Gericht | OVG Berlin-Brandenburg 4. Senat | Entscheidungsdatum | 29.09.2022 | |
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Aktenzeichen | OVG 4 B 14/21 | ECLI | ECLI:DE:OVGBEBB:2022:0929.OVG4B14.21.00 | |
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen | Art 4 Abs 4 EURL 95/2011, Art 9 Abs 1 EURL 95/2011, Art 9 Abs 2 EURL 95/2011, Art 12 Abs 2 EURL 95/2011, § 3 Abs 1 AsylVfG 1992, § 3 Abs 2 AsylVfG 1992, § 3 Abs 4 AsylVfG 1992, § 3a Abs 1 AsylVfG 1992, § 3a Abs 2 Nr 1 AsylVfG 1992, § 3a Abs 2 Nr 3 AsylVfG 1992, § 3a Abs 2 Nr 5 AsylVfG 1992, § 3a Abs 3 AsylVfG 1992, § 3b Abs 1 Nr 4 AsylVfG 1992, § 3b Abs 1 Nr 5 AsylVfG 1992 |
Die einem Dienstpflichtigen in Eritrea wegen einer Entziehung oder Desertion vom Nationaldienst oder illegaler Ausreise im dienstpflichtigem Alter drohende Inhaftierung und/oder die (anschließende) Heranziehung zum Nationaldienst knüpft nach der derzeitigen Erkenntnislage nicht an eine ihm zugeschriebene politische Überzeugung oder ein anderes flüchtlingsschutzerhebliches Merkmal an.
Frauen im Nationaldienst Eritreas bilden keine bestimmte soziale Gruppe im Sinne von § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylVfG 1992.
In Eritrea droht Familienangehörigen von Deserteuren und Wehrdienstverweigerern ohne Hinzutreten gefahrerhöhender Risikomerkmale keine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung im Sinne einer Reflexverfolgung.
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 5. Dezember 2017 wird zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 120 v.H. des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 120 v.H. des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Die Klägerin begehrt – über den bereits gewährten subsidiären Schutz hinaus – die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
Die 1994 geborene Klägerin ist eritreische Staatsangehörige tigrinischer Volkszugehörigkeit und christlich-orthodoxen Glaubens. Sie reiste im Oktober 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 10. Februar 2016 einen Asylantrag. Bei ihrer persönlichen Anhörung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) gab sie unter anderem an, einer ihrer Brüder sei nach Israel geflüchtet, ein anderer Bruder sei im Jahr 2010 bei dem Versuch, die Grenze nach Äthiopien zu überqueren, erschossen worden. Als sie daraufhin die Schule nach der 9. Klasse abgebrochen habe, sei sie von der Verwaltung mit einem Brief aufgefordert worden, nach Sawa zu kommen. Außerdem hätten Soldaten sie beobachtet und ihr Schwierigkeiten gemacht, weil diese sie verdächtigt hätten, wie ihre Brüder fliehen zu wollen. Aus Angst vor den Zuständen in Sawa und dem Risiko, dort vergewaltigt zu werden, habe sie im März 2011 Eritrea verlassen. Sie befürchte, bei einer Rückkehr inhaftiert und vielleicht sogar getötet zu werden.
Mit Bescheid vom 30. März 2017 erkannte das Bundesamt der Klägerin subsidiären Schutzstatus zu und lehnte ihren Asylantrag im Übrigen ab. Ihr drohe in Eritrea ein ernsthafter Schaden. Sie sei jedoch kein Flüchtling. Sie habe nicht glaubhaft und substanziiert darlegen können, einen Einberufungsbescheid für Sawa erhalten zu haben.
Die Klägerin hat am 19. April 2017 Klage erhoben und zur Begründung eines Anspruchs auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft vorgetragen, sie sei trotz ihrer Einberufung nach Sawa illegal aus Eritrea ausgereist. Dies werde von der eritreischen Regierung nicht nur als verwirklichter Straftatbestand, sondern als eine regimefeindliche Einstellung gewertet. Ihr drohe daher bei einer Rückkehr aufgrund einer ihr vom eritreischen Staat zugeschriebenen gegnerischen politischen Überzeugung eine Inhaftierung unter unmenschlichen Bedingungen.
Das Verwaltungsgericht Berlin hat die Klage mit Urteil vom 5. Dezember 2017 abgewiesen.Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Ihr drohe im Falle einer Rückkehr nach Eritrea nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung „wegen“ eines Verfolgungsgrundes. Ihr habe zwar nach ihren Angaben die Einziehung zum Nationaldienst bevorgestanden. Die befürchteten Verfolgungshandlungen während dieses Dienstes erfolgten jedoch nicht wegen eines Verfolgungsgrundes. Sie knüpften nicht an eine ihr von den eritreischen Behörden zugeschriebene politische Gegnerschaft oder ein anderes flüchtlingsschutzrelevantes Merkmal an. Das Gleiche gelte für die ihr bei einer Rückkehr nach Eritrea drohende unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, weil sie aufgrund ihrer illegalen Ausreise im dienstpflichtigen Alter und der damit einhergehenden Entziehung vom Nationaldienst mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Vollstreckung einer außergerichtlich und willkürlich verhängten Haftstrafe unter unmenschlichen Haftbedingungen sowie die anschließende Einberufung in den militärischen Teil des Nationaldienstes zu erwarten habe. Von der Einziehung zum Nationaldienst und den dort herrschenden Bedingungen seien praktisch alle erwachsenen eritreischen Staatsbürger gleichermaßen ohne Ansehung ihrer Persönlichkeitsmerkmale betroffen. Weibliche Rekruten mögen im Vergleich zu männlichen Rekruten einem höheren Risiko ausgesetzt sein, im Rahmen des Nationaldienstes Opfer sexueller Gewalt zu werden. Nach den Angaben der Klägerin und den in das Verfahren eingeführten Erkenntnissen könne aber nicht davon ausgegangen werden, dass sexuelle Gewalt im Nationaldienst derart verbreitet sei, dass diese weiblichen Rekruten mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohe. Anhand der Erkenntnislage im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung lasse sich nicht feststellen, dass der Staat Eritrea der Klägerin allein deshalb eine gegnerische politische Gesinnung zuschreibe und sie wegen dieser zu bestrafen suche, weil sie sich der Einberufung nach Sawa entzogen habe, im nationaldienstpflichtigen Alter illegal aus Eritrea ausgereist sei und in Deutschland einen Asylantrag gestellt habe. Zur Begründung hat das Verwaltungsgericht auf sein Urteil vom 1. September 2017 – VG 28 K 166.17 A – (juris Rn. 36 – 46 und Rn. 57 – 56) Bezug genommen.
Die Klägerin macht mit ihrer vom Senat zugelassenen Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts vom 5. Dezember 2017 geltend, eritreischen Staatsangehörigen, die sich dem Militärdienst entzogen hätten oder desertiert seien, drohe eine unmenschliche Behandlung aus politischen Gründen. Der eritreische Staat unterstelle jedem, der das Land im dienstpflichtigen Alter illegal verlassen und deshalb keinen Nationaldienst geleistet habe, eine regimefeindliche Gesinnung. Hierfür spreche der ideologische Stellenwert des eritreischen Nationaldienstes. Dieser sei ein politisches Projekt, das die Regierung nicht nur zur Verteidigung des Landes, sondern als „Schule der Nation“ auch für den Wiederaufbau Eritreas nach der Unabhängigkeit und zur Vermittlung der nationalen Ideologie geschaffen habe. Auch die Strafpraxis der eritreischen Behörden zeige, dass die Verfolgung an eine unterstellte politische Überzeugung anknüpfe. Eritrea sei ein totalitärer Militärstaat, der willkürlich agiere. Ihr sei daher auch nicht zuzumuten, die „Diaspora-Steuer“ zu entrichten und eine Reueerklärung zu unterzeichnen, um unbehelligt nach Eritrea zurückkehren zu können. Es bestehe kein hinreichender Schutz vor Bestrafung.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 5. Dezember 2017 zu ändern und die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 30. März 2017 zu verpflichten, ihr die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beklagte tritt der Berufung entgegen und verteidigt das angefochtene Urteil. Sie verweist auf die Urteile des Senats vom 17. November 2021 – OVG 4 B 13/21 – und – OVG 4 B 17/21 – ( beide juris). Jene Rechtsprechung treffe auch auf Frauen zu. Diese seien keine soziale Gruppe im Sinne von § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG. Bei der Klägerin sei zudem zweifelhaft, ob diese bei einer hypothetischen Rückkehr nach Eritrea überhaupt noch wehrdienstpflichtig wäre, weil sie das 27. Lebensjahr bereits vollendet habe. Im Übrigen sei ihr zuzumuten, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung durch Erlangung des Diaspora-Status zu verhindern.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie die Asylakte der Klägerin Bezug genommen, die vorgelegen haben und deren Inhalt – soweit wesentlich – Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Entscheidungsfindung gewesen ist.
Die zulässige Berufung der Klägerin ist nicht begründet. Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die allein streitgegenständliche Versagung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft mit Bescheid des Bundesamtes vom 30. März 2017 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Sie hat nach der gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG maßgeblichen Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Ihr droht in ihrem Herkunftsland keine flüchtlingsschutzrelevante Verfolgung. Dabei ist von Eritrea als Herkunftsland auszugehen, weil an der eritreischen Staatsangehörigkeit der Klägerin nach dem Inhalt ihrer Anhörung beim Bundesamt keine Zweifel bestehen. Auch die Beklagte geht von dieser Staatsangehörigkeit aus.
Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, wenn er Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist und keine der in § 3 Abs. 4 AsylG genannten Ausschlussgründe vorliegen. Ein Ausländer ist gemäß § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.
Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1 und 2 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention) keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). Diese Legaldefinition der Verfolgungshandlung setzt die Vorgaben aus Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (RL 2011/95/EU) um. § 3a Abs. 2 AsylG nennt im Einklang mit Art. 9 Abs. 2 RL 2011/95/EU einzelne Regelbeispiele von Verfolgungshandlungen, die nicht abschließend sind. Danach kann die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt (Nr. 1) ebenso wie eine unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung (Nr. 2) ausreichen. Die Annahme einer Verfolgungshandlung setzt einen gezielten Eingriff in ein flüchtlingsrechtlich geschütztes Rechtsgut voraus (vgl. hierzu BVerwG, Urteile vom 19. April 2018 – 1 C 29.17 – juris Rn. 11 und vom 4. Juli 2019 – 1 C 33.18 – juris Rn. 11, jeweils m.w.N.).
§ 3b Abs. 1 AsylG konkretisiert die in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Verfolgungsgründe. Gemäß § 3b Abs. 2 AsylG ist es bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, unerheblich, ob dieser tatsächlich die flüchtlingsschutzrelevanten Merkmale aufweist, sofern ihm diese von seinem Verfolger zugeschrieben werden.
Zwischen den genannten Verfolgungsgründen und den in § 3a Abs. 1 und 2 AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen muss eine kausale Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG). Die Verfolgungshandlung muss darauf gerichtet sein, den von ihr Betroffenen gerade in Anknüpfung an einen oder mehrere Verfolgungsgründe zu treffen. Ob die Verfolgung „wegen“ eines Verfolgungsgrundes erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme zu beurteilen, nicht hingegen nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten. Diese Zielgerichtetheit muss nicht nur hinsichtlich der durch die Verfolgungshandlung bewirkten Rechtsgutverletzung anzunehmen sein, sondern auch in Bezug auf die Verfolgungsgründe im Sinne des § 3b AsylG, an die die Handlung anknüpft. Für eine derartige „Verknüpfung“ reicht ein Zusammenhang im Sinne einer Mitverursachung aus. Ein bestimmter Verfolgungsgrund muss nicht die zentrale Motivation oder alleinige Ursache einer Verfolgungsmaßnahme sein. Indes genügt eine lediglich entfernte, hypothetische Verknüpfung mit einem Verfolgungsgrund nicht (vgl. BVerwG, Urteile vom 19. April 2018 – 1 C 29.17 – juris Rn. 13 und vom 4. Juli 2019 – 1 C 33.18 – juris Rn. 13, jeweils m.w.N.).
Die Furcht vor Verfolgung ist im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG begründet, wenn dem Ausländer – bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr – die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit („real risk“) drohen (vgl. BVerwG, Urteile vom 19. April 2018 – 1 C 29.17 – juris Rn. 14 und vom 4. Juli 2019 – 1 C 33.18 – juris Rn. 15, jeweils m.w.N.). Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Entscheidend ist, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann und ihm deswegen eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheint (vgl. BVerwG, Urteile vom 20. Februar 2013 – 10 C 23.12 – juris Rn. 32, vom 19. April 2018 – 1 C 29.17 – juris Rn. 14 und vom 4. Juli 2019 – 1 C 33.18 – juris Rn. 15, jeweils m.w.N.).
Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab gilt unabhängig von der Frage, ob der Antragsteller vorverfolgt ausgereist ist oder nicht. Vorverfolgte werden nach den unionsrechtlichen Vorgaben nicht über einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab, sondern über die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU privilegiert. Danach besteht bei ihnen eine tatsächliche Vermutung, dass ihre Furcht vor Verfolgung begründet ist. Diese Vermutung kann widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe dagegen sprechen, dass ihnen erneut eine derartige Verfolgung droht (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 – 1 C 37.18 – juris Rn. 14 m.w.N.).
Nach diesen Maßstäben droht der Klägerin bei einer – wegen des ihr zuerkannten subsidiären Schutzes derzeit nur hypothetischen – Rückkehr nach Eritrea nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG. Eine begründete Furcht der Klägerin vor individueller, zielgerichteter Verfolgung lässt sich weder angesichts ihres Vortrages zu ihren individuellen Fluchtgründen noch allgemein mit dem Risiko einer (erneuten) Einberufung zum Nationaldienst, einer Bestrafung wegen Entziehung von diesem Dienst oder einer Bestrafung wegen illegaler Ausreise aus Eritrea oder der Asylantragstellung in Deutschland begründen.
Die Klägerin ist nicht vorverfolgt ausgereist, so dass ihr die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU nicht zugutekommt.
Die Schilderungen der Klägerin bei der Anhörung durch das Bundesamt, Soldaten hätten sie beobachtet und ihr Schwierigkeiten gemacht, weil diese sie verdächtigt hätten, fliehen zu wollen, bieten keine Anhaltspunkte dafür, dass ihr zum Zeitpunkt der Ausreise eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung drohte. Insoweit sind schon keine als Verfolgung einzustufende Handlungen im Sinne des § 3a Abs. 1 und 2 AsylG ersichtlich.
Die weiteren Angaben der Klägerin gegenüber dem Bundesamt, sie sei geflüchtet, weil sie nach Sawa einberufen worden sei, dort aber wegen der Zustände und des Risikos einer Vergewaltigung nicht habe hingehen wollen, rechtfertigen ebenfalls nicht die Annahme einer Vorverfolgung. Nichts anderes gilt, soweit sie in der mündlichen Verhandlung erklärt hat, nicht nach Sawa, sondern als Schulabgängerin in das Militärlager nach Wi‘a einberufen worden zu sein (vgl. zu den Zuständen in Sawa und Wi’a: Pro Asyl, Eritrea im Fokus – Das Willkürregime wird verharmlost, der Flüchtlingsschutz ausgehebelt, 10. März 2020, S. 46 ff.). Weder ihre Heranziehung zur Ableistung des Nationaldienstes noch die Bedingungen innerhalb dieses Dienstes oder eine bei einer Rückkehr nach Eritrea drohende Bestrafung wegen Entziehung vom Nationaldienst und anschließende Heranziehung zu diesem Dienst stellen eine flüchtlingsschutzrelevante Verfolgung im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG dar. Dies gilt auch dann, wenn der Klägerin Verfolgungshandlungen im Sinne von § 3a AsylG bei der befürchteten Bestrafung bei einer Rückkehr sowie gegebenenfalls bei einer anschließenden Heranziehung zum Nationaldienst drohen sollten. Denn diese knüpfen jedenfalls nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit an eine ihr zugeschriebene oppositionelle politische Überzeugung im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG oder ein anderes flüchtlingsschutzrelevantes Merkmal an.
Ein Ausländer wird wegen einer politischen Überzeugung verfolgt, wenn dies geschieht, weil er eine bestimmte Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung in einer Angelegenheit vertritt, die die in § 3c AsylG genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft. Dabei genügt es, dass dem Ausländer diese Überzeugung von seinem Verfolger zugeschrieben wird (§ 3b Abs. 2 AsylG). Die politische Überzeugung wird in erheblicher Weise unterdrückt, wenn ein Staat mit Mitteln des Strafrechts oder in anderer Weise auf Leib, Leben oder die persönliche Freiheit des Einzelnen schon deshalb zugreift, weil dieser seine mit der Staatsraison nicht übereinstimmende politische Meinung nach außen bekundet und damit notwendigerweise eine geistige Wirkung auf die Umwelt ausübt und meinungsbildend auf andere einwirkt. Hiervon kann insbesondere auszugehen sein, wenn er eine Behandlung erleidet, die härter ist, als sie sonst zur Verfolgung ähnlicher – nichtpolitischer – Straftaten von vergleichbarer Gefährlichkeit im Verfolgerstaat üblich ist (sog. „Politmalus“). Demgegenüber liegt grundsätzlich keine Sanktionierung einer politischen Überzeugung vor, wenn die staatliche Maßnahme allein der Durchsetzung einer alle Staatsbürger gleichermaßen treffenden Pflicht dient. Dies gilt auch für Sanktionen, die an eine Wehrdienstentziehung anknüpfen, selbst wenn diese von totalitären Staaten verhängt werden. Solche Maßnahmen begründen nur dann eine flüchtlingsrechtlich erhebliche Furcht vor Verfolgung, wenn sie den Betroffenen über die Ahndung des allgemeinen Pflichtverstoßes hinaus wegen asylerheblicher Merkmale, insbesondere wegen einer wirklichen oder vermuteten, von der herrschenden Staatsdoktrin abweichenden politischen Überzeugung treffen sollen. Indizien hierfür können ein unverhältnismäßiges Ausmaß der Sanktionen oder deren diskriminierender Charakter sein (vgl. BVerwG, Beschluss vom 24. April 2017 – 1 B 22.17 – juris Rn. 14 sowie Urteile vom 19. April 2018 – 1 C 29.17 – juris Rn. 21 f. und vom 4. Juli 2019 – 1 C 33.18 – juris Rn. 14, jeweils m.w.N.).
Ausgehend von diesen Maßstäben sprechen bei einer Gesamtbetrachtung und Würdigung der dem Senat vorliegenden Erkenntnismittel gewichtigere Indizien gegen die Annahme, dass die einem Dienstpflichtigen in Eritrea wegen einer Entziehung oder Desertion vom Nationaldienst oder illegaler Ausreise im dienstpflichtigen Alter drohende Inhaftierung und/oder die (anschließende) Verpflichtung zur Ableistung des Nationaldienstes an eine ihm zugeschriebene politische Überzeugung oder ein anderes flüchtlingsschutzerhebliches Merkmal anknüpft.
