Gericht | OVG Berlin-Brandenburg 12. Senat | Entscheidungsdatum | 15.09.2022 | |
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Aktenzeichen | 12 S 33/22 | ECLI | ECLI:DE:OVGBEBB:2022:0915.12S33.22.00 | |
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 27 Abs 3a Nr 1 AufenthG, Art 6 Abs 1 GG, Art 8 Abs 1 MRK, Art 20 AEUV, § 48 VwVfG, § 80 Abs 5 VwGO |
Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 29. August 2022 wird zurückgewiesen.
Die Kosten der Beschwerde trägt die Antragsgegnerin mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen, die dieser selbst trägt.
Der Wert des Beschwerdegegenstandes wird auf 2.500 EUR festgesetzt.
Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Das Beschwerdevorbringen, das nach § 146 Abs. 4 VwGO den Umfang der Überprüfung durch das Oberverwaltungsgericht bestimmt, rechtfertigt keine Änderung oder Aufhebung des erstinstanzlichen Beschlusses.
Die Antragsgegnerin stellt damit die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Regelung des § 27 Abs. 3a Nr. 1 AufenthG stehe der Erteilung des Visums für den Antragsteller zum Nachzug zu seiner deutschen Ehefrau voraussichtlich nicht entgegen, weshalb die Rücknahme des bereits erteilten Visums sich im Klageverfahren voraussichtlich als rechtswidrig erweisen werde, nicht durchgreifend in Frage (I). Ebenso wenig vermag ihr Vorbringen die weitere Annahme des Verwaltungsgerichts zu erschüttern, bei einem offenen Ausgang des Hauptsacheverfahrens überwiege das Interesse des Antragstellers an der einstweiligen Suspendierung des Rücknahmebescheids das öffentliche Interesse an dessen sofortiger Vollziehung (II).
I. Gemäß § 27 Abs. 3a Nr. 1 AufenthG ist die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis zum Zweck des Familiennachzugs zu versagen, wenn derjenige, zu dem der Familiennachzug stattfinden soll (im Folgenden: Referenzperson), die freiheitliche demokratische Grundordnung oder die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährdet; hiervon ist u. a. (und hier nur relevant) auszugehen, wenn Tatsachen die Schlussfolgerung rechtfertigen, dass er einer Vereinigung angehört oder angehört hat, die den Terrorismus unterstützt oder er eine derartige Vereinigung unterstützt oder unterstützt hat.
Der Grundtatbestand des § 27 Abs. 3a Nr. 1 wie auch der Nr. 3 und 4 AufenthG verweist auf ein gegenwartsbezogenes Verhalten, wenn danach verlangt wird, dass der Betroffene die freiheitliche demokratische Grundordnung „gefährdet“ (Nr. 1), sich an Gewalttätigkeiten „beteiligt“ bzw. dazu öffentlich „aufruft“ oder „droht“ (Nr. 3) oder zum Hass gegen Teile der Bevölkerung „aufruft“ (Nr. 4). Mit guten Gründen wird daher vertreten, Behörden und Gerichte müssten bei einer öffentlichen und glaubhaften Distanzierung der Referenzperson von ihrem früheren tatbestandsmäßigen Verhalten auch ohne eine gesetzliche Rückausnahme, wie sie im ursprünglichen Entwurf des Familiennachzugsneuregelungsgesetzes (BR-Drs. 175/18 S. 2 und 13) noch vorgesehen war, prüfen, ob der Nachzug verweigert werden darf (so etwa Thym, Stellungnahme für die Öffentliche Anhörung des Innenausschusses des Deutschen Bundestags, Ausschussdrucksache 19(4)57 H S. 9; Dienelt, in: Bergmann/Dienelt, AuslR, 13. Aufl., § 27 Rn. 89). Bei einem solchen Verständnis wäre etwa der Familiennachzug zu einem Deutschen, der sich im dschihadistischen Milieu radikalisiert hatte, inzwischen jedoch glaubhaft abwandte, bereits nach einfachem Recht tatbestandlich nicht dauerhaft zu verweigern (so zutr. Thym, a. a. O.).
