Gericht | VG Potsdam 1. Kammer | Entscheidungsdatum | 29.06.2022 | |
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Aktenzeichen | 1 K 1994/19.A | ECLI | ECLI:DE:VGPOTSD:2022:0629.1K1994.19.A.00 | |
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 3 Abs 1 AsylVfG 1992, § 113 Abs 5 VwGO |
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 10. Juli 2019 verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
Die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden, trägt die Beklagte.
Der 1989 geborene Kläger ist eigenen Angaben nach türkischer Staatsangehörigkeit, arabischer Volkszugehörigkeit und muslimischer Religionszugehörigkeit.
Der Kläger reiste nach seinen Angaben am 20. Februar 2019 nach Deutschland ein. Er war zuvor im Jahr 2016, genauer am 26. Juli 2016, von der Türkei aus zunächst nach Kirgisistan gereist und hatte dort bis zum 31. Dezember 2018 gelebt. Von Kirgisistan reiste er sodann auf dem Luftweg über Moskau (Russische Föderation) nach Serbien und von dort aus auf dem Landweg über Nordmazedonien nach Griechenland. Nachdem er etwa eineinhalb Monate in Griechenland verbracht hatte, reiste er wiederum auf dem Luftweg nach Deutschland ein. Am 5. März 2019 stellte er formell einen Asylantrag. Für die Zeit vor seiner Einreise in die Bundesrepublik sind für den Kläger insgesamt fünf (erfolglose) Visumsanträge bei der deutschen Botschaft in Kirgisistan im Zeitraum vom 2. Juli 2017 bis zum 16. Januar 2018 nachweisbar.
In der Anhörung zur Klärung der Zuständigkeit beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am 5. März 2019 gab der Kläger u. a. an, dass in Berlin seine Lebensgefährtin lebe. Mit dieser sei er in sog. Imamehe verheiratet. Ihr Name sei B… … … und sie sei deutsche Staatsbürgerin.
Bei der Anhörung beim Bundesamt am 7. März 2019 gab der Kläger an, dass seine letzte offizielle Anschrift in der Türkei in Hasankeyf (Provinz Batman) gewesen sei. Dort habe er mit seinen Eltern und einer Schwester gelebt. Das Haus stehe im Eigentum seines Vaters. 2015 bei der Ausreise aus der Türkei habe er keine Probleme, aber Angst gehabt. In der Türkei lebten noch insgesamt Schwestern und drei Brüder sowie Großfamilie.
Er habe die Schule bis zum Abitur besucht. Daran angeschlossen habe sich ein Studium der Chemie an der Universität Harran (Harran Üniversitesi), Şanlıurfa, bis 2013, das er auch erfolgreich abgeschlossen habe. Ein anschließend begonnenes Masterstudium habe er nicht mehr abgeschlossen, auch wenn er noch bis in das Jahr 2016 hinein seine Masterarbeit vorangetrieben habe. 2014 habe er zwei Monate in einem Verein mit dem Namen Yagmur Egitim ve Kültür Dernegi (Yagmur Bildung und Kultur Verein) gearbeitet und dort Nachhilfeunterricht erteilt. Dieser Verein sei der Gülen-Bewegung zuzuordnen gewesen.
Seine wirtschaftliche Situation sei durchschnittlich gewesen, er habe auch ein bisschen etwas sparen können. Was den Wehrdienst angehe, so habe er sich freikaufen wollen. Dies habe indes nicht geklappt, weil er persönlich ein Formular bei der Rekrutierungsstelle hätte abgeben müssen.
Nach seiner Ausreise aus der Türkei nach Kirgisistan habe er dort, in Bischkek, bis zu seiner Ausreise im Jahr 2019 als Lehrer an der Schule Zhayil Baatyr Sapat High School gearbeitet, genau genommen von September 2015 bis Dezember 2018. Dann sei er nach Deutschland gekommen. Über die Arbeit in der Schule legte er bei der Beklagten eine Bescheinigung vor. Weiter legte er eine Kopie seiner Bankkarte der Bank Asya vor, deren Gültigkeit im Januar 2022 ablief.
Zu seinen konkreten Asylgründen gab er an, dass er sich am 15. Juli 2016, den er als Tag des „Putschtheaters“ bezeichnete, mit seiner Lebensgefährtin verlobt habe. Dies habe in Denizli in der Westtürkei stattgefunden. Danach hätten ihm seine Cousins vorgeworfen, dass er und seine Leute, die Gülen-Leute, hinter dem Putsch gestanden hätten. Der Ehemann seiner Tante habe Tage später ähnliches gesagt. Wegen dieses Drucks sei er nach Kirgisistan gegangen, als Lehrer. Dort habe er noch telefonischen Kontakt zu seinen Eltern und Schwestern gehabt.
