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Entscheidung 12 U 203/21


Metadaten

Gericht OLG Brandenburg 12. Zivilsenat Entscheidungsdatum 12.07.2022
Aktenzeichen 12 U 203/21 ECLI ECLI:DE:OLGBB:2022:0712.12U203.21.00
Dokumententyp Beschluss Verfahrensgang -
Normen

Tenor

1. Der Senat beabsichtigt, die Berufungen der Parteien gegen das am 05.11.2021 verkündete Urteil der 5. Zivilkammer - Einzelrichterin - des Landgerichts Neuruppin, Az. 5 O 291/20, gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen.

2. Hierzu besteht Gelegenheit zur Stellungnahme binnen vier Wochen nach Zustellung dieses Beschlusses.

Gründe

I.

Die am … 2005 geborene Klägerin macht Schadensersatzansprüche nach einem Verkehrsunfall am … 2019 gegen 15:43 Uhr in Sch… geltend. Der Beklagte zu 1 war Halter des polnischen Lkw-Zugs mit dem amtlichen Kennzeichen …. nebst Anhänger mit dem amtlichen Kennzeichen … . Das Fahrzeug ist bei der … haftpflichtversichert.

An der Kreuzung Sch…/W… hielt der Linienbus … an der dort gelegenen Haltestelle mit eingeschalteter Warnblinkanlage. Die Klägerin beabsichtigte, hinter dem Bus die B … zu überqueren. Der Lkw-Zug befuhr die Gegenfahrbahn in südlicher Richtung mit mindestens 62 km/h. Die Klägerin, die noch versucht hatte, durch Wegrennen der Kollision zu entgehen, stieß mit dem rechten Scheinwerfer des LKWs zusammen und wurde bei einer Kollisionsgeschwindigkeit von ca. 40-45 km/h schwer verletzt.

Sie hat die Auffassung vertreten, wegen der deutlichen Geschwindigkeitsüberschreitung des Lkw-Fahrers, der den Bereich des haltenden Busses lediglich mit Schrittgeschwindigkeit habe passieren dürfen, würden der Halter des Fahrzeugs sowie die Beklagte zu 2 als gemäß §§ 6 Abs. 1 AuslPflVG, 115 VVG zuständiger Versicherer allein haften. Dass die Klägerin über Ohrhörer Musik gehört habe und deshalb in besonderem Maße unaufmerksam gewesen sei, träfe nicht zu.

Die Beklagten haben die Haftung dem Grunde nach nicht in Abrede gestellt, gehen jedoch aufgrund der besonderen Unaufmerksamkeit der Klägerin von einem Mitverschulden von 50 % aus.