Daran gemessen steht der Wortlaut des § 27 Abs. 3a Nr. 1 AufenthG entgegen der Beschwerde jedenfalls einer verfassungskonformen Auslegung der Regelung nicht entgegen, wie das Verwaltungsgericht sie für geboten erachtet und vorgenommen hat. Denn der Passus im Gesetz, „hiervon ist auszugehen, wenn Tatsachen die Schlussfolgerung rechtfertigen, dass (die Referenzperson einer der genannten Vereinigungen) angehört hat (…) oder (sie) eine derartige Vereinigung unterstützt (…) hat“, rechtfertigt vor dem Hintergrund des im Gesetzgebungsverfahren auch vom Ausschuss für Inneres und Heimat (BT-Drs. 19/2740) unbeanstandet gelassenen Gegenwartsbezugs des ersten Halbsatzes auch ein Verständnis der Norm, nach dem in der Vergangenheit begangene Unterstützungshandlungen auch und nur dann noch eine gegenwärtige Gefährdung der genannten Schutzgüter darstellen, wenn es an einer glaubhaften und nachhaltigen Distanzierung vom früheren Verhalten fehlt.
Dass der Gesetzgeber ohne jegliche Möglichkeit der Berücksichtigung des gegenwärtigen Verhaltens auch einer Referenzperson deutscher Staatsangehörigkeit ohne jegliche zeitliche Einschränkung den Belangen des Schutzes von Ehe und Familie aus Art. 6 GG und Art. 8 EMRK hinreichend Rechnung getragen hätte, wie die Beschwerde meint, unterliegt erheblichen Zweifeln, wie das Verwaltungsgericht im Einzelnen dargelegt hat und worauf Bezug genommen werden kann. Nach dem Verständnis der Antragsgegnerin würde die Regelung ausnahmslos für alle Zeit die Eheführung (auch) einer (deutschen) Referenzperson, die sich ggf. bereits vor langer Zeit des inkriminierten Verhaltens schuldig gemacht hat, mit einem ausländischen Ehepartner im Bundesgebiet ausschließen, ungeachtet der Möglichkeit und Zumutbarkeit einer Eheführung im Heimatland des ausländischen Ehepartners oder einem Drittstaat. Dies begegnet erheblichen Bedenken.
Auch der Einwand der Antragsgegnerin, die Genese der Regelung des § 27 Abs. 3a Nr. 1 AufenthG, namentlich die Begründung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Inneres und Heimat (a. a. O. S. 14), stehe einer verfassungskonformen Auslegung, wie das Verwaltungsgericht sie für möglich gehalten habe, entgegen, verhilft der Beschwerde nicht zum Erfolg. Selbst wenn man annehmen wollte, dass das Verwaltungsgericht im Hauptsacheverfahren (ggf. einer Fortsetzungsfeststellungsklage) an einer verfassungskonformen Auslegung der Norm gehindert und zu einer Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG gezwungen wäre, würde dies an den dann bestehenden Zweifeln an der Verfassungsgemäßheit der Norm und somit an der im Eilverfahren zu prognostizierenden Rechtswidrigkeit des angegriffenen Rücknahmebescheids und der Erfolgsaussicht des Hauptsacheverfahrens nichts ändern. Im Eilrechtsschutzverfahren kommt eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht nicht in Betracht; den verfassungsrechtlichen Bedenken ist vielmehr im Rahmen der Eilentscheidung Rechnung zu tragen, was das Verwaltungsgericht getan hat.