Am 24. März 2018 habe er mit seiner Verlobten die Hochzeit in einem Hochzeitssaal in Bischkek, Kirgisistan, gefeiert. Seine Verlobte habe nur ein Touristenvisum bekommen, sie habe alle zwei Monate ein- und ausreisen müssen. Beamte hätten Bestechungsgelder haben wollen. Sie habe bei der Rückreise nach Deutschland über Moskau dort Probleme bekommen. Als sie im September 2018 in Deutschland gewesen sei, habe er erfahren, dass in der Türkei ein Ermittlungsverfahren gegen ihn eingeleitet worden sei. Die Polizei sei bei ihm zuhause gewesen. Bei seinem Bruder sei im September 2018 nach ihm nachgefragt worden, aber kein Dokument übergeben bzw. hinterlassen worden. Die Polizei solle gesagt haben, dass er wegen Terrorverdachts gesucht werde. Sein Bruder habe gegenüber der Polizei leider Kirgisistan erwähnt. Sein Bruder habe auch etwas unterschreiben müssen. Danach seien seines Wissens keine Polizisten mehr nach Hause gekommen. Wegen all dieser Umstände und weil er Angst vor einer Entführung aus Kirgisistan gehabt habe, habe er sich entschieden, nach Deutschland zu gehen. Es gebe verschiedene Beispiele von Lehrern an seiner vormaligen Schule in Kirgisistan, die von türkischen Behörden schikaniert worden seien.
Über seinen Anwalt in der Türkei sei er an folgende Dokumente gekommen: ein Anwaltsschreiben seines Rechtsanwalts Halil Tastan und die Kopie einer Bildschirmansicht (Foto) des UYAP-Systems für seine Person. Aktuell habe er aber keinen Anwalt mehr in der Türkei. Dem Anwaltsschreiben nach bestehe gegen ihn, den Kläger, eine Ermittlungsakte bei der Oberstaatsanwaltschaft Batman und eine Festnahmeakte der Generalstaatsanwaltschaft Batman. Dies unterlägen der Geheimhaltung. Akteneinsicht sei nicht möglich. Ihm werde Mitgliedschaft in der Terrororganisation FETÖ vorgeworfen. Weiter legte der Kläger auch Arbeitserlaubnisse aus Kirgisistan vor für den Zeitraum vom 13. April 2016 bis zum 19. Februar 2019.
Er habe Angst vor Folter in den Gefängnissen in der Türkei. Es soll eine Liste mit 130 Personen geben, die die Türkei aus Kirgisistan ausgeliefert bekommen möchte. Das seien FETÖ-Leute. Die Zeitung Hürriyet habe darüber berichtet, er wisse nicht, ob er auf der Liste stehe. Auch der Verein in der Türkei, für den er zwischenzeitlich gearbeitet habe, sei aufgrund der Dekrete, die nach dem Putschversuch erlassen worden seien, geschlossen worden. Ein Gerichtsverfahren laufe derzeit nicht gegen ihn. Nach dem UYAP-Auszug gebe es eine Anklageschrift. Diese sei im e-devlet-System, wo er selbst auch zugreifen könne, nicht enthalten.
Erstmalig sei er im Jahr 2007 mit der Gülen-Bewegung in Berührung gekommen, als er sich auf die Hochschulaufnahme vorbereitet habe. Er habe den Vorbereitungskurs der Gülen-Bewegung besucht und auch in den Wohnungen der Bewegung für ein Jahr gelebt. Im ersten Jahr des Studiums sei er in der Wohnung geblieben und habe Nachhilfe an Gymnasialschüler gegeben. Im zweiten Jahr sei er dann für eine Gülen-Wohnung zuständig gewesen. Im dritten Jahr des Studiums sei er für fünf Wohnungen zuständig gewesen, für die Koordination. Das letzte Jahr an der Universität 2012 sei er für die Verteilung von Schülern zu den Gülenwohnungen aus mehreren Gymnasien zuständig gewesen. 2014 habe ihn ein Gülenbruder gefragt, ob er ins Ausland gehen wolle, was er bejaht habe. Er habe dann ein Jahr einen Englischkurs besucht und sei dann ja auch nach Kirgisistan gegangen.
Richtig bedroht worden sei er in der Türkei wegen der Zugehörigkeit zur Gülen-Bewegung nicht. Es sei aber zu heftigen Streitigkeiten gekommen. Ein Dozent an der Uni habe ihn einmal während eines Vortrages gefragt, ob er Gülensoldat sei. Politisch aktiv im Sinne der Bewegung sei er nicht gewesen. Er habe an einigen Feierlichkeiten der Gülen-Bewegung teilgenommen, z. B. im Fußballstadion von Şanlıurfa mit 25.000 Menschen. Er teile die Ansichten der Bewegung zu Liebe und Frieden auf der ganzen Welt. Dass man gemeinsam wie Brüder leben solle, gleichberechtigt. Als er Lehrer gewesen sei, habe es an einem Tag der Woche eine „Teezeit“ gegeben. Dort sei immer über ein anderes religiöses oder soziales Thema gesprochen worden.
Gegen einen Kollegen an der Schule liege seines Wissens ein Haftbefehl vor. Die Schule in Kirgisistan sei der Gülen-Bewegung zuzuordnen. Der türkische Staat habe gefordert, sie zu schließen.