Gegen eine Anknüpfung an ein flüchtlingsschutzerhebliches Merkmal ist in erster Linie anzuführen, dass sich die Verpflichtung zur Ableistung des Nationaldienstes in Eritrea nach Rechtslage und Anwendungspraxis im Wesentlichen auf alle eritreischen Staatsangehörigen ohne Unterscheidung nach flüchtlingsschutzerheblichen individuellen Persönlichkeitsmerkmalen erstreckt.
Nach dem maßgeblichen eritreischen Recht ist „jeder eritreische Bürger“ im Alter von 18 bis 50 Jahren verpflichtet, den Nationaldienst auszuüben (Art. 6 der Proklamation Nr. 82/1995 über den Nationaldienst [Proclamation on National Service No. 82/1995] vom 23. Oktober 1995; englische Übersetzung abrufbar unter https://www.refworld.org/docid/3dd8d3af4.html, zuletzt abgerufen am 27. September 2022). Auch in der praktischen Anwendung dieser Bestimmung betrachtet der Staat Eritrea grundsätzlich alle aus seiner Sicht erwachsenen Staatsbürger bis zu einem bestimmten Alter gleichermaßen und ohne Ansehung von individuellen Persönlichkeitsmerkmalen als dienstverpflichtet. Insoweit nimmt er keine Auswahl oder Auslese anhand flüchtlingsschutzrechtlicher Merkmale wie Rasse, Religion, Nationalität, politischer Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe vor (vgl. zur Rekrutierungspraxis European Asylum Support Office [EASO], Eritrea: Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 27 ff.; österreichisches Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl [BFA], Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Eritrea, 19. Mai 2021, S. 11 f.; Schweizerische Flüchtlingshilfe [SFH], Eritrea: Nationaldienst – Themenpapier vom 30. Juni 2017, S. 8 ff.; vgl. auch OVG Münster, Beschluss vom 21. September 2020 – 19 A 1857/19.A – juris Rn. 40 ff. m.w.N.). Das wird vor allem an der Rekrutierung jugendlicher eritreischer Staatsangehöriger zum Nationaldienst deutlich, die systematisch alle Kreise der eritreischen Bevölkerung gleichermaßen erfasst. Nach Angaben der eritreischen Regierung ist die reguläre und wichtigste Rekrutierungsmethode für den Nationaldienst das Schulsystem. Alle eritreischen Sekundarschüler müssen unabhängig von ihrem Alter die 12. Abschlussklasse im militärischen Ausbildungslager in Sawa absolvieren. Für die Rekrutierung der vorzeitigen Schulabgänger, d.h. derjenigen, welche die Schule vor Erreichen der 12. Klasse verlassen und die den weit überwiegenden Teil der Jugendlichen ausmachen, sind die örtlichen Verwaltungsbehörden zuständig. Schließlich rekrutieren die eritreischen Sicherheitskräfte Personen im dienstpflichtigen Alter durch Razzien (sog. giffas). Bei einer solchen Razzia wird ein Gebiet oder eine Ortschaft abgeriegelt und alle anwesenden Personen, die sich dem äußeren Anschein nach im dienstpflichtigen Alter befinden, werden hinsichtlich ihres Nationaldienststatus kontrolliert. Wer nicht nachweisen kann, dass er entweder dem Nationaldienst angehört oder seine Dienstpflicht erfüllt hat, wird festgehalten, inhaftiert und anschließend in die militärische Ausbildung überführt (vgl. EASO, Eritrea: Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 27 ff.; Pro Asyl, Eritrea im Fokus – Das Willkürregime wird verharmlost, der Flüchtlingsschutz ausgehebelt, 10. März 2020, S. 42, 46 f.; SFH, Eritrea: Nationaldienst – Themenpapier vom 30. Juni 2017, S. 8 ff.).
Auch keine der gesetzlich vorgesehenen Ausnahmen von der Dienstpflicht (Art. 12 ff. der Proklamation Nr. 82/1995) und der rein faktisch praktizierten Freistellungen knüpft an flüchtlingsschutzerhebliche Persönlichkeitsmerkmale an. Am häufigsten sind Schwangere, Mütter und verheiratete Frauen faktisch vom Nationaldienst ausgenommen, wobei diese Praxis nicht einheitlich angewandt wird (vgl. Danish Immigration Service [DIS], Country Report, Country of Origin Information: Eritrea – National service, exit and entry, Januar 2020, S. 28 f.; EASO, Eritrea: Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 33 f., 36; vgl. auch OVG Hamburg, Urteil vom 27. Oktober 2021 – 4 Bf 106/20.A – juris Rn. 50 f.; OVG Münster, Beschluss vom 21. September 2020 – 19 A 1857/19.A – juris Rn. 60 ff., jeweils m.w.N.).
Ebenso wenig ist bei der Dauer der Dienstpflicht eine Anknüpfung an flüchtlingsschutzerhebliche Merkmale feststellbar. Nach Art. 2 Abs. 2 der Proklamation Nr. 82/1995 besteht der Nationaldienst aus einem militärischen Teil („active national service“) und einem zivilen Teil, dem Reservistendienst („reserve military service“). Der militärische Teil dauert von Gesetzes wegen 18 Monate (Art. 2 Abs. 3 der Proklamation Nr. 82/1995) und ist eine zwingende Verpflichtung für alle eritreischen Staatsangehörigen im Alter von 18 bis 40 Jahren (Art. 8 der Proklamation Nr. 82/1995). Der zivile Teil des Nationaldienstes ist nur von Gesetzes wegen ein Reservedienst. In der Praxis hingegen hat der Staat Eritrea seine Streitkräfte nach dem Grenzkrieg mit Äthiopien von 1998 bis 2000 angesichts des zunächst nur militärisch beendeten, aber formell bis Juli 2018 weiter bestehenden Kriegszustandes im Jahr 2002 auf der Grundlage von Art. 21 Abs. 1 der Proklamation Nr. 82/1995 im Zustand der Mobilmachung belassen, in dem auch die Reservisten weiter bis zu ihrer Entlassung dienstpflichtig sind (Art. 2 Abs. 4 der Proklamation Nr. 82/1995, frühere „no war no peace“-Situation). Der Zustand der Mobilmachung dauert bis heute an, obwohl der Kriegszustand mit Äthiopien seit dem Friedensabkommen vom 9. Juli 2018 inzwischen auch formell beendet ist. Auf dieser Grundlage zieht der Staat Eritrea seine Staatsangehörigen unterschiedslos regelmäßig zu einer die 18-Monats-Grenze weit überschreitenden, langjährigen Dienstleistung heran. Nur in Einzelfällen werden Angehörige des Nationaldienstes schon nach den gesetzlich vorgesehenen 18 Monaten entlassen. Die Angaben über die Altersgrenzen, bis zu denen die Staatsangehörigen als dienstpflichtig angesehen werden, variieren bei Männern zwischen 50 und 57 Jahren. Bei Frauen scheint eine informelle Altersgrenze von 27 Jahren häufig angewendet zu werden, aber es gibt auch Frauen mit über 40 Jahren, die nach wie vor Dienst leisten (vgl. Auswärtiges Amt [AA], Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea, 3. Januar 2022, S. 14; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Eritrea, 19. Mai 2021, S. 11; DIS, Country Report, Country of Origin Information: Eritrea – National service, exit and entry, Januar 2020, S. 17 f.; EASO, Eritrea: Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 35 ff.).
Sind nach alledem praktisch sämtliche erwachsenen eritreischen Staatsbürger gleichermaßen ohne Ansehung ihrer Persönlichkeitsmerkmale von der Nationaldienstpflicht betroffen, fehlt es an Anhaltspunkten dafür, dass die Heranziehung zum Nationaldienst als solche bzw. eine etwaige unmenschliche Behandlung während dieses Dienstes an eine der Klägerin unterstellte regimegegnerische politische Überzeugung anknüpft (vgl. auch BVerwG, Urteil vom 19. April 2018 – 1 C 29.17 – juris Rn. 36; OVG Bautzen, Urteil vom 14. April 2021 – 6 A 100/19.A – juris Rn. 39; OVG Hamburg, Beschluss vom 2. September 2021 – 4 Bf 546/19.A – juris Rn. 40; VGH Kassel, Urteil vom 23. Februar 2021 – 10 A 1939/20.A – juris Rn. 25 ff.; OVG Lüneburg, Beschluss vom 24. August 2020 – 4 LA 167/20 – juris Rn. 3 f.; VGH Mannheim, Urteil vom 8. Juli 2021 – A 13 S 403/20 – juris Rn. 30; VGH München, Urteil vom 5. Februar 2020 – 23 B 18.31593 – juris Rn. 28, 33; OVG Münster, Beschluss vom 21. September 2020 – 19 A 1857/19.A – juris Rn. 37 ff.; OVG Saarlouis, Urteil vom 21. März 2019 – 2 A 10/18 – juris Rn. 20 f.).
Gegen eine Verknüpfung im Sinne des § 3a Abs. 3 AsylG zwischen etwaigen Verfolgungshandlungen während des Nationaldienstes oder bei einer wegen Desertion oder Umgehung des Nationaldienstes drohenden Inhaftierung und einer dem Dienstpflichtigen zugeschriebenen politischen Überzeugung spricht weiter, dass sich auf der Grundlage der aktuellen Erkenntnisse keine generell härtere Bestrafung von Deserteuren und Dienstverweigerern feststellen lässt.