Das Landgericht hat festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, der Klägerin die aus dem Verkehrsunfall entstandenen und zukünftig noch entstehenden materiellen und immateriellen Schäden im Umfang von 80 % zu ersetzen, soweit diese nicht auf Dritte übergegangen sind oder übergehen werden. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Beklagten hafteten bereits aus der Betriebsgefahr gemäß §§ 7 Abs. 1 StVG, 115 Abs. 1 VVG, 6 AuslPflVG. Hinzu trete ein grober Verkehrsverstoß des Fahrers des Lkw´s gegen die Regel des § 20 Abs. 4 StVO. Dieser habe den mit eingeschalteter Warnblinkanlage im Bereich der Haltestelle stehenden Linienbus lediglich mit Schrittgeschwindigkeit, d. h. 5-7 km/h passieren dürfen. Tatsächlich sei er mit einer Ausgangsgeschwindigkeit von ca. 62 km/h gefahren. Eine höhere Geschwindigkeit habe nach dem Sachverständigengutachten der … GmbH vom 14.03.2019 nicht nachgewiesen werden können. Hätte er die Schrittgeschwindigkeit eingehalten, wäre der Unfall zu vermeiden gewesen. Der Verkehrsverstoß gegen § 3 Abs. 1 StVO wegen Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 60 km/h bleibe wegen der geringfügigen Überhöhung um 2 km/h außer Betracht. Die Klägerin müsse sich jedoch im Rahmen der §§ 9 StVG, 254 Abs. 1 BGB ein Mitverschulden zurechnen lassen. Die zum Unfallzeitpunkt 13-jährige Klägerin sei in der Lage gewesen, die im Verkehr erforderliche Sorgfalt zu beachten und lediglich bis zur gedachten Mittellinie zu gehen, um den sich nähernden Gegenverkehr zu berücksichtigen. Sie habe zugleich die erforderliche Einsicht, die Verantwortlichkeit für ein fahrlässig fehlerhaftes Verhalten im Straßenverkehr zu erkennen und danach zu handeln. Auf den vorliegenden Fotos der Buskamera sei zudem zu erkennen, dass sie noch beim Überqueren der Fahrbahn Kopfhörer trug. Mithin sei davon auszugehen, dass sie durch abgespielte Musik o. ä. abgelenkt gewesen sei und deshalb den Lkw nicht bemerkte. Dies sei auch durch die als Urkundsbeweis gewerteten schriftlichen Aussagen der im staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahren angehörten Zeugen (X) und (Y) belegt. Erst das Hupen habe die Klägerin aufschrecken lassen. Damit liege ein Verstoß gegen § 25 Abs. 3 S. 1 StVO vor. Eine Mithaftung nach dieser Vorschrift sei auch wegen § 20 Abs. 4 StVO nicht ausgeschlossen. Diese Schutzvorschrift erhöhe lediglich die Sorgfaltsanforderungen für den Kfz-Verkehr. Ohne den Pflichtverstoß wäre auch für die Klägerin der Unfall vermeidbar gewesen. Bei der Abwägung der Verschuldens- und Verursachungsbeiträge rechtfertige sich eine Haftungsverteilung von 80 % zulasten der Beklagten. Wegen der tatsächlichen Feststellungen und rechtlichen Begründung im Übrigen wird auf das Urteil Bezug genommen.

Die Beklagten haben gegen das ihren Prozessbevollmächtigten am 08.11.2021 zugestellte Urteil mit einem am 23.11.2021 beim Brandenburgischen Oberlandesgericht eingegangenem Schriftsatz Berufung eingelegt und diese am 27.12.2021 begründet. Sie führen aus, das Landgericht habe den Unfallhergang zutreffend beurteilt und dem Grunde nach zu Recht eine Haftung der Beklagten erkannt. Allerdings habe es das Mitverschulden der Klägerin zu gering bewertet. Bei Abwägung beider Verursachungsanteile sei vielmehr eine Haftungsteilung gerechtfertigt. Dies finde auch Übereinstimmung mit der obergerichtlichen Rechtsprechung.

Sie haben angekündigt zu beantragen,

unter Abänderung des am 05.11.2021 verkündeten Urteils des Landgerichts Neuruppin, Az. 5 O 291/20, festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, der Klägerin sämtliche ihr aus dem Verkehrsunfall vom … 2019 in Sch… entstandenen und zukünftig noch entstehenden materiellen und immateriellen Schäden im Umfang von 50 % zu ersetzen, soweit diese nicht auf Sozialversicherungsträger oder andere Dritte übergegangen sind oder übergehen werden;

ferner, die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.

Die Klägerin hat ebenfalls gegen das ihren Prozessbevollmächtigten am 09.11.2021 zugestellte Urteil mit am 09.12.2021 beim Brandenburgischen Oberlandesgericht eingegangenem Schriftsatz Berufung eingelegt und innerhalb der bis zum 10.02.2022 verlängerten Berufungsbegründungsfrist an diesem Tag begründet. Sie hat insoweit angekündigt zu beantragen,