Ein Polizist habe seinem Bruder gesagt, dass er bei Grenzübertritt in die Türkei sofort festgenommen werde. Sein Anwalt habe ihm gesagt, dass er nicht an seine Akte komme. Er könne nicht in der Türkei gegen die Vorwürfe vorgehen. Seine Brüder hätten Angst, ihm Dokumente zu verschaffen.
Er selbst habe Angst vor einer Verhaftung bei Rückkehr und auch vor langer Haft, auch vor Folter.
Mit Bescheid vom 10. Juli 2019 lehnte das Bundesamt die Anträge auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, Asylanerkennung und subsidiären Schutz ab (Ziffern 1 bis 3); zugleich stellte es fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) nicht vorliegen (Ziffer 4). Des Weiteren wurde der Kläger aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen, anderenfalls werde er abgeschoben (Ziffer 5). Zudem wurde eine Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung verfügt (Ziffer 6). Zur Begründung wurde u. a. ausgeführt, die Voraussetzungen für die Zuerkennung des internationalen Schutzes und die Anerkennung als Asylberechtigter lägen nicht vor. Der Kläger habe in der Türkei nicht mit Strafverfolgung oder anderen repressiven Maßnahmen zu rechnen. Er habe keine exponierte Tätigkeit in der Gülen-Bewegung ausgeübt. Er sei ohne asylrelevante Verfolgung ausgereist, nur Streitigkeiten mit seiner Familie und Dritten bzw. ein Angriff durch einen Dozenten mehrere Jahre vor der Ausreise habe es gegeben. Er sei somit zweifellos unverfolgt ausgereist. Kontobewegungen auf dem Konto der Asya-Bank seien nach 2013 nicht vom Kläger angegeben worden. Auch in Kirgisistan sei er nicht in einer leitenden Tätigkeit für die Gülen-Bewegung tätig gewesen. Seine Angaben zu Polizeiaussagen gegenüber dem Bruder seien unklar. Der vorgelegte „Screenshot“ sei nicht lesbar und dem Kläger nicht eindeutig zuzuordnen. Er sei auch nicht datiert. Zu einer Anklageerhebung gegen ihn sei es nicht gekommen. Was die Situation nach einer Rückkehr in die Türkei angehe, so sei kaum zweifelhaft, dass der Kläger wirtschaftlich wieder fußfassen werden können. Schutzwürdige Belange für eine Verkürzung des Einreise- und Aufenthaltsverbots seien weder vorgetragen noch ersichtlich.
Der Kläger hat am 26. Juli 2019 Klage erhoben. Zur weiteren Begründung der geltend gemachten asyl- und flüchtlingsrechtlichen Ansprüche hat der Kläger im gerichtlichen Verfahren durch seine Prozessbevollmächtigte seine Gefährdung als Lehrer an einer Auslandsschule der Gülen-Bewegung geltend gemacht. Es wurden mit Schriftsatz vom 16. Dezember 2020 weitere Unterlagen vorgelegt, nämlich die Anwaltsvollmacht des Klägers an Rechtsanwalt Ömer Demir, Adana, vom 15. September 2020, ein Anschreiben von Rechtsanwalt Demir an die Oberstaatsanwaltschaft von Batman betreffend Akteneinsicht in vorhandene Verfahrensakten und ggf. Aufhebung etwaiger Beschränkungen der Einsichtnahme, ein Beschluss der „2. Strafkammer“ Batman über die Einschränkung der Akteneinsicht vom 6. August 2020 (Az. 2020/3392) im Verfahren mit dem Az. 2018/10567, eine Erklärung des Rechtsanwalts Demir, in der dieser darauf verweist, dass der Einschränkungsbeschluss (Vertraulichkeitsentscheidung) den Kläger betreffe, sowie einen anwaltlichen Einspruch gegen die Vertraulichkeitsentscheidung. Der Kläger habe verschiedene Kollegen in Kirgisistan gehabt, für die die Flüchtlingseigenschaft von der Beklagten anerkannt worden sei. Er habe in engem Kontakt zu Orhan Inandi gestanden, dem Zentralasien-Geschäftsführer der FETÖ. Dieser sei aus Kirgisistan in die Türkei entführt worden, dort habe es eine Haftstrafenforderung von 15 bis 22 Jahren gegeben. Der Kläger habe seine Hochzeit mit Herrn Inandi gefeiert.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 10. Juli 2019 zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, hilfsweise subsidiären Schutz zu gewähren sowie weiter hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 des Aufenthaltsgesetzes vorliegen.
Die Beklagte hat mit Schreiben vom 7. August 2019 unter Bezugnahme auf den angefochtenen Bescheid beantragt,
die Klage abzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, dort insbesondere des Protokolls der mündlichen Verhandlung vom 29. Juni 2022 samt der dort als Anlage beigefügten weiteren vom Kläger vorgelegten Unterlagen (Ausdruck eines undatierten Bildschirmfotos der UYAP-Übersicht für den Kläger, eine Kopie des Beschlusses der „1. Strafkammer“ Batman vom 24. Dezember 2020 zum Az. 2020/5614 samt beglaubigter Übersetzung ins Deutsche sowie fünf „Unterstützerbriefe“ zugunsten des Klägers von Hr. Harun Tokak, Hr. Mesut Sahin, Hr. Halil Sincar, Hr. Muhammet Hizar und Hr. Hasan Uyanik), und die von der Beklagten eingereichte elektronische Asylakte Bezug genommen.
