Gericht | VG Cottbus 1. Kammer | Entscheidungsdatum | 04.08.2022 | |
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Aktenzeichen | 1 K 95/19.A | ECLI | ECLI:DE:VGCOTTB:2022:0804.1K95.19.A.00 | |
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 3 AsylVfG 1992, § 3a AsylVfG 1992, § 3e AsylVfG 1992 |
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Das Urteil ist für die Beklagte hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Kläger können die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 vom Hundert des vollstreckbaren Betrags abwenden, soweit nicht die Beklagte zuvor Sicherheit in Höhe von 110 vom Hundert des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Der Kläger zu 1. (im Folgenden: der Kläger) und die Klägerin zu 2. (im Folgenden: die Klägerin) wurden am 0... 1985 in Grozny und am 0... 1987 in Karaganda (heutige Republik Kasachstan), ihre Kinder, die Kläger zu 3. und 4., am 1... 2009 und 0... 2010 in Grozny geboren. Die Kläger sind Staatsangehörige der Russischen Föderation, jedenfalls der Kläger ist tschetschenischer Volkszugehörigkeit. Die Kläger verließen ihr Heimatland nach eigenen Angaben am 08. September 2015 und reisten über die Republik Polen, wo sie erfolglos um Schutz nachsuchten, am 22. März 2017 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein. Über die in Polen gestellten Asylanträge wurde – einem Vermerk des Bundesamtes nach – abschließend befunden, nachdem die Kläger in die Bundesrepublik Deutschland eingereist waren und hier am 28. März 2017 Asyl beantragt hatten.
Im Rahmen des Asylantrages legten die Kläger eine am 08. September 2014 ausgestellte Zweitschrift ihrer Heiratsurkunde sowie Geburtsurkunden für ihre Kinder und Inlandspässe vor.
Das Bundesamt hörte die Eheleute im März 2017 zu Fragen der Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland und im August 2018 zu ihren Asylgründen an; zu seinen Asylgründen äußerte sich der Kläger zudem in einer kurzen schriftlichen Stellungnahme aus dem März 2017.
Der Kläger erklärte mündlich im Wesentlichen: Er habe die 11. Schulklasse abgeschlossen und habe am Institut für Journalismus der Universität in Rostow am Don, später an der Universität in Grozny studiert. Er habe als Journalist und bis 2008 für das Kulturministerium, zuletzt bis 2012 an einem Theater gearbeitet; ab 2012 sei er durch seine Familie unterstützt worden. Er habe mit seiner Familie und seiner Mutter in deren Haus in Grozny gewohnt.
Die Familie habe die Russische Föderation mit dem Zug über Rostow am Don und Moskau verlassen; die Tickets habe sein Cousin, der für „die Behörde“ tätig gewesen sei, besorgt. Zuvor habe er erfolgslos ein Visum für Polen beantragt.
Er habe in seinem Heimatland unter Lebensgefahr gelebt.
Seit 2004 hätten Leute nach ihm gefragt. Er könne nichts dafür, dass sein Vater 1994 in den Krieg gegangen sei. Ihm sei von der Gefolgschaft Kadyrows (uniformierte, bewaffnete und bärtige Männer) vorgeworfen worden, in den Kampf nach Syrien gehen zu wollen und junge Männer hierfür anzuwerben. Letztmalig sei das im Sommer 2015 geschehen.
Er sei mitgenommen und 2 Wochen befragt worden. Er sei mit Strom und Schlägen mit einer Eisenstange gefoltert worden und entlassen worden, nachdem er ein Schriftstück über seine Zusammenarbeit unterschrieben habe. Seinem Onkel würden ähnliche Vorwürfe gemacht und im Februar 2017 seien 2 Cousins ohne Grund ermordet worden. Seine Familie sei bedroht und nach seinem Aufenthaltsort befragt worden.