unter Abänderung des Urteils des Landgerichts Neuruppin vom 05.11.2021 festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, der Klägerin sämtliche ihr aus dem Verkehrsunfall vom … 2019 in Sch… entstandenen und zukünftig noch entstehenden materiellen und immateriellen Schäden vollständig zu ersetzen, soweit diese nicht auf Sozialversicherungsträger oder andere Dritte übergegangen sind oder übergehen werden; sowie die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Zur Begründung führt sie aus, das Landgericht gehe für die Mithaftung nicht von festgestellten Tatsachen, sondern von Vermutungen aus, wie die Formulierung „Hier ist davon auszugehen...“ zeige. Dass die Klägerin von Musik o.ä. abgelenkt gewesen sei, wäre bestritten und nicht mehr aufklärbar gewesen, nachdem sie sich an den Unfall nicht mehr erinnere. Gleiches gelte für die Annahme, die Klägerin hätte den LKW akustisch wahrnehmen müssen. Das bestrittene Vorbringen hätte daher nicht der Entscheidung zugrunde gelegt werden dürfen. Auch die schriftlichen Aussagen der Zeugen (X) und (Y) seien falsch verwertet worden. Es handele sich hier lediglich um Privaturkunden, die nicht den Beweis der Richtigkeit des darin geschilderten Sachverhalts erbringen könnten. Zudem habe das Gericht darauf hinweisen müssen, wenn es die Urkunden verwertet. Dass sie flüssigen Schrittes gegangen und durch das Hupen des Zeugen (Y) aufgeschreckt sei, ergebe sich lediglich aus den Darstellungen, sei jedoch nicht zum Tatsachenvortrag erhoben worden. Im Übrigen sei der Mitverursachungsanteil unter Berücksichtigung des Schutzzweckes des § 20 StVO als auch der erheblichen Geschwindigkeitsüberschreitung sowie der Betriebsgefahr des LKW´s falsch gewichtet worden.

II.

Die zulässigen Berufungen beider Parteien sind offensichtlich unbegründet. Es geht weder um eine Rechtssache von grundsätzlicher Bedeutung, noch erfordert die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung die Entscheidung des Berufungsgerichts durch Urteil. Die Rechtsmittel bieten zudem schon aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung keine Aussicht auf Erfolg. Denn das Urteil beruht weder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von § 546 ZPO, noch rechtfertigen die vom Gericht des ersten Rechtszuges festgestellten und nach § 529 ZPO vom Senat seiner Entscheidung zu Grunde zu legenden Tatsachen eine abweichende Beurteilung (§ 513 Abs. 1 ZPO). Ebenso wenig ist eine mündliche Verhandlung über die Sache gemäß § 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 ZPO geboten.

1. Das Landgericht geht zu Recht und mit zutreffender Begründung, auf die zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen wird, von einer Haftung der Beklagten dem Grunde nach gemäß §§ 7 Abs. 1 StVG, 115 Abs. 1 VVG, 6 AuslPflVG aus.

2. Gegenstand der Berufung der Parteien ist lediglich der Umfang der Anspruchskürzung im Rahmen eines gemäß §§ 9 StVG, 254 Abs. 1 BGB zu berücksichtigenden Mitverschuldens der Klägerin. Dabei ist in erster Linie auf das Maß der beiderseitigen Verursachung abzustellen. Damit ist gemeint, mit welchem Grad von Wahrscheinlichkeit die beiderseitigen Verhaltensweisen zur Herbeiführung des Schadens geeignet waren. Der Grad dieser Wahrscheinlichkeit entspricht dann dem Maß der Verantwortlichkeit für den Schaden, und zwar unabhängig von der zeitlichen Reihenfolge dieser Verhaltensweisen (jeweils mit Hinweis auf die Rechtsprechung des BGH: Ebert in: Erman BGB, Kommentar, § 254 Mitverschulden, Rn. 86). In zweiter Linie ist das Maß des Verschuldens in die Erwägungen einzubeziehen (BGH, Urteil vom 17. November 1960 – VII ZR 56/59 –, BGHZ 33, 293-302, Rn. 42). Bei der Abwägung sind nur nachgewiesene oder unstreitige Tatsachen zu berücksichtigen.