Nach Art. 37 Abs. 1 der Proklamation Nr. 82/1995 werden alle Verstöße gegen die Bestimmungen dieser Proklamation mit Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren und/oder Geldstrafe in Höhe von 3.000 Birr (etwa 180 Euro) geahndet, sofern sich aus dem eritreischen Strafgesetzbuch von 1991 keine härteren Strafen ergeben. Wer sich seiner Dienstpflicht in deren Kenntnis durch Flucht ins Ausland entzieht und nicht bis zum Alter von 40 Jahren zur Ableistung des Dienstes zurückkehrt, unterliegt nach Art. 37 Abs. 3 der Proklamation Nr. 82/1995 bis zum Alter von 50 Jahren einer Haftstrafe von bis zu fünf Jahren. Nach Art. 300 des Strafgesetzbuches von 1991 kann Dienstverweigerung und Desertion in Friedenszeiten mit bis zu fünf Jahren, in Kriegszeiten mit Haft von fünf Jahren bis lebenslänglich und in besonderen Fällen mit der Todesstrafe bestraft werden. Im Jahr 2015 wurde ein neues Strafgesetzbuch bekanntgegeben, das in Art. 119 für Desertion in Friedenszeiten Haftstrafen zwischen einem und drei Jahren, in Kriegszeiten zwischen sieben und zehn Jahren vorsieht. Die Todesstrafe in Fällen der Desertion ist hiernach abgeschafft, jedoch soll das neue Strafgesetz noch keine Anwendung finden (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea, 3. Januar 2022, S. 13, 19; EASO, Eritrea: Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 43). Nach Art. 29 Abs. 2 der Proklamation Nr. 24/1992 ist die – auch nur versuchte – illegale Ausreise ebenfalls mit einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren oder mit einer Geldstrafe in Höhe von bis 10.000 Bir (etwa 600 Euro) bedroht (vgl. hierzu EASO, Eritrea: Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 56 f.).
Allerdings ist nach den vorliegenden Erkenntnisquellen davon auszugehen, dass in der Praxis Strafen nicht den gesetzlichen Regelungen entsprechend, sondern außergerichtlich und willkürlich verhängt werden (vgl. amnesty international [ai], Stellungnahme vom 2. August 2018 an das VG Magdeburg, S. 4; EASO, Eritrea: Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 10, 40 f., 43 f., 57 f.; Human Rights Council [HRC], Report of the Special Rapporteur on the situation of human rights in Eritrea, Mohamed Abdelsalam Babiker, 12. Mai 2021, S. 8 f.; Staatsekretariat für Migration, Schweiz [SEM], Focus Eritrea: Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 10. August 2016, S. 21, 24, 31; SFH, Schnellrecherche vom 22. September 2016 zu Eritrea: Bestrafung von illegaler Ausreise, S. 2 f.; siehe auch OVG Bautzen, Urteil vom 14. April 2021 – 6 A 100/19.A – juris Rn. 32; OVG Hamburg, Beschluss vom 2. September 2021 – 4 Bf 546/19.A – juris Rn. 49; VGH Mannheim, Urteil vom 8. Juli 2021 – A 13 S 403/20 – juris Rn. 35; OVG Münster, Beschluss vom 21. September 2020 – 19 A 1857/19.A – juris Rn. 76; OVG Saarlouis, Urteil vom 21. März 2019 – 2 A 10/18 – juris Rn. 25). Bei einer Razzia oder beim illegalen Verlassen des Landes aufgegriffene Deserteure und Dienstverweigerer werden ohne Anklage und gerichtliche Entscheidung inhaftiert. Sie werden in der Haft verhört und manchmal auch gefoltert, sowohl als Verhör- als auch als Strafmaßnahme. Quellen berichten über Haftzeiten zwischen einem und zwölf Monaten als typisch, mit längeren Haftzeiten bis zu drei Jahren für Wiederholungstäter oder Dokumentenfälscher. Deserteure werden nach der Haftentlassung zu ihren Einheiten zurückgebracht, Dienstverweigerer durchlaufen üblicherweise danach das militärische Training. Nach der Rückkehr eines Deserteurs in seine militärische Einheit entscheidet der Kommandeur willkürlich über weitere Folgen. Diese können in einer weiteren Inhaftierung im Gefängnis der Einheit, möglicherweise unter Folter, aber auch in der Wiedereingliederung in die Einheit bestehen. Deserteure aus dem zivilen Teil des Nationaldienstes werden nach ihrer Haftentlassung üblicherweise an eine militärische Einheit überstellt, einige aber auch an ihren früheren Arbeitsplatz (vgl. DIS, Country Report, Country of Origin Information: Eritrea – National service, exit and entry, Januar 2020, S. 25 ff.; EASO, Eritrea: Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 10, 32, 43 f., 57). Personen, die das Land vor einer Einberufung zum Nationaldienst illegal verlassen haben und im dienstpflichtigen Alter zurückkehren, werden bei der Rückkehr bereits an der Grenze inhaftiert und danach fast immer direkt zum Nationaldienst eingezogen. Daneben bleiben sie meist straffrei oder erhalten eine Strafe lediglich wegen illegalen Verlassens des Landes (vgl. EASO, Eritrea: Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 56 ff.).
Mehrere Quellen deuten allerdings darauf hin, dass Strafen für Verstöße gegen die Nationaldienstpflicht und gegen die Ausreisebestimmungen seit den Jahren 2014 bis 2016, erst recht aber seit der Einleitung des Friedensprozesses mit Äthiopien im Frühjahr 2018 und der zeitweiligen Grenzöffnung zwischen September 2018 und April 2019 milder ausfallen. Neben den Haftstrafen, die eine Spanne von wenigen Wochen bis zu mehreren Jahren umfassen können, kann die Bestrafung auch nur in einer Belehrung liegen. Darüber hinaus wird über Fälle berichtet, in denen Betroffene einer Sanktionierung entgangen sind (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea, 3. Januar 2022, S. 22 f.; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Eritrea, 19. Mai 2021, S. 28; SEM, Focus Eritrea: Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 10. August 2016, S. 21, 31). Dies soll vor allem darauf zurückzuführen sein, dass Fluchtversuche zu einem Massenphänomen geworden sind und sich daher die Zahl der Inhaftierten beträchtlich erhöht haben soll. Ein weiterer Grund für kürzere Haftdauern soll darin liegen, dass betroffene Personen schnell wieder dem Nationaldienst zugeführt werden sollen, weil die große Anzahl von Deserteuren dort erhebliche Lücken hinterlasse (vgl. ai, Stellungnahme vom 2. August 2018 an das VG Magdeburg, S. 5 f.; OVG Bautzen, Urteil vom 14. April 2021 – 6 A 100/19.A – juris Rn. 33; VGH Kassel, Urteil vom 23. Februar 2021 – 10 A 1939/20.A – juris Rn. 30; OVG Münster, Beschluss vom 21. September 2020 – 19 A 1857/19.A – juris Rn. 80; OVG Saarlouis, Urteil vom 21. März 2019 – 2 A 10/18 – juris Rn. 25).
Derartige Motive für die Strafzumessung deuten ebenso wenig wie die einschlägigen eritreischen Strafvorschriften, die ohne Anknüpfung an individuelle Persönlichkeitsmerkmale jeden eritreischen Staatsangehörigen gleichermaßen treffen, darauf hin, dass der Staat Eritrea Dienstverweigerern und Deserteuren, die sich im Land selbst oder durch Ausreise dem Nationaldienst entziehen, generell eine regimegegnerische Haltung zuschreibt. Im Gegenteil spricht die große Bandbreite der insoweit angedrohten und tatsächlich verhängten Strafen gegen die Annahme, die Bestrafung wegen Entziehung vom Nationaldienst oder Desertion und illegaler Ausreise diene politischen Zwecken. Würde der eritreische Staat allen Personen, die illegal ausgereist sind und dadurch die Ableistung des Nationaldienstes umgehen, generell eine Regimegegnerschaft unterstellen, wäre zu erwarten, dass er diesem Umstand in der Bestrafungspraxis auch Rechnung trägt und alle Betroffenen im Wesentlichen gleichermaßen hart bestraft. Gegen eine politische Zielrichtung spricht ferner der Zweck der Sanktionierungsmaßnahmen, die der Erzwingung von Geständnissen, Informationsgewinnung, Bestrafung für angebliches Fehlverhalten sowie der Schaffung eines allgemeinen Klimas der Angst zur Aufrechterhaltung der Disziplin und Kontrolle über die eigene Bevölkerung dienen (vgl. OVG Hamburg, Beschluss vom 2. September 2021 – 4 Bf 546/19.A – juris Rn. 57; VGH Kassel, Urteil vom 23. Februar 2021 – 10 A 1939/20.A – juris Rn. 36; OVG Lüneburg, Beschluss vom 24. August 2020 – 4 LA 167/20 – juris Rn. 3 f.; VGH Mannheim, Urteil vom 8. Juli 2021 – A 13 S 403/20 – juris Rn. 46; VGH München, Urteil vom 5. Februar 2020 – 23 B 18.31593 – juris Rn. 48; OVG Münster, Beschluss vom 21. September 2020 – 19 A 1857/19.A – juris Rn. 106; OVG Saarlouis, Urteil vom 21. März 2019 – 2 A 10/18 – juris Rn. 27).