Auf weitere Nachfragen erklärte der Kläger: Sein Vater sei 1994 oder 1995 verstorben. Er sei einmal nach Hause gekommen und sie hätten ihm mit einem Gummigeschoss gegen die Schläfe geschossen; er habe dreizehn Tage im Krankenhaus verbracht. Er sei in den Jahren 2011, 2012 und 2013 aufgesucht worden. Er sei 5 - 6 mal mitgenommen und ein Mal mit Strom gefoltert worden. Er sei, auch nachts, von der Uni und von der Straße mitgenommen worden. Ihm sei vorgeworfen worden, die Kämpfer mit Lebensmitteln zu unterstützen. Es seien Männer in schwarzer Uniform gewesen, die sich unterschiedlich vorgestellt hätten, einmal Leute von Kadyrov, ein anderes Mal vom „Ermittlungskomitee“. Ihm sei ein Sack über den Kopf gezogen worden und es seien Zigarettenkippen auf ihm ausgedrückt worden, auch sei ihm ein Tuch über den Kopf gelegt und Wasser darauf geschüttet worden oder er habe eine „Schwalbe“ machen müssen. Das Dokument habe er 2014 unterschrieben. Seit August 2014 habe er sich in Rostow am Don bei einem Cousin aufgehalten. Er habe das Land verlassen, weil er erfahren habe, dass Bezirkspolizisten ständig nach ihm gefragt hätten. Der Kläger legt eine Epikrise vom 20. August 2014 vor.
Die Klägerin erklärte im Wesentlichen:
Sie habe die Schule mit dem Abitur abgeschlossen und 3 Jahre studiert, zuletzt habe sie in einem Kindergarten gearbeitet. Eigene Asylgründe habe sie nicht. Ihr Mann sei zwischen Rostow am Don und Grozny gependelt. Er habe bis 2013 gearbeitet, zuletzt auf dem Bau. Im Sommer 2014 sei ihr Mann mit dem Gummischuss verletzt worden. Sie habe auch gesehen, wie er mitgenommen worden sei. Er sei mal einen Tag oder eine Nacht, aber auch mal 2 oder 3 Tage weg gewesen. Es habe Anzeichen gegeben, dass er geschlagen worden sei. Es habe „viele Vorladungen“ gegeben.
Das Bundesamt lehnte es mit Bescheid vom 04. Dezember 2018 – zugestellt am 13. Dezember 2018 – ab, die Flüchtlingseigenschaft oder den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen, versagte die Anerkennung als Asylberechtigte (dort Ziffer 1. bis 3.), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 S. 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) nicht vorlägen (Ziffer 4.) und forderte die Kläger unter Androhung ihrer Abschiebung im Wesentlichen in die Russische Föderation auf, die Bundesrepublik Deutschland binnen der bezeichneten Frist zu verlassen (Ziffer 5.). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG befristete das Bundesamt auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 6.).
Zur Begründung heißt es im Wesentlichen: Die Voraussetzung des Flüchtlingsschutzes lägen nicht vor. Die Mitnahme und Befragungen knüpften nicht an ein asylerhebliches Merkmal an. Die Befragungen hätten ausschließlich dem Zweck gedient, Aufklärung und Kontakt zum später verhafteten Onkel und Cousin des Klägers und weiteren verdächtigen Personen herzustellen. Im Übrigen fehl es den geschilderten Maßnahmen an „asylerheblicher Intensität“, diese könnten dem russischen Staat nicht zugerechnet werden und der Vortrag sei in verschiedenen Details widersprüchlich; zudem stünde den Klägern in anderen Teilen der Russischen Föderation eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung.
Die Kläger haben am 18. Dezember 2018 vor dem Verwaltungsgericht Frankfurt (Oder) Klage erhoben (V...), das sich mit Beschluss vom 14. Januar 2019 für örtlich unzuständig erklärt und den Rechtsstreit an das Verwaltungsgericht Cottbus verwiesen hat.