Im Ergebnis dieser gebotenen Abwägung ist das Landgericht zutreffend zu einer Haftungsverteilung von 80 % zu 20 % zu Lasten der Beklagten gelangt.

a) Die gesteigerten Sorgfaltspflichten des hier im Raum stehenden Verstoßes gegen § 20 Abs. 4 StVO hindern es nicht, eine Mitverursachung der Schäden durch den Geschädigten selbst in einer Abwägung zu berücksichtigen (vgl. BGH, Urteil vom 28. März 2006 – VI ZR 50/05 –, juris). Vielmehr verbleibt es bei den allgemeinen Abwägungsgrundsätzen.

b) Bei der Abwägung der beiderseitigen Verursachungsanteile bleibt allerdings kein Raum für eine Haftungsteilung, wie sie von den Beklagten gesehen wird. Eine solche kommt nach der Rechtsprechung allenfalls im Anwendungsbereich des § 21 Abs. 1 StVO in Betracht. Vorliegend stellen sich jedoch an den Kraftfahrer gemäß § 20 Abs. 4 StVO erhöhte Anforderungen gerade zum Schutze des unaufmerksamen und ggf. abgelenkten Fußgängers. Gerade deshalb hat er, wenn er sich wie vorliegend einem an der Haltestelle mit angeschaltetem Warnlicht stehenden Bus nähert, seine Geschwindigkeit auf Schrittgeschwindigkeit zu reduzieren oder sogar ganz anzuhalten und einen entsprechenden Seitenabstand zu wahren. Dabei begründet die Vorschrift die höchsten an den Kraftfahrer zu stellenden Anforderungen, nach denen eine Gefährdung von Fahrgästen ausgeschlossen werden soll (vgl. zu § 20 Abs. 1 StVO auch BGH, a.a.O., juris). Diesen Anforderungen ist der Fahrer des vom Beklagten zu 1 gehaltenen und bei der Beklagten zu 2 haftpflichtversicherten Lkw´s nicht nachgekommen. Mit einer Fahrgeschwindigkeit von 62 km/h hat der Fahrer des Lastzuges diese Grundsätze nicht beachtet und damit die entscheidende Ursache für den Unfall und die erheblichen Verletzungen der Klägerin gesetzt. Lediglich ergänzend ist auszuführen, dass nach dem vorliegenden Unfallrekonstruktionsgutachten der Unfall bei Einhaltung der Schrittgeschwindigkeit vermeidbar gewesen wäre.

Weiter ist zulasten der Beklagten die erhöhte Betriebsgefahr des Lkw´s mit Anhänger zu berücksichtigen. Keinen entscheidenden Einfluss auf die Haftung der Beklagten hat – wie bereits das Landgericht ausgeführt hat – der weitere geringfügige Verstoß gegen § 3 Abs. 3 Nr. 2b StVO. Hiergegen ist aus Rechtsgründen nichts zu erinnern und wird auch von den Parteien nicht in Abrede gestellt.

Dabei stellt sich das Verhalten des Fahrers des Lkw´s als grob fahrlässig dar. Zwar hat er die gebotene allgemeine Obacht im Straßenverkehr eingehalten; insbesondere gibt es keine Anhaltspunkte für eine verzögerte Reaktion auf die hinter dem Bus hervortretende Klägerin. Allerdings hat er als Führer eines Lastkraftwagens die maßgebenden Verkehrsvorschriften zu kennen und sich danach zu richten. Die bei Einsatz aller seiner geistigen Erkenntniskräfte und bei einem Bemühen um Ausräumung von Zweifeln, erforderlichenfalls durch Einholung von Rat (vgl. Geigel Haftpflichtprozess, Kap. 1 Grundlagen der Haftung Rn. 67, beck-online) vermeidbare Unkenntnis von den Maßgaben des § 20 Abs. 4 StVO entlastet nicht. Dieser Verschuldensvorwurf mündet in den erheblichen Verkehrsverstoß und ist zugleich Grund für die um ein Vielfaches erfolgte Überschreitung der danach zulässigen Schrittgeschwindigkeit. Allerdings gibt der Sachverhalt keinen Anlass für die Annahme eines besonders rücksichtslosen, von Eigeninteresse geprägten oder gar (bedingt) vorsätzlichen Verhaltens.