Von einer hinter der Bestrafung stehenden politischen Motivation des eritreischen Staates ist auch nicht wegen der willkürlichen und außergerichtlichen Sanktionierungspraxis und wegen der menschenrechtswidrigen Bedingungen während der Haft auszugehen. Denn diese Strafvollstreckungspraxis wegen der hier in Rede stehenden Delikte unterscheidet sich nicht von derjenigen bei anderen Delikten. Sie ist vielmehr Ausdruck des totalitären Herrschaftsanspruchs des Regimes, dessen Durchsetzung gegenüber der Bevölkerung für sich genommen an kein flüchtlingsschutzerhebliches Merkmal anknüpft (vgl. auch OVG Bautzen, Urteil vom 14. April 2021 – 6 A 100/19.A – juris Rn. 34; OVG Hamburg, Beschluss vom 2. September 2021 – 4 Bf 546/19.A – juris Rn. 57; VGH Kassel, Urteil vom 23. Februar 2021 – 10 A 1939/20.A – juris Rn. 33, 37; VGH Mannheim, Urteil vom 13. Juli 2021 – A 13 S 1563/20 – juris Rn. 57; OVG Saarlouis, Urteil vom 21. März 2019 – 2 A 10/18 – juris Rn. 27). So sind Verhaftungen ohne Haftbefehl und ohne Angabe von Gründen auch sonst üblich. Militärgerichte, vor denen keine Rechtsanwälte zugelassen sind, können jedes Verfahren an sich ziehen (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea, 3. Januar 2022, S. 8, 13 f.; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Eritrea, 19. Mai 2021, S. 7 f.; EASO, Länderfokus Eritrea, Mai 2015, S. 28; United States Department of State [USDOS], Eritrea 2020, Human Rights Report, 30. März 2021, S. 5 f.). Die potentiell alle eritreischen Staatsangehörigen gleichermaßen treffenden Haftbedingungen werden generell als prekär und unmenschlich beschrieben. Die Zellen sind häufig überbelegt. Die hygienischen Bedingungen sind schlecht. Die Versorgung mit Trinkwasser ist ebenso wie eine medizinische Versorgung nicht gewährleistet. Essensrationen sind knapp und wenig nahrhaft. Folter und Misshandlungen sollen sowohl zur Beschaffung von Informationen und Geständnissen als auch als Teil der Bestrafung eingesetzt werden. Es wird unter anderem von Schlägen mit – teilweise benagelten – Stöcken und dem Festbinden von Häftlingen in gekrümmter Haltung berichtet. Teilweise werden die Gefangenen in unterirdischen Zellen oder auch in Schiffscontainern eingesperrt, die aufgrund des Klimas in Eritrea tagsüber sehr heiß und nachts sehr kalt werden können (vgl. ai, Stellungnahme vom 2. August 2018 an das VG Magdeburg, S. 4 f.; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Eritrea, 19. Mai 2021, S. 9, 17 f.; EASO, Länderfokus Eritrea, Mai 2015, S. 45 ff.; HRC, Report of the Special Rapporteur on the situation of human rights in Eritrea, Mohamed Abdelsalam Babiker, 12. Mai 2021, S. 8 f.; USDOS, Eritrea 2020, Human Rights Report, 30. März 2021, S. 3 f.). Zwar sollen in Haftanstalten mit besonders harten Bedingungen häufig solche Personen untergebracht werden, deren Vergehen die eritreischen Behörden als schwerwiegend ansehen. Hierzu sollen aber auch unpolitische Straftaten wie beispielsweise Schmuggel oder illegale Geldwechselgeschäfte gehören (vgl. HRC, Report of the detailed findings of the Commission of Inquiry on Human Rights in Eritrea, 5. Juni 2015, S. 248 Abs. 890). Völlig willkürliches Vorgehen spricht gegen eine an die politische Überzeugung anknüpfende Verfolgung (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 – 1 C 31.18 – juris Rn. 32).
Bei der Würdigung ist ebenfalls zu berücksichtigen, dass die Flucht vor dem Nationaldienst bereits seit Jahren ein Massenphänomen ist. Im Jahr 2019 verließen mehr als 70.000 Eritreer ihr Heimatland. Inzwischen soll geschätzt die Hälfte der eritreischen Staatsangehörigen im Ausland leben (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea, 3. Januar 2022, S. 21, 27 f.; Bundeszentrale für politische Bildung [bpb], Der lange Arm des Regimes – Eritrea und seine Diaspora, 16. April 2020, S. 2; HRC, Report of the Special Rapporteur on the situation of human rights in Eritrea, 11. Mai 2020, S. 14). Bei einem solchen Massenexodus muss auch dem eritreischen Staat bewusst sein, dass der Großteil der Emigranten Eritrea in erster Linie aufgrund der prekären Lebensbedingungen im Nationaldienst und der wirtschaftlichen Perspektivlosigkeit verlässt, nicht hingegen vorrangig wegen einer regimefeindlichen Haltung (ebenso OVG Bautzen, Urteil vom 14. April 2021 – 6 A 100/19.A – juris Rn. 37; OVG Hamburg, Beschluss vom 2. September 2021 – 4 Bf 546/19.A – juris Rn. 63; VGH Kassel, Urteil vom 23. Februar 2021 – 10 A 1939/20.A – juris Rn. 39, 43; OVG Lüneburg, Beschluss vom 24. August 2020 – 4 LA 167/20 – juris Rn. 3 f.; VGH Mannheim, Urteil vom 8. Juli 2021 – A 13 S 403/20 – juris Rn. 47; VGH München, Urteil vom 5. Februar 2020 – 23 B 18.31593 – juris Rn. 55; OVG Münster, Beschluss vom 21. September 2020 – 19 A 1857/19.A – juris Rn. 89; OVG Saarlouis, Urteil vom 21. März 2019 – 2 A 10/18 – juris Rn. 28).
Ein gewichtiges Argument gegen eine Anknüpfung an das flüchtlingsschutzerhebliche Merkmal der politischen Überzeugung ist weiter darin zu sehen, dass der Staat Eritrea unter dem Eindruck des Massenexodus bei Auslandseritreern aus ökonomischen Gründen auf den staatlichen Strafanspruch verzichtet, indem er ihnen Straffreiheit durch Unterzeichnung einer „Reueerklärung“ und Zahlung einer „Diaspora-Steuer“ gewährt.
Alle eritreischen Staatsangehörigen, die sich dauerhaft im Ausland aufhalten, sind seit 1992 zur Zahlung einer sog. Aufbau- bzw. „Diaspora-Steuer“ in Höhe von zwei Prozent ihres Einkommens (Gehalt oder Sozialleistungen) verpflichtet (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea, 3. Januar 2022, S. 21, 25 f.; DIS, Country Report, Country of Origin Information: Eritrea – National service, exit and entry, Januar 2020, S. 38; EASO, Eritrea: Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 60; SFH, Reflexverfolgung, Rückkehr und „Diaspora-Steuer“, Auskunft vom 30. September 2018, S. 7 f.). Die Bezahlung der Steuer ist notwendige Bedingung dafür, dass ein Auslandseritreer konsularische Leistungen der für ihn zuständigen Auslandsvertretung seines Aufenthaltslandes in Anspruch nehmen kann (etwa Ausstellung sowie Erneuerung von Ausreisevisa und Reisepässen). Auch wer illegal ausgereist ist und sich dem Nationaldienst entzogen hat, kann nach einem dreijährigen Auslandsaufenthalt den sog. „Diaspora-Status“ erlangen, wenn er die „Diaspora-Steuer“ entrichtet und ein „Reueformular“ („Letter of Regret“) unterzeichnet. Er kann dann in der Regel unbehelligt nach Eritrea ein- und wieder ausreisen und ist nicht verpflichtet, den Nationaldienst zu leisten. Das „Reueformular“ umfasst zwar ein Schuldeingeständnis und die Erklärung, die vorgesehene Strafe zu gegebener Zeit anzunehmen (vgl. englische Übersetzung des Originaltextes vom 12. Juli 2012: SEM, Focus Eritrea: Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 10. August 2016, S. 33). Zu einer Bestrafung soll es dann aber nicht kommen. Der „Diaspora-Status“ ist zeitlich befristet, je nach Quelle von einem bis zu mehreren Jahren (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea, 3. Januar 2022, S. 5 f., 21 f., 25; ai, Stellungnahme vom 2. August 2018 an das VG Magdeburg, S. 8 f.; EASO, Länderfokus Eritrea, Mai 2015, S. 43; EASO, Eritrea: Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 60 ff.; SEM, Focus Eritrea: Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 10. August 2016, S. 32 ff., 43; SFH, Reflexverfolgung, Rückkehr und „Diaspora-Steuer“, Auskunft vom 30. September 2018, S. 8 f.). Zahlreiche eritreische Staatsangehörige nutzen mittlerweile den „Diaspora-Status“ für Reisen nach Eritrea zu Urlaubs- und Besuchszwecken. Nach offiziellen Angaben reisen jährlich im Durchschnitt 95.000 Auslandseritreer – im Regelfall problemlos – vorübergehend nach Eritrea, eingeschlossen Personen, die sich bereits seit Jahrzehnten im Ausland aufhalten und fremde Staatsangehörigkeiten erworben haben (vgl. EASO, Eritrea: Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 63). Zwar gibt es erhebliche Anhaltspunkte dafür, dass der „Diaspora-Status“ nicht zuverlässig vor einer Bestrafung schützt, insbesondere weil die eritreischen Behörden ihre Praxis immer wieder willkürlich ändern (vgl. ai, Stellungnahme vom 2. August 2018 an das VG Magdeburg, S. 8 f.; SEM, Focus Eritrea: Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 10. August 2016, S. 43 f.; SFH, Reflexverfolgung, Rückkehr und „Diaspora-Steuer“, Auskunft vom 30. September 2018, S. 10 f.; SFH, Eritrea: Rückkehr, Themenpapier vom 19. September 2019, S. 7). Bereits die bloße Eröffnung der mit dem „Diaspora-Status“ verbundenen freiwilligen straffreien Rückkehrmöglichkeit spricht aber gegen die Annahme, der eritreische Staat schreibe jeder Person, die sich dem Nationaldienst durch illegale Ausreise entzieht, generell eine politische Gegnerschaft zu (ebenso OVG Bautzen, Urteil vom 14. April 2021 – 6 A 100/19.A – juris Rn. 35; OVG Hamburg, Beschluss vom 2. September 2021 – 4 Bf 546/19.A – juris Rn. 61; VGH Kassel, Urteil vom 23. Februar 2021 – 10 A 1939/20.A – juris Rn. 35; OVG Lüneburg, Beschluss vom 24. August 2020 – 4 LA 167/20 – juris Rn. 3 f.; VGH Mannheim, Urteil vom 8. Juli 2021 – A 13 S 403/20 – juris Rn. 48; VGH München, Urteil vom 5. Februar 2020 – 23 B 18.31593 – juris Rn. 46; OVG Münster, Beschluss vom 21. September 2020 – 19 A 1857/19.A – juris Rn. 91 ff., 104; OVG Saarlouis, Urteil vom 21. März 2019 – 2 A 10/18 – juris Rn. 28). Für diese Würdigung ist unerheblich, ob diese Rückkehrmöglichkeit dem einzelnen eritreischen Staatsangehörigen im konkreten Fall einen hinreichend dauerhaften Schutz vor Bestrafung bietet und ihm zumutbar ist (vgl. auch BVerwG, Urteil vom 19. April 2018 – 1 C 29.17 – juris Rn. 25; OVG Münster, Beschluss vom 21. September 2020 – 19 A 1857/19.A – juris Rn. 104).