Die Kläger haben den Rechtsbehelf im Wesentlichen wie folgt begründet:
Der Kläger sei mehrfach aufgrund seiner Verwandtschaft u.a. zu L..., seinem Onkel väterlicherseits, verhaftet und gefoltert worden. Dieser sei verdächtigt worden, „Emir" einer geheimen Gruppe von Kämpfern gegen das Kadyrov-Regime gewesen zu sein. Nähere Informationen über die Aktivitäten seines Onkels habe der Kläger zwar nicht gehabt, geschweige denn, dass er sich selbst daran beteiligt hätte; dessen ungeachtet sei ihm seitens der Sicherheitskräfte aber offenbar ebenfalls eine politische Gegnerschaft und Zugehörigkeit zu terroristischen Kämpfern zugeschrieben worden. Die führende Funktion des Onkels, der inzwischen schon zum zweiten Mal festgenommen worden sei, innerhalb der als terroristische Aufständische bezeichneten illegalen Gruppierung sei in Tschetschenien allgemeinkundig. Auch zwei Cousins des Klägers, W... und R..., seien festgenommen worden. Dem Onkel und W... sei einer Mitteilung der Staatsanwaltschaft der Tschetschenischen Republik vom 23. Mai 2017 gemäß die Vorbereitung der Beteiligung an einer bewaffneten Formierung auf dem Territorium eines ausländischen Staates, die den Interessen der Russischen Föderation widerspricht, sowie illegaler Waffenbesitz vorgeworfen worden. L... sei am 14. Juli 2017 durch das Städtische Gericht der Tschetschenischen Republik Urus-Martan zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt worden. Familienangehörige von Aufständischen stünden den Erkenntnissen nach generell unter starkem Verdacht, Unterstützende der Aufständischen zu sein und liefen Gefahr, verfolgt zu werden. Ein entsprechendes Risiko bestehe für Personen, denen die Unterstützung illegaler Gruppierungen vorgeworfen werde. Entgegen der Auffassung des Bundesamtes bestehe für die Kläger auch kein anderweitiger Interner Schutz in anderen Teilen der Russischen Föderation. Familienangehörige seien überall in Russland gefährdet, wenn eine Verbindung zu mutmaßlichen Terroristen bekannt werde.
Gegenwärtig würden tschetschenische Männer Presseangaben zufolge gewaltsam zum Krieg in der Ukraine gezwungen.
Die Kläger beantragen,
die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 04. Dezember 2018 zu verpflichten, ihnen die Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise subsidiären Schutz, zuzuerkennen, hilfsweise, die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG hinsichtlich der Russischen Föderation festzustellen.
Die Beklagte hat schriftlich beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie bekräftigt die Begründung des angefochtenen Bescheides und trägt ergänzend zur Frage einer inländischen Fluchtalternative vor. Im Übrigen sei es mit Blick auf die in der Russischen Föderation lebende Verwandtschaft des Klägers nicht nachvollziehbar, dass ausgerechnet er jetzt noch in das Visier der Behörden geraten sollte.
Die Kammer hat den Rechtsstreit nach Anhörung der Beteiligten mit Beschluss vom 02. Juli 2021 dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.
Der Kläger ist in der mündlichen Verhandlung informatorisch befragt worden; die Klägerin hat über ihre Prozessbevollmächtigte auf eine Befragung durch das Gericht verzichtet.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten des vorliegenden Verfahrens und der beendeten Klage V... (am 03. Oktober 2017 geborenes Kind N...), die Verwaltungsvorgänge des Bundesamtes und die beigezogenen Ausländerakten Bezug genommen. Sämtliche Akten waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Entscheidungsfindung des Gerichts.
I. Das Gericht konnte ungeachtet des Ausbleibens eines Vertreters des Bundesamtes in der mündlichen Verhandlung verhandeln und in der Sache entscheiden, denn die Behörde wurde in der am 05. Juli 2022 zugestellten Ladung auf diese Rechtsfolgen hingewiesen, § 102 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
II. Die zulässige Klage ist unbegründet.
Die Kläger besitzen in dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung, § 77 Abs. 1 S. 1 1. Hs. des Asylgesetzes (AsylG), keinen Anspruch, nach § 3 Abs. 1 und Abs. 4 AsylG die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt zu bekommen (sogleich unter 1.). Auch ist die Beklagte weder verpflichtet, nach § 4 AsylG subsidiären Schutz zu gewähren (unter 2.) noch Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 S. 1 AufenthG festzustellen (unter 3.). Der Bescheid des Bundesamtes vom 04. Dezember 2018 hat den Klägern im Ergebnis sämtliche Ansprüche zu Recht versagt.