c) Aber auch die Klägerin muss sich einen erheblichen Unfallbeitrag entgegenhalten lassen.

aa) Die Verantwortlichkeit der Klägerin ist nicht nach Maßgabe des § 828 Abs. 3 BGB eingeschränkt. Es besitzt derjenige die zur Erkenntnis seiner Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht im Sinne des § 828 Abs. 3 BGB, der nach seiner individuellen Verstandesentwicklung fähig ist, das Gefährliche seines Tuns zu erkennen und sich der Verantwortung für die Folgen seines Tuns bewusst zu sein. Auf die individuelle Fähigkeit, sich dieser Einsicht gemäß zu verhalten, kommt es insoweit nicht an (BGH, Urteil v. 30.11.2004, Az. IV ZR 335/03). Es steht für den Senat außer Zweifel, dass ein junger Mensch im Alter von 13 Jahren ohne weiteres über die erforderliche Einsicht verfügt, die Verantwortlichkeit für ein fahrlässig-fehlerhaftes Verhalten im Straßenverkehr zu erkennen (Senat, Beschluss vom 03.01.2019 – 12 U 133/18 –, Rn. 20, juris). Die vorliegende Situation weist auch keine Besonderheiten auf, die es als möglich erscheinen lassen, dass die Klägerin nicht in der Lage war, die Pflicht zur Beachtung des Fahrzeugverkehrs zu beachten und danach zu handeln. Es werden auch keine Anhaltspunkte vorgetragen oder sind sonst ersichtlich, die eine andere Bewertung gebieten.

bb) Im Ergebnis zutreffend sieht das Landgericht einen Verstoß der Klägerin gegen § 25 Abs. 3 StVO, der seinerseits einen erheblichen Verursachungsbeitrag zum Unfallgeschehen geleistet hat.

Grundsatz ist, dass zu Fuß Gehende vor und beim Überqueren der Fahrbahn auf den Fahrzeugverkehr zu achten haben, vor allem darauf, dass sie nicht in die Fahrbahn eines Fahrzeugs geraten und dieses behindern. Das Achten auf bevorrechtigte Fahrzeuge stellt eine elementare Grundregel des Straßenverkehrs dar, die jedem zu Fuß Gehenden, der eine Straße überschreiten will, einleuchten muss. Die Nichtbeachtung dieses Gebotes stellt im Grundsatz ein erhebliches Verschulden dar (Rogler in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl., § 25 StVO (Stand: 01.12.2021), Rn. 76, 80). Auch der Anwendungsbereich des § 20 Abs. 4 StVO entlastet den Fußgänger nicht von dieser Verhaltensregel. Vielmehr soll er lediglich den Schutz der Benutzer öffentlicher Verkehrsmittel vor den Gefahren des Fahrzeugverkehrs erweitern (BR-Drs. 371/95, S. 4).

Der Verstoß gegen § 25 StVO folgt bereits daraus, dass die Klägerin nach den unstreitigen Feststellungen des Sachverständigen Dipl.-Ing. B…, auf die die Beklagten Bezug genommen haben und dem die Klägerin nicht entgegengetreten ist, bei der gebotenen Obacht und dem erforderlichen Schauen nach rechts, den herannahenden Lkw hätte bemerken und von einem Überqueren der Straße Abstand nehmen können und müssen. Es handelt sich um eine gerade und gut einsehbare Straße; der Lkw befand sich zum Zeitpunkt des Austritts der Klägerin aus dem Sichtschatten des Busses lediglich 70 m entfernt. Ob sie den Lkw lediglich optisch oder zusätzlich auch akustisch wahrnehmen konnte, bleibt für die rechtliche Beurteilung ebenso unerheblich wie für die Beurteilung des Verursachungsbeitrages am Unfallgeschehen im Rahmen der Verschuldensabwägung.