Die Kammer hat den Rechtsstreit gemäß § 6 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.
Das Gericht konnte trotz Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten in der mündlichen Verhandlung in der Sache verhandeln und entscheiden, da die Beklagte mit der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist (§ 102 Abs. 2 VwGO).
Die Klage ist zulässig und begründet.
Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 113 Abs. 5 VwGO). Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes vom 10. Juli 2019 ist daher rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO); er ist aufzuheben.
Der Kläger hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG. Der Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 4 AsylG setzt voraus, dass der Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlings-Konvention - GFK) ist (vgl. § 3 Abs. 1 AsylG). Dies ist dann der Fall, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will und er keine Ausschlusstatbestände erfüllt.
Als Verfolgung im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG) oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Verfolgungshandlungen in diesem Sinne sind insbesondere die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt (§ 3a Abs. 2 Nr.1 AsylG), gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden (§ 3a Abs. 2 Nr. 2 AsylG), unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung (§ 3a Abs. 2 Nr. 3 AsylG), Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung (§ 3a Abs. 2 Nr. 4 AsylG), Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen (§ 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG) und zuletzt Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind (§ 3a Abs. 2 Nr. 6 AsylG). Zwischen den in § 3 Abs.1 Nr. 1 AsylG in Verbindung mit den in § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den in § 3a Abs. 1 und 2 AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG).
Eine Verfolgung kann nicht nur vom Staat ausgehen (§ 3c Nr. 1 AsylG), sondern auch von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (§ 3c Nr. 2 AsylG) oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in § 3c Nr. 1 und 2 AsylG genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (§ 3c Nr. 3 AsylG). Allerdings wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (§ 3e Abs. 1 AsylG).
Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn sie aufgrund der im Herkunftsland des Ausländers gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht,
sog. „real risk“, vgl. BVerwG, Urteil vom 1. Juni 2011 - 10 C 25.10 -, juris Rn. 22.
Dies setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen als die dagegensprechenden. Dabei ist eine sog. qualifizierende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann,
vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 - 10 C 23.12 -, juris Rn. 32; OVG NRW, Urteil vom 17. August 2010 - 8 A 4063/06.A -, juris Rn. 35 ff.
Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft setzt voraus, dass das Gericht von der Wahrheit – und nicht etwa nur von der Wahrscheinlichkeit – des von dem Asylbewerber behaupteten individuellen Schicksals die volle Überzeugung erlangt. Insbesondere hinsichtlich der den Schutzanspruch begründenden Vorgänge im Verfolgerland darf das Gericht dabei zwar wegen der (häufig bestehenden) asyltypischen Beweisschwierigkeiten keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit verlangen, sondern muss sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen, auch wenn Zweifel nicht völlig auszuschließen sind,
BVerwG, Urteil vom 16. April 1985 - 9 C 109.84 -, juris Rn. 16.
Wenn keine weiteren Beweismittel zur Verfügung stehen, kann daher allein der Tatsachenvortrag des Asylbewerbers für eine Glaubhaftmachung ausreichen, sofern sich das Gericht von der Richtigkeit seiner Behauptungen zu überzeugen vermag. Eine Glaubhaftmachung setzt allerdings regelmäßig voraus, dass der Asylbewerber die Gründe für das Vorliegen einer Verfolgung im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG schlüssig, widerspruchsfrei und mit genauen Einzelheiten vorträgt. Der Art und Weise seiner Einlassung, seiner Persönlichkeit, insbesondere seiner Vertrauenswürdigkeit kommt insoweit entscheidende Bedeutung zu,
vgl. BVerwG, Urteil vom 12. November 1985 - 9 C 27.85 -, juris Rn. 16.
Es obliegt dem Schutzsuchenden, die Voraussetzungen glaubhaft zu machen. Er muss in Bezug auf die in seine eigene Sphäre fallenden Ereignisse und persönlichen Erlebnisse eine Schilderung abgeben, die geeignet ist, seinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft lückenlos zu tragen. Ein in diesem Sinne schlüssiges Schutzbegehren setzt im Regelfall voraus, dass der Schutzsuchende konkrete Einzelheiten seines individuellen Verfolgungsschicksals vorträgt und sich nicht auf unsubstantiierte allgemeine Darlegungen beschränkt. Er muss nachvollziehbar machen, wieso und weshalb gerade er eine Verfolgung befürchtet. An der Glaubhaftmachung von Verfolgungsgründen fehlt es regelmäßig, wenn er im Laufe des Verfahrens unterschiedliche Angaben macht und sein Vorbringen nicht auflösbare Widersprüche enthält, wenn seine Darstellungen nach der Lebenserfahrung oder auf Grund der Kenntnis entsprechender vergleichbarer Geschehensabläufe unglaubhaft erscheinen oder er sein Vorbringen im Laufe des Asylverfahrens steigert, insbesondere, wenn er Tatsachen, die er für sein Begehren als maßgebend bezeichnet, ohne vernünftige Erklärung erst spät in das Asylverfahren einführt,
vgl. BVerwG, Urteil vom 23. Februar 1988 - 9 C 273.86 -, juris Rn. 11.