1. Dem Hauptantrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist nicht zu entsprechen.
1.1 Nach § 3 Abs. 4 1. Hs. AsylG wird einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, wenn er Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist; Flüchtling (im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge – BGBl. 1953 II S. 559, 560) ist Jemand, der sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.
Als Verfolgung im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG gelten nach § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953 [EMRK]) keine Abweichung zulässig ist; gleiches gilt nach § 3 a Abs. 1 Nr. 2 AsylG für eine Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, die so gravierend sind, dass eine Person davon in ähnlicher wie in der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist.
Zwischen den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den nach § 3 a Abs. 1 und 2 AsylG als Verfolgung geltenden Handlungen muss nach § 3 a Abs. 3 AsylG eine Verknüpfung bestehen. Der Verfolger muss dem Ausländer den Verfolgungsgrund, etwa die politische Überzeugung, jedenfalls zuschreiben – ob der Betroffene den ihm von seinem Verfolger zugeschriebenen Verfolgungsgrund tatsächlich erfüllt, ist demgegenüber unerheblich, § 3 b Abs. 2 AsylG.
Nach § 3e Abs. 1 AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat (Nr. 1) und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (Nr. 2). Die Frage der Zumutbarkeit der Niederlassung erfordert eine umfassende wertende Gesamtbetrachtung der allgemeinen wie der individuellen Verhältnisse unter Berücksichtigung der in § 3e Abs. 2 S. 1 AsylG genannten Dimensionen, wobei auch und gerade die wirtschaftlichen Verhältnisse in den Blick zu nehmen sind, die der Ausländer am Ort der Niederlassung zu gewärtigen hat; sie müssen (nur) auf einem Niveau gewährleistet sein, das eine Verletzung des Art. 3 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) nicht besorgen lässt (BVerwG, Urt. v. 24. Juni 2021 – BVerwG 1 C 27.20 –, juris Rn. 15; BVerwG, Urt. v. 18. Februar 2021 – BVerwG 1 C 4.20 –, juris Rn. 26 ff.).
Die genannten Folgen und Sanktionen müssen dem Ausländer im Herkunftsland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (vgl. ausf. BVerwG, Urt. v. 01. Juni 2011 – BVerwG 10 C 25.10 –, juris Rn. 21 ff.). Das ist dann der Fall, wenn bei einer qualifizierenden Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und sie deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Maßgebend ist letztlich das qualitative Kriterium der Zumutbarkeit und es ist zu prüfen, ob aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Schutzsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheint, was auch dann der Fall sein kann, wenn nur ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 % für eine politische Verfolgung spricht (BVerwG, Urt. v. 05. November 1991 – BVerwG 9 C 118.90 –, juris Rn. 17 m. w. N.).
Nach Art 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (RL 2011/95/EU) ist die Tatsache, dass der Betroffene bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von einer solchen Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht vor Verfolgung begründet ist, bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird (vgl. BVerwG, Urt. v. 18. Februar 2021 – BVerwG 1 C 4.20 –, juris Rn. 15). Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen daher Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei (BVerwG, Urt. v. 27. April 2010 – BVerwG 10 C 5.09 –, juris Rn. 23).
Die Frage, ob es einem Schutzsuchenden bei verständiger Würdigung seines Vorbringens (un-)zumutbar ist, in sein Heimatland zurückzukehren, hat das Gericht zumeist allein auf Grund von dessen Angaben unter Berücksichtigung der vorliegenden – und gegebenenfalls im Rahmen einer Beweiserhebung einzuholenden – Stellungnahmen sachverständiger Stellen über die Lage in seinem Herkunftsland zu beurteilen.