Vorliegend hat die Klägerin die Straße eilig und unachtsam überquert, ohne durch Schauen nach rechts auf den fließenden Fahrzeugverkehr zu achten, wobei sie im Bereich der Fahrstreifentrennung ohne Weiteres hätte zunächst stehenbleiben können. Dabei hatte sie Kopfhörer im Ohr und schaute während des Überquerens der ersten Fahrbahnhälfte auf ihr Handy. Diesen – vom Landgericht im Tatbestand zutreffend als unstreitig dargestellten – Sachverhalt haben die Beklagten erstinstanzlich unter Bezugnahme auf die Aussagen der Zeugen (X) und (Y) vorgetragen und damit nicht nur zitiert, sondern sich diese Aussagen zu eigen gemacht. Die Klägerin ist dem erstinstanzlich nicht entgegen getreten. Dass sie auf ihr Handy schaute, hat sie in ihrer Duplik vielmehr selbst aufgegriffen und damit begründet, keine Musik gehört zu haben. Im Übrigen hat sie – ohne den Sachvortrag in Abrede zu stellen – lediglich ausgeführt, es sei unerheblich, ob die Klägerin unaufmerksam war. Streitig geblieben war allein, ob die Klägerin Musik hörte und dadurch besonders abgelenkt war. Hierauf kommt es jedoch nicht an. Denn bereits die feststehenden unstreitigen Tatsachen belegen ein besonders unachtsames Handeln der Klägerin, die aufgrund des Blickes auf ihr Handy abgelenkt war und in keiner Weise auf den Fahrzeugverkehr geachtet hat. Ob daneben Musik lief oder ob die Kopfhörer abgeschaltet waren, ändert daran nichts. Es bedarf deshalb auch keiner Entscheidung darüber, ob das Landgericht verfahrensrechtlich zutreffend dem Urteil eine entsprechende Vermutung zugrunde legen konnte. Ebenso wenig stellt sich die Frage der Zulässigkeit der urkundlichen Verwertung der im Ermittlungsverfahren erfolgten Zeugenaussagen (vgl. insoweit BGH, Urteil vom 03. März 2016 – I ZR 245/14 –, Rn. 19, juris).

Erstmals mit der Berufungsbegründung stellt sie diesen Tatsachenvortrag in Abrede und bestreitet praktisch mit Nichtwissen. Nicht nur, dass dieses Bestreiten nach § 531 Abs. 2 ZPO nicht mehr zu berücksichtigen ist, denn neu im Sinne der Vorschrift ist auch ein erstmaliges Bestreiten (MüKoZPO/Rimmelspacher, 6. Aufl. 2020, ZPO § 520 Rn. 67). Bereits in erster Instanz haben die Parteien gerade über das Verhalten der Klägerin und ein zu berücksichtigendes Mitverschulden gestritten, so dass es eines gesonderten Hinweises des Landgerichts auf ein fehlendes Bestreiten - soweit hier, was dem Verhandlungsprotokoll nicht zu entnehmen ist, eine Erörterung der Problematik in der mündlichen Verhandlung nicht erfolgt sein sollte - nicht bedurfte. Dies gilt vor allem vor dem Hintergrund, dass ein partielles Bestreiten (Musik hören) erfolgte und deshalb kein Anlass für die Annahme bestand, ein Bestreiten des Vortrages sei nur versehentlich nicht erfolgt. Die Klägerin trägt auch nicht vor, warum sie - ohne Verschulden - von einem Bestreiten bereits in erster Instanz Abstand genommen hat, § 531 Abs. 2 Nr. 3 ZPO.