Das Asylverfahren ist eine Einheit, so dass ein gegenüber den Angaben vor der Verwaltungsbehörde in gerichtlichen Verfahren vorgetragener neuer Sachverhalt regelmäßig Zweifel an der Richtigkeit dieses Vorbringens wecken wird. Dies bedeutet letztlich, dass der Ausländer unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern hat, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Heimatland zu verbleiben oder dorthin zurückzukehren.
In Anwendung dieser Grundsätze hat der Kläger einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
Von besonderer Bedeutung sind dabei die Vorgänge im Zusammenhang mit und im Nachgang zum Putschversuch in der Türkei vom Sommer 2016. In der Nacht vom 15./16. Juli 2016 fand in der Türkei ein Putschversuch von Teilen des Militärs gegen Staatspräsident Erdogan statt, dem sich auf Aufrufe der AKP hin viele Bürger entgegenstellten und der innerhalb weniger Stunden durch regierungstreue Militärs und Sicherheitskräfte niedergeschlagen wurde. Staatspräsident Erdogan und die Regierung machten umgehend den seit dem Jahr 1999 im Exil in den USA lebenden islamischen Prediger Fethullah Gülen und dessen bis dahin vor allem für ihr Engagement in der Bildung und in der humanitären Hilfe bekannte Gülen-Bewegung für den Putsch verantwortlich. Diese wurde als terroristische Organisation eingestuft. Die türkische Regierung nennt sie „FETÖ“ oder auch „FETÖ/PDY“ („Fethullahistische Terrororganisation / Parallele Staatliche Struktur“). Ihre tatsächlichen oder mutmaßlichen Anhänger werden im Zuge von „Säuberungsmaßnahmen“ mit einer Verhaftungswelle überzogen. Im Zuge dieser Maßnahmen wurden bislang nach Angaben des türkischen Justizministeriums und des Innenministeriums gegen knapp 600.000 Personen Ermittlungsverfahren eingeleitet. Über 25.000 mutmaßliche „Gülenisten“ verbüßen entweder eine rechtskräftige Haftstrafe oder befinden sich in Untersuchungshaft. Über 150.000 Beamte und Lehrer an Privatschulen wurden aus dem Dienst entlassen, darunter auch rd. 30.000 Militärangehörige. Diese Maßnahmen richten sich nicht nur gegen Personen, die einer aktiven Beteiligung am Putschversuch verdächtigt werden, sondern auch gegen solche, denen eine kaum definierte angebliche Nähe zur Gülen-Bewegung vorgeworfen wird (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 3. Juni 2021, S. 4 - im Folgenden: Lagebericht).
Aktuell liegen auch nach Einschätzung des Auswärtigen Amts deutliche Anhaltspunkte für eine systematische Verfolgung vermeintlicher Anhänger der Gülen-Bewegung vor, welcher von türkischer Regierungsseite her – wie dargelegt – der Putschversuch im Juli 2016 zur Last gelegt wird. Unklar ist dabei, nach welchen Kriterien türkische Behörden eine Person als „Anhänger“ einstufen. Türkische Behörden und Gerichte können eine Person bereits dann als solchen „FETÖ“-Terrorist einordnen, wenn er oder sie Mitglied der Gülen-Bewegung ist oder persönliche Beziehungen zu den Mitgliedern der Bewegung unterhält, eine von der Bewegung betriebene Schule besucht hat oder im Besitz von Schriften Gülens ist. Als besonders starkes Indiz werden finanzielle Beziehungen von Personen zu Einrichtungen gewertet, die der Gülen-Bewegung nahestehen. Es muss davon ausgegangen werden, dass eine Person, welche der türkische Staat der Gülen-Bewegung zurechnet, in der Türkei mit systematischen asylerheblichen Verfolgungshandlungen rechnen muss. Gülen-Anhänger werden wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung angeklagt.
Nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes dauert diese systematische Verfolgung mutmaßlicher Anhänger der Gülen-Bewegung auch an. In der Regel reicht das Vorliegen eines der vorliegenden Indizien, um eine strafrechtliche Verfolgung als mutmaßlicher „Gülenist“ einzuleiten:
- Nutzung der verschlüsselten Kommunikations-App ByLock;
- Geldeinlage bei der Bank Asya nach dem 25. Dezember 2013;
- Abonnement bei der Nachrichtenagentur Cihan oder der Zeitung Zaman;
- Spenden an den Gülen-Strukturen zugeordnete Wohltätigkeitsorganisationen;
- Besuch Gülen zugeordneter Schulen durch Kinder;
- Kontakte zu Gülen zugeordneten Gruppen/Organisationen/Firmen (inkl. abhängige Beschäftigte);
- Teilnahme an religiösen Versammlungen der Gülen-Bewegung.