Soweit die individuellen Verhältnisse des Schutzsuchenden in Rede stehen, obliegt es daher stets ihm, die behaupteten Gründe einer Verfolgung schlüssig und unter Benennung von Einzelheiten vorzutragen. Wegen der häufigen Beweisschwierigkeiten können allein schon die tatsächlichen Angaben des Ausländers zu einem Erfolg seines Begehrens führen, sofern das Tatsachengericht die nach § 108 Abs. 1 S. 1 VwGO erforderliche volle Überzeugung von der Wahrheit – und nicht lediglich von der Wahrscheinlichkeit – des von dem jeweiligen Kläger behaupteten individuellen Schicksal gewonnen hat (vgl. ausf. BVerwG, Urt. v. 16. April 1985 – BVerwG 9 C 109.84 –, juris Rn. 10).
Der richterlichen Überzeugungsbildung von der Wahrheit des Vortrags können erhebliche Widersprüche im Vorbringen des Schutzsuchenden entgegenstehen, sofern die Unstimmigkeiten nicht überzeugend aufgelöst werden (vgl. BVerwG, Beschl. v. 21. Juli 1989 – BVerwG 9 B 239.89 –, juris); Entsprechendes gilt für den Fall, dass der Rechtsschutzsuchende sein Vorbringen im Verlaufe des Verfahrens steigert, ohne in nachvollziehbarer Weise erklären zu können, aus welchen Gründen er maßgebliche Umstände nicht bereits früher erwähnt hat (BVerwG, Urt. v. 08. Februar 1989 – BVerwG 9 C 29.87 –, juris Rn. 9). Welche Anforderungen an die Stimmigkeit des Sachvortrags zu stellen sind, bemisst sich auch nach der Persönlichkeitsstruktur, dem Wissensstand und der Herkunft des Ausländers (OVG f. d. Ld. Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 06. September 2021 – 6 A 139/19.A –, juris Rn. 46).
1.2 Die Kläger haben die Russische Föderation nicht – wie vom Bundesamt im Ergebnis zutreffend angenommen – aus begründeter Furcht vor Verfolgung im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG verlassen.
Nach ausführlicher informatorischer Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung ist das Gericht nicht davon überzeugt, dass seine Behauptungen, er sei aus im Wesentlichen politischen Gründen, § 3b Abs.1 Nr. 5 AsylG, misshandelt, bedrängt und bedroht worden, auf Tatsachen beruhen.
1.2.1 Zwar entspricht es der einhelligen Auskunftslage, dass die Bekämpfung von Extremisten in der autonomem Republik Tschetschenien mit rechtswidrigen Festnahmen, Sippenhaft, Kollektivstrafen, spurlosem Verschwinden, Folter zur Erlangung von Geständnissen, fingierten Straftaten, außergerichtlichen Tötungen und der Folter in Geheimgefängnissen einhergeht und dass die strafrechtliche Verfolgung der bezeichneten Menschenrechtsverletzungen unzureichend ist (vgl. nur: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich [BFA] – Länderinformation der Staatendokumentation Russische Föderation, Stand: 10. Juni 2021, S. 26; zur Sippenhaft zuletzt: Auskunft des Auswärtigen Amts an das Bundesamt vom 29. Juni 2022 – 508-9-516.80).
Das Gericht ist vorliegend allerdings nicht davon überzeugt, dass der Sachvortrag des Klägers in den für seinen Anspruch maßgeblichen Teilen auf Tatsachen beruht und dass die Familie die Republik Tschetschenien damit wegen der vom Familienvater erlittenen und erneut drohenden Gewalt durch russische oder tschetschenische Sicherheitsorgane verlassen hat.
Der Vortrag des Klägers in der mündlichen Verhandlung vom 04. August 2022 war teilweise in sich widersprüchlich und er weicht in wesentlichen Teilen von dessen Angaben im Verwaltungsverfahren ab, ohne dass das Gericht den Eindruck gewonnen hätte, dass diese Widersprüche und groben zeitlichen Ungereimtheiten auf Umständen beruhen würden – etwa einem Unvermögen des Klägers, Geschehnisse zeitlich einzuordnen, oder der Belastung im Rahmen der mündlichen Verhandlung –, die für die Glaubwürdigkeitsbeurteilung seines Aussageverhaltens irrelevant wären.