Im Übrigen ist es dem Gericht nicht verwehrt, den durch Urkunden oder - wenn deren Echtheit wie hier nicht bestritten ist (BeckOK ZPO/Kratz, 44. Ed. 1.3.2022, ZPO § 592) - deren Kopien belegten Tatsachenvortrag zu bewerten und so im Rahmen der freien Beweiswürdigung eine Überzeugung vom Geschehensablauf zu erlangen. Insoweit können auch die im Rahmen einer schriftlichen Zeugenaussage gemachten Angaben im Strafverfahren in die erforderliche Gesamtbewertung einfließen. Dabei war sich das Landgericht - wie sich aus den Urteilsgründen klar ergibt - darüber bewusst, dass hier lediglich Urkunden bewertet wurden und keine Zeugenaussage, der ein anderer Beweiswert zukommt. Insoweit handelt es sich nicht um eine die Zeugeneinvernahme ersetzende Beweiserhebung. Die Dokumente waren auch entsprechend verwertbar.

In der ZPO besteht keine dem § 250 StPO entsprechende Regelung, wonach, wenn der Beweis einer Tatsache auf der Wahrnehmung einer Person beruht, diese in der Hauptverhandlung zu vernehmen ist und die Vernehmung nicht durch Verlesung des über eine frühere Vernehmung aufgenommenen Protokolls oder einer schriftlichen Erklärung ersetzt werden darf. Vielmehr bestimmt § 377 Abs. 3 ZPO ausdrücklich, dass das Gericht eine schriftliche Beantwortung der Beweisfrage anordnen kann, wenn es dies im Hinblick auf den Inhalt der Beweisfrage und die Person des Zeugen für ausreichend erachtet. Unter den durch die Vorschrift vorgegebenen Voraussetzungen ist also schon nach dem Gesetz eine Beweiswürdigung auf Grund der privatschriftlichen Erklärung eines Zeugen möglich. Darüber hinaus kann der Beweisführer statt des Beweises durch Zeugen oder Sachverständige den Urkundenbeweis wählen. Auch eine Privaturkunde, die ein Zeugnis oder Gutachten ersetzen soll, kann im Wege des Urkundenbeweises beigebracht werden. Einer Zustimmung des Gegners bedarf die Führung des Urkundenbeweises nicht. Der Urkundenbeweis unterliegt der freien Beweiswürdigung (BGH, Urteil vom 13. 2. 2007 - VI ZR 58/06, NJW-RR 2007, 1077, beck-online).

Schließlich macht die Klägerin - auch wenn das Landgericht hier einen Hinweis auf die Urkundsverwertung nicht erteilt hat - mit der Berufung nicht geltend, dass sie im Falle eines Hinweises ausdrücklich widersprochen oder selbst einen Beweis angetreten hätte (BGH, Urteil vom 3.3.2016 – I ZR 245/14 -, Rn. 22).

Im Ergebnis zutreffend geht das Landgericht hier von einem groben Fahrlässigkeitsvorwurf aus. Denn das Verhalten der Klägerin lässt eine besondere Gedankenlosigkeit und Unachtsamkeit erkennen.

d) Nach dem Dargelegten ist der Haftungsanteil der Beklagten als überwiegend anzusehen. Allerdings tritt die Mithaftung der Klägerin nicht zurück. So kann zwar die ganz erhebliche Geschwindigkeitsüberschreitung einen Haftungsanteil derart relativieren, dass die Mithaftung ganz zurücktritt (BGH, Urteil vom 14-02-1984 - VI ZR 229/82 -, NJW 1984, 1962, beck-online). Hierbei ist jedoch der besondere Umstand zu berücksichtigen, dass diese erhebliche Geschwindigkeitsüberschreitung lediglich Folge der vorwerfbaren Unkenntnis der Verkehrsvorschrift ist. Mithin besteht für den Senat kein Anlass für eine vom Landgericht abweichende Haftungsverteilung.

3. Mithin bestehen für beide Berufungen offensichtlich keine Erfolgsaussichten. Zur Reduzierung von Kosten wird deshalb angeregt, die jeweilige Berufung zurück zu nehmen.