Demgegenüber ist für die Annahme einer Verknüpfung im Sinne von § 3a Abs. 3 AsylG zwischen Verfolgungshandlungen während des Nationaldienstes bzw. während einer Haft wegen Umgehung dieses Dienstes und einer dem Dienstpflichtigen zugeschriebenen oppositionellen politischen Überzeugung inzwischen nur noch von geringerem Gewicht, dass der Staat Eritrea den Nationaldienst in der Zeit nach der Staatsgründung und nach dem Grenzkrieg mit Äthiopien als politisches Projekt neben der Verteidigung zum Zweck des Wiederaufbaus des Landes und als „Schule der Nation“ zur Vermittlung einer nationalen Ideologie an die Jugend konstituiert hat und ihm dementsprechend bis heute eine ideologische und politische Bedeutung beimisst (vgl. EASO, Länderfokus Eritrea, Mai 2015, S. 32; EASO, Eritrea: Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 24 f.; SFH, Eritrea: Nationaldienst – Themenpapier vom 30. Juni 2017, S. 6 f.; siehe auch OVG Hamburg, Beschluss vom 2. September 2021 – 4 Bf 546/19.A – juris Rn. 62; OVG Münster, Beschluss vom 21. September 2020 – 19 A 1857/19.A – juris Rn. 106). So heißt es etwa in Art. 5 der Proklamation Nr. 82/1995, der Nationaldienst diene unter anderem dazu, das Gefühl der nationalen Einheit im eritreischen Volk zu stärken und subnationale Gefühle zu eliminieren. Die ideologische Bedeutung spiegelt sich auch darin wieder, dass im 12. Schuljahr – das nur im militärischen Ausbildungslager in Sawa vorgesehen ist – neben der militärischen Ausbildung die Vermittlung der nationalen Werte und damit die Ideologie der Regierungspartei im Mittelpunkt steht (vgl. EASO, Länderfokus Eritrea, Mai 2015, S. 32, 37; EASO, Eritrea: Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 24 f., 27; SFH, Eritrea: Nationaldienst – Themenpapier vom 30. Juni 2017, S. 6 f.). Der Nationaldienst ist für den Staat Eritrea aber nicht nur von politischer, sondern zunehmend von wirtschaftlicher Bedeutung. Inzwischen baut die gesamte Volkswirtschaft Eritreas auf dem Nationaldienst auf. Dieser dient heute neben Verteidigungszwecken vor allem der Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes, der Steigerung der Gewinne der staatlich unterstützten Unternehmen und der Aufrechterhaltung der Kontrolle über die eritreische Bevölkerung. Angehörige des militärischen Teils des Nationaldienstes leisten ihren Dienst nicht allein im eritreischen Militär, sondern auch beim Aufbau von Infrastruktur, wie dem Bau von Wohnungen, Dämmen, Straßen, Kliniken oder Schulen, und in der Landwirtschaft. Angehörige des zivilen Teils des Nationaldienstes arbeiten zudem in Schulen, Gerichten oder in der medizinischen Versorgung (vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Eritrea, 19. Mai 2021, S. 12; HRC, Report of the Special Rapporteur on the situation of human rights in Eritrea, Mohamed Abdelsalam Babiker, 12. Mai 2021, S. 9; SEM, Focus Eritrea: Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 10. August 2016, S. 11 f.; SFH, Eritrea: Nationaldienst – Themenpapier vom 30. Juni 2017, S. 7). Der eritreische Staatsapparat stützt sich auf die Nationaldienstverpflichtung, die in ihrer derzeitigen Ausgestaltung am ehesten als eine Form staatlichen Zwangsdienstes zur Aufrechterhaltung der staatlichen Strukturen zu charakterisieren ist (vgl. USDOS, Eritrea 2020, Human Rights Report, 30. März 2021, S. 19 f.). Dies rechtfertigt die Annahme, dass die gegebenenfalls durchaus empfindliche Bestrafung der Nationaldienstentziehung oder der Desertion allein dazu dient, die bestehende Herrschaftsstruktur zu sichern und insbesondere das auf der Langzeitverpflichtung der eritreischen Staatsbürger beruhende staatliche System am Leben zu erhalten. Damit dient die Sanktionierung der Nationaldienstentziehung durch den Staat Eritrea aber nicht der Sanktionierung einer tatsächlichen oder unterstellten missliebigen politischen Überzeugung seiner Bürger, sondern der Durchsetzung der Dienstverpflichtungen im Interesse der Systemsicherung (vgl. OVG Bautzen, Urteil vom 14. April 2021 – 6 A 100/19.A – juris Rn. 36; OVG Hamburg, Beschluss vom 2. September 2021 – 4 Bf 546/19.A – juris Rn. 62; VGH Kassel, Urteil vom 23. Februar 2021 – 10 A 1939/20.A – juris Rn. 34; VGH München, Urteil vom 5. Februar 2020 – 23 B 18.31593 – juris Rn. 45; OVG Münster, Beschluss vom 21. September 2020 – 19 A 1857/19.A – juris Rn. 87; OVG Saarlouis, Urteil vom 21. März 2019 – 2 A 10/18 – juris Rn. 28). Hierfür spricht auch, dass die eritreische Regierung zwar angekündigt hatte, den Nationaldienst in Konsequenz aus dem Friedensprozess mit Äthiopien in Zukunft grundsätzlich auf 18 Monate zu beschränken und weitere Ausnahmen zuzulassen, dies aber vor allem deshalb noch nicht umgesetzt hat, weil die gesamte Volkswirtschaft auf dem Nationaldienst aufbaut und eine Demobilisierung zu einer durch die eingeschränkt vorhandene Privatwirtschaft nicht aufzufangenden hohen Arbeitslosigkeit führen würde (vgl. DIS, Country Report, Country of Origin Information: Eritrea – National service, exit and entry, Januar 2020, S. 18 f.; EASO, Eritrea: Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 9, 23 f.).
Soweit für die eritreischen Grenztruppen seit 2004 ein Schießbefehl („shoot-to-kill order“) bei illegalem Fluchtversuch bestehen soll, kommt diesem Indiz für eine generelle Unterstellung einer Regimegegnerschaft ebenfalls keine durchgreifende Bedeutung mehr zu. Denn dieser Befehl wurde zumindest in den letzten Jahren uneinheitlich und eher selten umgesetzt (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea, 3. Januar 2022, S. 15; EASO, Eritrea: Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 58 f.; SEM, Focus Eritrea: Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 10. August 2016, S. 30 f.; siehe auch OVG Hamburg, Beschluss vom 2. September 2021 – 4 Bf 546/19.A – juris Rn. 57; VGH Mannheim, Urteil vom 13. Juli 2021 – A 13 S 1563/20 – juris Rn. 56).
Diese Gesamtwürdigung steht im Einklang mit der inzwischen einhelligen obergerichtlichen Rechtsprechung, nach welcher der Staat Eritrea Dienstverweigerern und Deserteuren sowie deren Familienangehörigen eine gegnerische politische Überzeugung nicht generell zuschreibt, sondern nur dann, wenn hierfür einzelfallbezogen besondere Anhaltspunkte vorliegen (vgl. OVG Bautzen, Urteil vom 14. April 2021 – 6 A 100/19.A – juris Rn. 25 ff.; OVG Hamburg, Beschluss vom 2. September 2021 – 4 Bf 546/19.A – juris Rn. 35 ff.; VGH Kassel, Urteil vom 23. Februar 2021 – 10 A 1939/20.A – juris Rn. 28 ff.; OVG Lüneburg, Beschluss vom 24. August 2020 – 4 LA 167/20 – juris Rn. 3 f.; VGH Mannheim, Urteil vom 8. Juli 2021 – A 13 S 403/20 – juris Rn. 32 ff.; VGH München, Urteil vom 5. Februar 2020 – 23 B 18.31593 – juris Rn. 22, 26 ff.; OVG Münster, Beschluss vom 21. September 2020 – 19 A 1857/19.A – juris Rn. 36 ff.; OVG Saarlouis, Urteil vom 21. März 2019 – 2 A 10/18 – juris Rn. 27 ff.). Solche sind bei der Klägerin nicht erkennbar. Insbesondere macht sie nicht geltend, durch eine exilpolitische Betätigung in den Blick eritreischer Geheimdienste geraten zu sein. Der Senat teilt auch nicht die von ihr in der mündlichen Verhandlung geäußerte Sorge, sie sei wegen ihres Schulabbruchs nach der 9. Klasse und der daher mangelnden Bildung besonders gefährdet. Denn in Eritrea bricht die Mehrheit der Schüler den Schulbesuch vor dem Erreichen der 12. Klasse ab (vgl. EASO, Eritrea: Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 27, 29; Pro Asyl, Eritrea im Fokus – Das Willkürregime wird verharmlost, der Flüchtlingsschutz ausgehebelt, 10. März 2020, S. 45). Mangels gefahrerhöhender Risikomerkmale muss nicht den geäußerten Zweifeln der Beklagten nachgegangen werden, ob die inzwischen 28 Jahre alte Klägerin bei einer Rückkehr noch als dienstverpflichtet angesehen würde.