Eine Verurteilung setzt nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes in der Regel das Zusammentreffen mehrerer dieser Indizien voraus (vgl. Lagebericht, Seite 8).
Was die der Gülen-Bewegung zuzurechnenden Auslandsschulen angeht – der Kläger war an einer derartigen Schule in Kirgisistan tätig –, so haben diese für das Verfolgungsinteresse eine besondere Bedeutung. Bereits vor dem Putschversuch im Jahr 2016 versuchte die türkische Regierung die von Gülen bzw. von Gülen-Anhängern gegründeten Schulen im Ausland, die insbesondere in ärmeren Ländern hoch angesehen waren und von den Kindern der dortigen Eliten besucht wurden, unter seine Kontrolle zu bringen. Dafür gründete er kurz vor dem Putschversuch die Maarif-Stiftung. Die Türkei versuchte die Gastgeberländer dazu zu bewegen, die Schulen, Wohnheime und Universitäten an diese Stiftung zu übergeben. Viele Länder konnten dem Druck der Türkei nicht widerstehen und lieferten an den Gülen-Schulen tätige Lehrer an die Türkei aus. So wurden im Frühjahr 2019 im Kosovo fünf Lehrer der Gülen-nahen Mehmet-Akif-Schulen festgenommen und in einer Privatmaschine in die Türkei ausgeflogen. Auch in der Republik Moldau wurden im September 2018 sieben Lehrer der Orizont-Gruppe unter Beteiligung des türkischen Geheimdienstes MIT außer Landes geschafft. In Rumänien hingegen stoppte ein Richter die Auslieferung des Leiters der Gülen-nahen Lumina-Schulen. Allerdings ist es dem türkischen Staat im Kosovo, in Bosnien und in der Republik Moldau bislang nicht gelungen, die Schließung der Schulen oder ihre Überführung in das Maarif-System zu erwirken. Anders sieht es in Pakistan aus. Hier wurde die Leitung der 28 der Gülen-Bewegung zuzuordnenden Paktürk-Schulen an die Maarif-Stiftung übertragen. In Afghanistan war der Widerstand der Eltern und Schüler gegen die Schließung groß. Als das Bildungsministerium Anfang 2018 dem Druck aus Ankara nachgab, kam es zu massiven Protesten, die letztendlich erfolglos blieben (vgl. NZZ, 14. Februar 2020, „Erdogan zieht weltweit gegen die Gülen-Schulen zu Felde“, https://www.nzz.ch/international/erdogan-zieht-weltweit-gegen-die-guelen-schulen-zu-felde-ld.1535234, abgerufen am 28. Juni 2022).
Der Kläger hat an diesen Vorgaben gemessen im Fall seiner Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung wegen einer Zurechnung zur Gülen-Bewegung zu befürchten. Seinen eigenen, teilweise von ihm belegten, im Übrigen glaubhaften Angaben nach erfüllt er verschiedene der genannten Risikoprofil-Kriterien, auch wenn er selbst bis zu seiner Ausreise aus der Türkei, soweit ersichtlich, keine konkreten Verfolgungsmaßnahmen erlitten hat. Er hat damit in Anknüpfung an seine politische Überzeugung als Verfolgungsmerkmal durch den türkischen Staat eine Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu gegenwärtigen.
Der Kläger hat seit Beginn seines Studiums engen Kontakt zur Gülen-Bewegung. Er war nach seinem Chemie-Studium in der Türkei für annähernd drei Jahre in Kirgisistan als Lehrer an einer der Gülen-Bewegung zuzurechnenden Schule tätig. Damit war er auch wirtschaftlich eng verwoben mit der Gülen-Bewegung zuzuordnenden Bildungseinrichtungen. Er hat sich hierdurch finanziert. Er erfüllt mehrere weitere der genannten Kriterien: So war er Abonnent der Tageszeitung Zaman (wie auch einer weiteren gülenistischen Monatszeitschrift, „Sızıntı“), hatte, wie er dem Einzelrichter gegenüber glaubhaft angegeben und durch Vorlage einer Kreditkarte plausibilisiert hat, im maßgeblichen Zeitraum ein Konto bei der Bank Asya, das er auch noch nach dem Jahre 2013 nutzte (Einzahlungen durch ihn selbst und Auszahlungen), arbeitete freiwillig bei der gülenistischen Wohltätigkeitsorganisation Kimse Yok Mu mit und unterstützte diese durch regelmäßige Zahlungen (nach seinen auch insoweit glaubhaften und noch durch eine schriftliche, allerdings recht allgemein gehaltene Erklärung eines Koordinators dieser Organisation gestützten Angaben in der mündlichen Verhandlung) und nahm sein Erwachsenenleben lang an religiösen Versammlungen der Bewegung teil (während des Studiums, danach in der Türkei und auch noch in Kirgisistan). Dies reicht für sich genommen nach Auffassung des Gerichts bereits ohne Weiteres für die Annahme aus, dass der Kläger jedenfalls bei einer Rückkehr in die Türkei einer Verfolgung durch den türkischen Staat ausgesetzt sein wird. Der diesbezügliche Vortrag des Klägers in der mündlichen Verhandlung war widerspruchsfrei und deckt sich mit den dem Gericht vorliegenden Informationen zu den gülenistischen Auslandsschulen.