Dessen ungeachtet übersieht die Antragsgegnerin die unionsrechtlichen Komplikationen ihres Verständnisses des § 27 Abs. 3a Nr. 1 AufenthG. Gemäß Art. 20 Absatz 1 Satz 2 AEUV ist Unionsbürger, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats der Europäischen Union besitzt; gemäß Absatz 2 Buchst. a genießt der Unionsbürger das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten. In der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist anerkannt, dass zur Verhinderung einer Verletzung des Kernbestandes dieses Rechts auch für einen drittstaatsangehörigen nahen Angehörigen ein abgeleitetes Recht bestehen kann, sich mit dem Unionsbürger im Unionsgebiet aufzuhalten (vgl. zuletzt EuGH, Urteil vom 8. Mai 2018 - Rs. C-82/16 Rn. 47 ff.; Urteil vom 10. Mai 2017 - Rs. C-133/15). Zwar setzt ein über das Sekundärrecht hinausgehendes abgeleitetes Aufenthaltsrecht des Drittstaatsangehörigen aus Art. 20 AEUV einen "ganz besonderen Sachverhalt" voraus, in dem sich der Unionsbürger ansonsten de facto gezwungen sähe, das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen (EuGH, Urteil vom 8. Mai 2018, a. a. O. Rn. 51; Urteil vom 10. Mai 2017, a.a.O. Rn. 63). Eine auf Dauer bestehende Unmöglichkeit eines oder einer deutschen Staatsangehörigen, die Ehe mit einem ausländischen Ehepartner im Bundesgebiet zu führen, obwohl Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik gegenwärtig nicht mehr zu besorgen sind, könnte indes einen solchen besonderen Sachverhalt darstellen. Auch hierüber sowie über etwaige Ansprüche des Antragstellers aus dem Sekundärrecht ist jedoch ggf. im Hauptsacheverfahren abschließend zu befinden.
Zwar wurde die Ehefrau des Antragstellers wegen einer im Alter von 15 Jahren begangenen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Ausland zu einer Jugendstrafe von neun Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Die Beschwerde stellt jedoch nicht in Abrede, dass sie sich bewährt, langjährig und erfolgreich an Deradikalisierungsprogrammen teilgenommen, eine Ausbildung absolviert und sich glaubhaft von ihrem früheren Verhalten und ihrer früheren Einstellung distanziert hat, sie also eine gegenwärtige Gefahr für eines der in § 27 Abs. 3a Nr. 1 AufenthG genannten Schutzgüter nicht mehr darstellt.
Nach allem zeigt die Beschwerde nicht auf, dass das Verwaltungsgericht zu Unrecht an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Rücknahmebescheids zweifelt.
II. Davon abgesehen vermag die Beschwerde auch die weitere selbständig tragende Erwägung des Verwaltungsgerichts, bei einem angenommenen offenen Ausgang des Hauptsacheverfahrens überwiege das Interesse des Antragstellers an der Suspendierung des Rücknahmebescheids das öffentliche Interesse an seinem Sofortvollzug, nicht durchgreifend in Zweifel zu ziehen.
Die Antragsgegnerin erliegt insofern einem Zirkelschluss, wenn sie meint, das öffentliche Interesse an einer geordneten Einreise von Ausländern gebiete die sofortige Vollziehung des Rücknahmebescheids. Dem Antragsteller wurde ein Visum zum Ehegattennachzug erteilt. Dass der Erteilung dieses Visums ein anderer Grund als die Regelung des § 27 Abs. 3a Nr. 1 AufenthG entgegenstehen könnte, zeigt die Beschwerde nicht auf. Lässt man gerade offen, ob diese Regelung der Visumerteilung entgegensteht, vermag sie Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Einreise des Antragstellers nicht zu begründen. Andere Gründe in der Person des Antragstellers oder seiner Ehefrau, die gegen eine Einreise sprechen würden, namentlich aktuelle Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik, zeigt die Beschwerde nicht auf.
Hinzukommt, dass nach dem Verständnis der Antragsgegnerin die Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit des § 27 Abs. 3a Nr. 1 AufenthG der Entscheidung durch das Bundesverfassungsgericht vorbehalten ist. Das bedeutet, dass im Falle der Aufrechterhaltung des Sofortvollzugs des Rücknahmebescheids das dem Antragsteller erteilte Visum mit dem Ablauf des 21. September 2022 seine Gültigkeit verlieren würde. Das in der Folge erforderliche Hauptsacheverfahren würde bei der Notwendigkeit einer konkreten Normenkontrolle die übliche Dauer eines – ausländischen Ehegatten grundsätzlich zumutbaren – Klageverfahrens voraussichtlich deutlich übersteigen.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 2, 162 Abs. 3 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).