Etwas anderes folgt auch nicht aus § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG. Nach dieser Vorschrift kann die Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt eine Verfolgungshandlung sein, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG (Art. 12 Abs. 2 RL 2011/95/EU) fallen. Diese erfassen Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Zwar ist die Regierung Eritreas – wohl weiterhin – im Konflikt um die Autonomiebestrebungen in der äthiopischen Region Tigray auf Seiten der äthiopischen Regierung involviert und es wird von einer Beteiligung der eritreischen Armee an Gewalttaten und Massakern unter der Zivilbevölkerung in dieser Region berichtet (vgl. hierzu Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Briefing Notes vom 8. November 2021, Äthiopien, abrufbar unter https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2021/briefingnotes-kw45-2021.pdf?__blob=publicationFile&v=5 sowie Briefing Notes vom 5. September 2022, Äthiopien, abrufbar unter https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2022/briefingnotes-kw36-2022.pdf?__blob=publicationFile&v=2; Der Spiegel, Bürgerkrieg in Äthiopien, Tigray-Rebellen melden Großoffensive aus Eritrea, abrufbar unter https://www.spiegel.de/ausland/aethiopien-tigray-rebellen-melden-grossoffensive-aus-eritrea-a-4c4663f9-615d-4d54-b834-2f6845a02e91, 21. September 2022, jeweils zuletzt abgerufen am 27. September 2022; siehe auch Urteile des Senats vom 17. November 2021 – OVG 4 B 13/21 – juris Rn. 45 und – OVG 4 B 17/21 – juris Rn. 46, jeweils m.w.N.). Hieraus ergibt sich aber nicht, dass die besonderen Voraussetzungen des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG erfüllt sind (so auch OVG Hamburg, Beschluss vom 2. September 2021 – 4 Bf 546/19.A – juris Rn. 68).
Jedenfalls im Zeitpunkt der Ausreise der Klägerin herrschte noch kein bewaffneter Konflikt unter Beteiligung des eritreischen Militärs im Sinne von § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG, während und aufgrund dessen („in einem Konflikt“) sie sich dem Nationaldienst entzogen hätte (vgl. OVG Hamburg, Beschluss vom 2. September 2021 – 4 Bf 546/19.A – juris Rn. 66 f.; siehe auch OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 29. Januar 2021 – OVG 3 B 109.18 – juris Rn. 57). Aber auch wenn auf eine Dienstverweigerung der Klägerin bei einer Rückkehr abgestellt würde, führte dies nicht weiter. Insbesondere könnte sie sich nicht auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 19. November 2020 – C-238/19 – berufen, nach dem eine starke Vermutung dafür spricht, dass eine Verknüpfung der Strafverfolgung der Wehrdienstentziehung mit einem flüchtlingsrelevanten Merkmal vorliegt, wenn die Entziehung in einem Konflikt erfolgt, in dem der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter den Anwendungsbereich der Ausschlussklauseln des Art. 12 Abs. 2 RL 2011/95/EU (§ 3 Abs. 2 AsylG) fallen (vgl. Urteil vom 19. November 2020 – C-238/19 – juris Rn. 57 ff.).
Denn es steht nicht zur Überzeugung des Senats fest, dass die Klägerin im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung bei einer hypothetischen Heranziehung zum Nationaldienst „zwangsläufig oder zumindest sehr wahrscheinlich“ veranlasst wäre, im Rahmen des Tigray-Konflikts Kriegsverbrechen zu begehen. Diese Prüfung obliegt den staatlichen Behörden und Gerichten im Einzelfall. Die Tatsachenwürdigung muss sich auf ein Bündel von Indizien stützen, das geeignet ist, in Anbetracht aller relevanten Umstände – insbesondere der mit dem Herkunftsland verbundenen Tatsachen, die zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag relevant sind, sowie der individuellen Lage und der persönlichen Umstände des Antragstellers – zu belegen, dass die Gesamtsituation die Begehung der behaupteten Kriegsverbrechen plausibel erscheinen lässt (zu alledem EuGH, Urteil vom 19. November 2020 – C-238/19 – juris Rn. 34 f.). Das ist hier nicht der Fall. Der Tigray-Konflikt besteht nicht auf eritreischem, sondern auf äthiopischem Boden. Diese Situation ist nicht mit dem Sachverhalt vergleichbar, der dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 19. November 2020 – C-238/19 – zugrunde lag. Denn die dort angenommene sehr hohe Wahrscheinlichkeit, dass ein Wehrpflichtiger unabhängig von seinem Einsatzgebiet dazu veranlasst werde, unmittelbar oder mittelbar an der Begehung von Verbrechen oder Handlungen im Sinne von § 3 Abs. 2 AsylG teilzunehmen, betrifft den Kontext eines allgemeinen (dort syrischen) Bürgerkriegs im Herkunftsland des Betroffenen, der durch die wiederholte und systematische Begehung solcher Verbrechen oder Handlungen durch die Armee unter Einsatz von Wehrpflichtigen gekennzeichnet ist (vgl. EuGH, Urteil vom 19. November 2020 – C-238/19 – juris Rn. 37 f.; siehe auch OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 29. Januar 2021 – OVG 3 B 109.18 – juris Rn. 56; OVG Münster, Beschluss vom 14. Dezember 2020 – 19 A 2706/18.A – juris Rn. 11). Außerdem fehlen gesicherte Erkenntnisse zum Umfang der Beteiligung des eritreischen Militärs an dem in erster Linie äthiopischen Konflikt. Überdies unterteilt sich der Nationaldienst in einen militärischen und in einen zivilen Teil. Auch wenn es unterschiedliche Angaben zur Anzahl der Angehörigen im militärischen und im zivilen Teil gibt, lässt sich den Erkenntnissen entnehmen, dass jedenfalls weniger als die Hälfte im Militär dient (vgl. hierzu BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Eritrea, 19. Mai 2021, S. 12; EASO, Eritrea: Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 25 f., jeweils m.w.N.).
Etwaige Verfolgungshandlungen während der Ableistung des Nationaldienstes oder bei einer (möglichen) Bestrafung/Inhaftierung der Klägerin wegen Entziehung von diesem Dienst knüpfen auch nicht an den Verfolgungsgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG an. Insbesondere drohen der Klägerin im Nationaldienst keine geschlechtsspezifischen Verfolgungshandlungen.
In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist im Einklang mit der zum Begriff der „sozialen Gruppe“ im Sinne des Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2011/95/EU ergangenen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs geklärt, dass die in den Buchstaben a) und b) des § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbs. 1 AsylG genannten Voraussetzungen für das Vorliegen einer „sozialen Gruppe“ kumulativ erfüllt sein müssen. Das selbständige Erfordernis der „deutlich abgegrenzten Identität“ schließt eine Begriffsauslegung aus, nach der eine „soziale Gruppe“ im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG allein dadurch begründet wird, dass eine Mehr- oder Vielzahl von Personen in vergleichbarer Weise von als Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 1 oder 2 AsylG zu qualifizierenden Maßnahmen betroffen wird (vgl. EuGH, Urteil vom 25. Januar 2018 – C-473/16 – juris Rn. 30; BVerwG, Beschlüsse vom 19. Juni 2019 – 1 B 30.19 – juris Rn. 9 f. und vom 23. September 2019 – 1 B 54.19 – juris Rn. 8, jeweils m.w.N.). Auch eine allein an das Geschlecht anknüpfende Verfolgung im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbs. 4 AsylG ist nur dann eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, wenn die Personengruppe, deren Mitglieder das gleiche Geschlecht haben, von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (vgl. auch OVG Lüneburg, Beschluss vom 9. Februar 2022 – 4 LA 74/20 – juris Rn. 4; OVG Münster, Beschluss vom 21. September 2020 – 19 A 1857/19.A – juris Rn. 114 ff. m.w.N.).
Nach diesen Maßstäben bilden Deserteure und Dienstleistungsverpflichtete unter den eritreischen Staatsangehörigen keine „bestimmte soziale Gruppe“ im Sinne von § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG. Angesichts der die eritreische Bevölkerung ausnahmslos treffenden Dienstverpflichtung kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Gruppe der Dienstverpflichteten im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b AsylG von der eritreischen Gesellschaft als andersartig betrachtet würde und daher eine deutlich abgegrenzte Identität besäße. Für die Gruppe der Entzieher vom Nationaldienst bzw. der Deserteure kann wegen der massenhaften Begehung des Delikts nichts anderes gelten. Die Strafgesetze, welche die Desertion und die Entziehung vom Nationaldienst sanktionieren, treffen ebenfalls unterschiedslos alle eritreischen Staatsangehörigen. Es ist nicht erkennbar, dass diejenigen, die jene Strafgesetze verletzen, von der eritreischen Gesellschaft als andersartig betrachtet würden (vgl. auch BVerwG, Urteil vom 19. April 2018 – 1 C 29.17 – juris Rn. 32, 36; OVG Bautzen, Urteil vom 14. April 2021 – 6 A 100/19.A – juris Rn. 40; VGH München, Urteil vom 5. Februar 2020 – 23 B 18.31593 – juris Rn. 37; OVG Münster, Beschluss vom 21. September 2020 – 19 A 1857/19.A – juris Rn. 118).
