rechtsbehelf zu betrachten, um zugunsten des Steuerpflichtigen den Eintritt der Bestandskraft zu verhindern (vgl. BFH, Urteil vom 24.06.2008, IX R 64/06, HFR 2009, 43Rn. 18; Urteil vom 26.10.2004, IX R 23/04, BFH/NV 2005, 325, m.w.N.).
(2)
Soweit ein Untätigkeitseinspruch eingelegt wird, kommt grundsätzlich eine Ablaufhemmung gemäß § 171 Abs. 3a AO in Betracht (BFH, Urteil vom 22.01.2013, IX R 1/12, BStBl. II 2013, 663). Dies gilt jedoch nur, soweit der Rechtsbehelf – der Untätigkeitseinspruch – nicht unzulässig ist (§ 171 Abs. 3a Satz 2 2. Halbsatz AO). Gemäß § 347 Abs. 1 Satz 2 AO ist der Untätigkeitseinspruch statthaft, wenn geltend gemacht wird, dass in den in § 347 Abs. 1 Satz 1 AO bezeichneten Angelegenheiten über einen vom Einspruchsführer gestellten Antrag auf Erlass eines Verwaltungsakts ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes binnen angemessener Frist sachlich nicht entschieden worden ist. Die Möglichkeit eines Untätigkeitseinspruchs beruht u.a. darauf, dass die Beteiligten eines Besteuerungsverfahrens keinen Anspruch darauf haben, dass das Verfahren zu einem bestimmten Zeitpunkt begonnen wird und der Zeitpunkt des Beginns des Verwaltungsverfahrens im Ermessen der Finanzbehörde liegt (Wünsch in: Koenig, AO, 4. Aufl. 2021, § 86 Rn. 7 und 10). Als angemessene Frist wird regelmäßig ein Zeitraum von 6 Monaten erachtet (Cöster in: Koenig, AO, 4. Aufl. 2021, § 347 Rn. 31).
(3)
Nach Überzeugung des Senats sind unter Würdigung aller Umstände des konkreten Einzelfalls die jeweils vor Ablauf der jeweiligen Festsetzungsfrist eingegangenen Schreiben des Klägers bzw. der Kläger nach ihrem objektiven Erklärungsinhalt als Untätigkeitseinsprüche auszulegen, da darin ausdrücklich, jedenfalls aber konkludent eine alsbaldige Entscheidung des beklagten Finanzamts über die Anträge des Klägers bzw. der Kläger auf Veranlagung begehrt wird.
Die Untätigkeitseinsprüche sind auch zulässig gewesen, da seit dem jeweiligen Antrag jeweils mehr als sechs Monate vergangen sind, ohne dass das beklagte Finanzamt tätig geworden ist oder einen zureichenden Grund für seine Untätigkeit mitgeteilt hätte. Ein Einverständnis der Kläger mit einer Zurückstellung ihrer Anträge vermag der Senat nicht zu erkennen. Ganz im Gegenteil haben die Kläger immer und immer wieder eine alsbaldige Entscheidung des beklagten Finanzamts begehrt.
Im Einzelnen legt der Senat daher die nachstehenden Erklärungen der Kläger jeweils als Untätigkeitseinsprüche i.S.v. § 347 Abs. 1 Satz 2 AO gerichtet auf eine alsbaldige Entscheidung des beklagten Finanzamts über die Anträge auf Veranlagung aus:
VZ | Abgabe | Ablauf | Antrag | Untätigkeitseinspruch |
2005 | 17.04.2009 | 31.12.2012 | Schreiben vom 26.06.20117 | Schreiben vom 31.03.20128 |
2009 | 07.07.2011 | 31.12.2015 | Schreiben vom 22.11.20139 | Schreiben vom 31.03.201510 |
2010 | 05.04.2012 | 31.12.2016 | Schreiben vom 22.11.201311 | |
2013 | 08.04.2015 | 31.12.2019 | Schreiben vom 31.03.201612 | Schreiben vom 29.07.201713 |
e)
Die Frage, ob das beklagte Finanzamt durch Vornahme der Veranlagung des Klägers zur Einkommensteuer 2003 und 2004 im März und Mai 2019, lange nach Eintritt Festsetzungsverjährung, einen Vertrauenstatbestand in Bezug auf den Veranlagungszeitraum 2013 gesetzt hat, dessen Festsetzungsfrist erst am 31.12.2019 abgelaufen ist, kann nach Überzeugung des Senats aufgrund jedenfalls eingetretener Ablaufhemmung offen bleiben.
3.
Der Beklagte ist verpflichtet, den Kläger zur Einkommensteuer 2005, 2009 und 2010 sowie die Kläger zusammen zur Einkommensteuer 2013 zu veranlagen (§ 101 Satz 2 FGO).
Der Senat muss den Sachverhalt nur bis zur Entscheidungsreife für den Erlass eines Bescheidungsurteils aufklären, nicht aber hierüber hinaus. Die Aufgabe des Gerichts besteht nämlich nur darin, das bisher Geschehene oder Unterlassene auf seine Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen und nicht, grundsätzlich der Verwaltung zustehende Funktionen auszuüben. Das Gericht darf vor allem nicht von der Verwaltung bisher noch nicht geprüfte Sachverhalte aufgreifen und durch eigene Ermittlungen klären (so auch Stapperfend in Gräber, FGO, 9. Aufl. 2019, § 101 Rn. 6).
Der Senat ist nicht verpflichtet, Spruchreife nach § 101 Satz 1 FGO herbeizuführen und das beklagte Finanzamt zu verpflichten, die Einkommensteuerveranlagungen mit einem bestimmten Inhalt durchzuführen, denn ein solches Verpflichtungsurteil wäre nicht die Korrektur einer behördlichen Entscheidung, sondern würde eine erstmalige Entscheidung über die von den Klägern eingereichten Steuererklärungen darstellen. Dadurch würde den Klägern eine außergerichtliche Instanz genommen (BFH, Urteil vom 02.06.2005, III R 66/04, BStBl II 2005, 184).
III.
Die Revision wird zugelassen wegen grundsätzlicher Bedeutung der bisher höchstrichterlich noch nicht entschiedenen Rechtsfrage, ob in der nach der Abgabe einer gesetzlich vorgeschriebenen Steuererklärung geäußerten Bitte um Bearbeitung, ein eigenständiger Antrag gemäß § 171 Abs. 3 AO zu sehen ist (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO), und weil im Hinblick auf die einen solchen eigenständigen Antrag ablehnenden Entscheidungen des FG München (Urteil v. 20.10.2015, 12 K 1733/11, EFG 2016, 8) und des FG Berlin-Brandenburg (Urteil v. 24.07.2008, 6 K 10383/05 B, juris) die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (wie hier FG Baden-Württemberg, Urteil v. 07.05.2009, 1 K 454/04, juris) eine Entscheidung des Bundesfinanzhofs erfordert (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO).
IV.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 151 FGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 10, 711 Zivilprozessordnung --ZPO--.