Vor dem dargestellten Hintergrund der besonderen Verfolgung von Lehrern an Auslandsschulen der Gülen-Bewegung ist davon auszugehen, dass der Kläger als vormaliger Lehrer an einer solchen der Gülen-Bewegung zuzuschreibenden Privatschule im Ausland im besonderen Maße im Fokus der Sicherheitsbehörden steht.
Die in Kirgisistan bestehende Bekanntschaft des Klägers mit dem Schuldirektor und Gründer des Bildungsnetzwerks „Sapat“ in Kirgististan, Orhan Inandi, der bei der Hochzeit des Klägers ausweislich der vorgelegten Fotografien anwesend war und im Mai 2021 vom türkischen Geheimdienst MIT in die Türkei entführt wurde (siehe Redaktionsnetzwerk Deutschland [RND], 6. Juli 2021, „Schuldirektor Organ Inandi: Erdogan lässt Regierungsgegner im Ausland entführen, https://www.rnd.de/politik/orhan-inandi-erdogan-laesst-schuldirektor-von-agenten-im-ausland-entfuehren-NHZBXTDR7ZCOTE4BLH4DXKY3BE.html, abgerufen am 28. Juni 2022), runden dieses Bild eines hinreichend wahrscheinlichen Verfolgungsinteresses des türkischen Staates ab.
Zwar kann das Gericht für die Zeit, die der Kläger noch in der Türkei verbracht hat, nicht mit hinreichender Sicherheit eine (Vor-)Verfolgung feststellen. Damit greift die Indizwirkung einer Vorverfolgung mit der Folge einer Herabsetzung des Wahrscheinlichkeitsmaßstabes nicht ein.
Jedenfalls aber besteht eine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung durch türkische Staatsorgane als Verfolger im Fall einer künftigen Rückkehr: Der Kläger wird nach dem Sachstand in der mündlichen Verhandlung auf Grund seiner dargestellten biografischen Merkmale seitens des türkischen Staats selbst dann verfolgt werden, wenn man zugrunde legt, dass gegen ihn bislang keine gerichtlichen Strafverfahren wegen „FETÖ“-Verdachts anhängig oder bekannt sind.
Es muss davon ausgegangen werden, dass eine Person, welche der türkische Staat der Gülen-Bewegung zurechnet, in der Türkei mit systematischen asylerheblichen Verfolgungshandlungen rechnen muss. Bei einer Person, die wie der Kläger eine Vielzahl der relevanten Merkmale für die Gülen-Zugehörigkeit erfüllt, ist im Einzelfall auch ohne konkrete Vorverfolgung und ohne Nachweis aktueller Verfolgungsmaßnahmen (e-Devlet/UYAP) von einer hinreichenden Tatsachengrundlage auszugehen, welche die Annahme einer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohenden künftigen Verfolgung trägt.
Vorliegend steht es zur Überzeugung des Gerichts allerdings darüber hinaus fest, dass gegen den Kläger in der Türkei wegen der Mitgliedschaft in einer bewaffneten terroristischen Organisation zumindest staatsanwaltlich ermittelt wurde. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung eine Kopie bzw. den Ausdruck eines Fotos von der ihn betreffenden Übersichtsseite des UYAP-Systems vorgelegt, welche – gegenüber den Kopien, welche zuvor übermittelt worden waren – deutlich besser lesbar ist und unzweifelhaft den Namen des Klägers ausweist. Damit ist zur Überzeugung des Gerichts nachgewiesen, dass die auf der Übersichtsseite angeführten Unterlagen, die jeweils den Vorwurf der Mitgliedschaft in der „FETÖ/PDY“ betreffen, der Person des Klägers zuzuordnen sind, insbesondere das Verfahrens-Aktenzeichen 2018/10567, unabhängig davon, zu welchem genauen Zeitpunkt die Fotografie im Jahr 2018 oder danach aufgenommen wurde. Die weiteren vom Kläger beim Bundesamt und im verwaltungsgerichtlichen Verfahren vorgelegten Unterlagen aus dem UYAP-System (insbesondere die gerichtlichen Beschlüsse über sog. Vertraulichkeitsentscheidungen, also Beschränkungen des Rechts der Akteneinsicht insbesondere in Verfahren wegen Mitgliedschaft in Terrororganisationen), welche ebendieses Aktenzeichen aufführen, machen deutlich, dass gegen den Kläger im Zusammenhang mit „FETÖ“ zumindest bis Ende des Jahres 2020 (der letzte Beschluss datiert vom 24. Dezember 2020) ermittelt und seinem Verfahrensbevollmächtigten die Akteneinsicht verweigert wurde. Auch wenn damit eine Anklageerhebung und Anklagezulassung gegen den Kläger (die in seiner Abwesenheit aber ohnehin eher unwahrscheinlich sein dürfte) und die Fortführung des Verfahrens bis in die Gegenwart noch nicht sicher belegt sind, weisen diese Umstände doch ein grundsätzliches Verfolgungsinteresse des türkischen Staates gegenüber dem Kläger nach, für dessen Nichtfortbestehen – auch mit Blick auf das nach den glaubhaften Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung in Deutschland fortgeführte Engagement des Klägers für die Gülen-Bewegung – keine Anhaltspunkte ersichtlich sind.