Bei Frauen im eritreischen Nationaldienst ist keine andere Betrachtungsweise angezeigt. Auch sie trifft die Dienstverpflichtung grundsätzlich ohne Ansehung ihrer Persönlichkeitsmerkmale. Soweit (faktische) Ausnahmen für verheiratete Frauen, Schwangere und Mütter an ihre Eigenschaft als Frau und damit im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbs. 4 AsylG allein an das Geschlecht anknüpfen, ist dies nicht Ausdruck einer abgegrenzten Gruppenidentität, sondern entspricht dem auch außerhalb des Nationaldienstes vorherrschenden traditionellen Rollenverständnis von Frauen in der überwiegend ländlichen Bevölkerung Eritreas, das vorwiegend von Kindererziehung, Haus- und leichterer Feldarbeit geprägt ist (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea, 3. Januar 2022, S. 16; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Eritrea, 19. Mai 2021, S. 21).
Eine deutlich abgegrenzte Identität von Frauen im eritreischen Nationaldienst wird auch nicht dadurch begründet, dass Frauen im militärischen Teil des eritreischen Nationaldienstes verbreitet sexueller Gewalt ausgesetzt sind. Nach übereinstimmender Darstellung in den Erkenntnisquellen erfolgen entsprechende Gewalthandlungen im Rahmen des Nationaldienstes (insbesondere) durch Militärangehörige gegenüber Rekrutinnen im Ausbildungslager Sawa und in der militärischen Grundausbildung sowie gegenüber Dienstverpflichteten im militärischen Teil des Nationaldienstes (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea, 3. Januar 2022, S. 15; EASO, Eritrea: Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 41 ff.; SFH, Eritrea: Nationaldienst – Themenpapier vom 30. Juni 2017, S. 12 f.; SFH, Schnellrecherche vom 13. Februar 2018 zu Eritrea: Sexualisierte Gewalt gegen Frauen, S. 3; UKHO, Country Policy and Information Note, Eritrea: National Service and illegal exit, 8. September 2021, S. 37 f.; siehe auch OVG Hamburg, Urteil vom 27. Oktober 2021 – 4 Bf 106/20.A – juris Rn. 54 m.w.N.). Frauen werden (auch) im militärischen Teil des Nationaldienstes häufig, aber nicht ausschließlich in Positionen wie Köchinnen, Reinigungskräfte, Bürokräfte und persönliche Assistentinnen von Kommandeuren eingesetzt. In solchen Positionen sind sie ebenso wie in militärischen Einheiten anfällig gegenüber sexuellem Fehlverhalten ihrer Vorgesetzten. Es gibt keine bekannten Regeln oder Richtlinien, die ein solches Verhalten von Kommandeuren gegenüber Wehrpflichtigen verbieten oder mit Strafe bedrohen, so dass für sie praktisch Straffreiheit besteht. Sexuelle Ausbeutung durch Kommandeure kommt in unterschiedlichen Kontexten und Umständen vor. Mehrere Quellen weisen darauf hin, dass einige weibliche Wehrpflichtige versuchen, „harte“ Aufgaben zu vermeiden, indem sie ihren Vorgesetzten sexuelle „Gefälligkeiten“ anbieten, im Gegenzug für Sex eine einfachere Behandlung erhalten oder mit einem unliebsamen Einsatz (etwa an der Front) bedroht sind, wenn sie keine solche „Gefälligkeiten“ anbieten (vgl. EASO, Eritrea: Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 41 f. m.w.N.).
Diese Umstände rechtfertigen jedoch nicht den Schluss, dass Frauen im Nationaldienst Eritreas von der eritreischen Gesellschaft als andersartig betrachtet würden. Auch männliche Dienstverpflichtete im eritreischen Nationaldienst sind Misshandlungen ausgesetzt. Den Erkenntnismitteln lässt sich zwar nicht entnehmen, dass es – anders für sexuelle Übergriffe auf Männer in Haft – im Nationaldienst auch zu sexuellen Übergriffen auf Männer kommt (vgl. SFH, Schnellrecherche vom 13. Februar 2018 zu Eritrea: Sexualisierte Gewalt gegen Frauen, S. 3). Folter und andere Formen der Misshandlung sind aber gegenüber allen Dienstverpflichteten weit verbreitet (vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Eritrea, 19. Mai 2021, S. 9; EASO, Eritrea: Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 40 f.; SFH, Eritrea: Nationaldienst – Themenpapier vom 30. Juni 2017, S. 14 f., jeweils m.w.N.), auch wenn sie gegenüber Frauen häufig in sexualisierter Form auftritt. Den militärischen Kommandanten kommt fast unbeschränkte Macht über ihre Untergebenen zu (vgl. hierzu EASO, Eritrea: Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 40 f.). Die sexuellen Übergriffe gegen Frauen im militärischen Teil des Nationaldienstes sind damit eine besondere Form der Misshandlung im Rahmen des Nationaldienstes neben anderen Formen von Misshandlungen gegenüber allen Dienstverpflichteten unabhängig vom Geschlecht. Sie geschehen aber nicht, weil Frauen im Nationaldienst wegen ihrer Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht als andersartig wahrgenommen werden (vgl. auch OVG Hamburg, Beschluss vom 2. September 2021 – 4 Bf 546/19.A – juris Rn. 44; OVG Lüneburg, Beschluss vom 9. Februar 2022 – 4 LA 74/20 – juris Rn. 5 ff.; VGH Mannheim, Urteil vom 13. Juli 2021 – A 13 S 1563/20 – juris Rn. 66 ff.; OVG Münster, Beschluss vom 21. September 2020 – 19 A 1857/19.A – juris Rn. 117, 120 ff.).
Der Klägerin droht bei einer Rückkehr nach Eritrea ferner nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine flüchtlingsschutzrelevante Verfolgung wegen ihrer illegalen Ausreise im nationaldienstpflichtigen Alter und ihrer Asylantragstellung in Deutschland. Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass der Staat Eritrea bereits die illegale Ausreise oder die Asylantragstellung als Ausdruck einer Regimegegnerschaft bewertet. Die aufgezeigten generalisierenden Tatsachenfeststellungen zum Fehlen einer Verknüpfung zwischen etwaigen Verfolgungshandlungen mit dem Verfolgungsgrund der politischen Überzeugung betreffen Personen, die illegal ausgereist sind, um sich dem Nationaldienst zu entziehen, und die in vielen Fällen im Ausland um Asyl nachgesucht haben. Aus diesen Ausführungen ergibt sich zugleich, dass der Staat Eritrea allein an eine illegale Ausreise im nationaldienstpflichtigen Alter und/oder allein an eine Asylantragstellung im Ausland nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit flüchtlingsschutzrelevante Verfolgungsmaßnahmen knüpft (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea, 3. Januar 2022, S. 5 f., 21; OVG Bautzen, Urteil vom 14. April 2021 – 6 A 100/19.A – juris Rn. 41; VGH Kassel, Urteil vom 23. Februar 2021 – 10 A 1939/20.A – juris Rn. 40 ff.; VGH München, Urteil vom 5. Februar 2020 – 23 B 18.31593 – juris Rn. 51 ff.; OVG Münster, Beschluss vom 21. September 2020 – 19 A 1857/19.A – juris Rn. 131).
Schließlich ist die von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung geäußerte Befürchtung, ihr drohe eine flüchtlingsschutzrelevante Verfolgung wegen der Flucht ihres Bruders nach Israel, unbegründet. Ihren Schilderungen lassen sich keine Anhaltpunkte entnehmen, die eine Gefahr von Repressalien im Einzelfall begründeten, noch ergibt sich nach der aktuellen Erkenntnislage eine generelle Reflexverfolgung für alle Angehörigen ausgereister Eritreer (vgl. auch OVG Lüneburg, Urteil vom 18. März 2021 – 8 LB 97/20 – juris Rn. 36; VGH München, Beschluss vom 28. Dezember 2020 – 10 ZB 20.2157 – juris Rn. 8). Nach den Erkenntnissen wurde die frühere Praxis, Familienangehörige von Deserteuren und Wehrdienstverweigerern systematisch mit Strafmaßnahmen zu belegen, inzwischen eingestellt (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea, 3. Januar 2022, S. 14, 21; DIS, Country Report, Country of Origin Information: Eritrea – National service, exit and entry, Januar 2020, S. 27 f.; EASO, Länderfokus Eritrea, Mai 2015, S. 43; EASO, Eritrea: Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 44 f.; SFH, Reflexverfolgung, Rückkehr und „Diaspora-Steuer“, Auskunft vom 30. September 2018, S. 6 f.). Entscheidend ist jedoch, dass nach der Rechtsprechung des Senats Dienstpflichtigen in Eritrea wegen einer Entziehung oder Desertion vom Nationaldienst oder illegaler Ausreise im dienstpflichtigen Alter keine an den Merkmalen des § 3 Abs. 1 AsylG ausgerichtete flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung droht. Damit kann dies auch für ihre Familienangehörigen nicht der Fall sein.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 10, § 711 Satz 1 und 2 ZPO.
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keiner der in § 132 Abs. 2 VwGO genannten Gründe vorliegt. Es handelt sich um die nicht revisible Würdigung von Tatsachen, bei der wegen der Bindung des Revisionsgerichts an die tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts (§ 137 Abs. 2 VwGO) eine weitergehende Vereinheitlichung der Rechtsprechung durch das Bundesverwaltungsgericht ausscheidet (vgl. BVerwG, Beschluss vom 6. Juli 2020 – 1 B 29.20 – juris Rn. 3).