Der Kläger kann im Fall einer Rückkehr in die Türkei nicht mit einem fairen rechtsstaatlichen Strafverfahren rechnen, so dass das oder die gegen ihn eingeleiteten Ermittlungsverfahren nicht lediglich der jedem Staat grundsätzlich zustehenden Strafverfolgung dienen, sondern der Verfolgung vermeintlicher Regimegegner i. S. des § 3 i. V. m. § 3a Abs. 2 AsylG in Gestalt einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Strafverfolgung oder Bestrafung („FETÖ“).
Hinsichtlich der Strafzumessungs- und Strafverfolgungspraxis in der Türkei zeigt sich ein ambivalentes Bild: Einerseits wurden der Türkei Fortschritte im Bereich der Justiz bescheinigt, andererseits bestehen auch erhebliche Defizite (z. B. teilweise exzessiv lange Dauer der Strafverfahren und der Untersuchungshaft). Insbesondere in Verfahren wegen des Vorwurfs einer Mitgliedschaft in der PKK, DHKP-C und „FETÖ“ kann nur noch sehr eingeschränkt von einer unabhängigen Justiz ausgegangen werden (vgl. Lagebericht S. 12). Grundsätzliche Probleme werfen die Verhaftungswellen gegen Rechtsanwälte auf, die wegen PKK- oder „FETÖ“-Verdachts Angeklagten beistanden und teils deswegen selbst verhaftet wurden. Angeklagte in diesen Verfahren wegen „Terrorismus“-Verdachts haben Schwierigkeiten, überhaupt noch vertretungsbereite Rechtsanwälte zu finden (vgl. Kamil Taylan, Gutachten an das VG Magdeburg vom 5. November 2017, S. 14 ff.). Dies zusammen genommen hat der Kläger wegen eines Terrorverdachts („FETÖ“) – anders als vielleicht allgemeiner Kriminalität Tatverdächtige – nicht mehr mit einem rechtsstaatlichen Verfahren zu rechnen, da einerseits die Unabhängigkeit der Justiz u. a. durch die Entlassungswellen massiv gemindert wurde, andererseits die Chance, auf vertretungsbereite Anwälte als Strafverteidiger zu treffen, wegen der Verhaftungswellen gegen Rechtsanwälte ebenfalls nicht mehr gewährleistet ist.
Der Kläger hat nach alldem mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung in Anknüpfung an seine politische oder religiöse Überzeugung als Verfolgungsmerkmal zu befürchten.
Ob die Gülen-Bewegung eher als politische oder als religiöse Bewegung anzusehen ist, braucht nicht entschieden zu werden, da in beiden Fällen die Zurechnung durch den türkischen Staat dieselbe ist und ihr der Kläger auch aus innerer Überzeugung angehörte.
Dem Kläger droht unter Würdigung seines gesamten, nach dem persönlichen Eindruck des Einzelrichters in der mündlichen Verhandlung auch insgesamt widerspruchsfreien und glaubhaften Vorbringens mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung im Fall seiner Rückkehr, selbst wenn der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit hier mangels Vorverfolgung nicht reduziert ist.
Ihm steht auch keine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung, da als „FETÖ“-Anhänger verdächtigte Personen bereits im Jahr 2016, erst recht aber in der Folgezeit in den Blick der türkischen Sicherheitsbehörden geraten sind und somit von einem nicht nur lokalen oder regionalen, sondern landesweiten staatlichen Ergreifungsinteresse auszugehen ist.
In der Türkei finden Einreisekontrollen für alle Personen statt. Bei dieser Personenkontrolle können türkische Staatsangehörige mit einem gültigen türkischen, sie zur Einreise berechtigenden Reisedokument die Grenzkontrolle grundsätzlich ungehindert passieren. Seit dem Putschversuch vom Juli 2016 werden alle türkischen Staatsangehörigen auch auf Inlandsflügen einer fahndungsmäßigen Überprüfung unterzogen. In Fällen von Rückführungen gestatten die Behörden die Einreise nur mit türkischem Reisepass oder Passersatzpapier (vgl. Lagebericht S. 23). Die Einreisekontrollen wurden seit dem Putschversuch gezielter mit Listen mutmaßlicher Gülen- oder PKK-Anhänger durchgeführt (Schweizer Flüchtlingshilfe SFH, Schnellrecherche an das VG Karlsruhe vom 17. Februar 2017, S. 2).
Da dem Kläger ein Anspruch auf Flüchtlingsschutz zukommt, braucht über die gegenüber § 3 AsylG nachrangigen Gewährleistungen des § 4 AsylG und des § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG nicht mehr entschieden zu werden. Die weiteren negativen Entscheidungen wie die Abschiebungsandrohung und die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes nach § 11 Abs. 1 AufenthG sind daher ebenfalls aufzuheben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO und § 83b AsylG.