Im Einzelnen: Der Kläger ist durch das Bundesamt wiederholt und insbesondere am 23. August 2018 ausführlich zu seinen Verfolgungsgründen angehört worden; eine entsprechend ausführliche Möglichkeit, sich zu äußern, bestand für ihn im Rahmen seiner Stellungnahme auf den Sachbericht des Gerichts und im Verlauf seiner informatorischen Befragung.
Der Kläger hat sich im behördlichen Verfahren im Wesentlichen dahingehend eingelassen, er sei in dem Zeitraum von 2004 – 2015 in Zusammenhang mit der Kriegsteilnahme seines Vaters aus dem Jahr 1994 von der Gefolgschaft Kadyrows bedrängt worden, die ihm eine Unterstützung islamistischer Bestrebungen und des Terrorismus vorgeworfen habe. Er sei mitgenommen und 2 Wochen befragt worden. Er sei einmal nach Hause gekommen und sie hätten ihm mit einem Gummigeschoss gegen die Schläfe geschossen. Er sei in den Jahren 2011, 2012 und 2013 aufgesucht, 5 - 6 mal mitgenommen und ein Mal mit Strom gefoltert worden. Er sei von der Uni und auch von der Straße mitgenommen worden. Das Dokument über eine Zusammenarbeit mit der Gefolgschaft Kadyrows habe er 2014 unterschrieben. Seit August 2014 habe er sich in Rostow am Don bei einem Cousin aufgehalten.
Von dieser Sachverhaltsdarstellung ist der Kläger in der mündlichen Verhandlung in wesentlichen Teilen abgewichen: Zwar hat er noch auf den Vortrag des Sachberichts erklärt, „2014 (sei) dieser Vorfall mit den Folterungen“ gewesen (Niederschrift, S. 3), sich im Verlaufe der informatorischen Befragung, auf die Frage des Gerichts, wann es erstmals zu Befragungen und Drohungen gekommen sei, und auf die Bitte, das erste Erlebnis möglichst ausführlich zu schildern (Niederschrift, S.4/5), jedoch dahingehend eingelassen, er sei im Jahr 2006 mitgenommen, in einem Kellerraum befragt und auf verschiedene Arten gefoltert worden; er sei freigelassen worden, nachdem er sich schriftlich verpflichtet habe. Auf mehrfache Nachfragen, wie es weiter gegangen sei (Niederschrift, S. 8), erklärte der Kläger sodann, er sei nach seiner Freilassung einige Monate später ein Mal „nach der Uni“ angehalten und nach Ergebnissen befragt worden; anschließend sei er einige Tage später zu seiner Tante nach Rostow am Don gefahren (Niederschrift, S. 8, unten, S. 9, oben), jedoch bald zurückgekehrt. Anschließend sei nichts geschehen; nach einer Fahrt nach Moskau sei „man“ wieder gekommen und habe ihn „mitgenommen“ und nach Ergebnissen befragt. Der Kläger schloss seinen Vortrag damit, er „könnte noch lange über die Schikanen erzählen“.
Die Sachverhaltsdarstellung des Klägers in der mündlichen Verhandlung weicht hiernach in wesentlichen Punkten von seinen Angaben im behördlichen Verfahren ab:
Zum einen hatte der Kläger gegenüber dem Bundesamt nicht von massiven Folterungen zu einem Zeitpunkt berichtet, an dem seine Probleme begonnen haben sollen (im Jahr 2006); zum anderen ist der Kläger – der eingangs der informatorischen Anhörung darauf hingewiesen wurde, dass sich das Gericht einen eigenen Eindruck von der Glaubhaftigkeit seiner Angaben verschaffen müsse, dass er sich Zeit nehmen und möglichst ausführlich antworten solle – im Anschluss an die Darstellung der Geschehnisse 2006 nicht auf weitere Körperverletzungen oder gar Folterungen zu sprechen gekommen.
Mag der letztgenannte Gesichtspunkt ungeachtet der Hinweise des Gerichts noch auf eine Annahme des Klägers zurückzuführen sein, dass das Gericht seine im Sachbericht erwähnten Angaben über „Schikanen“ gleichsam automatisch berücksichtige, beeinträchtigt der erstgenannte Punkt die Glaubhaftigkeit seiner Angaben in besonderem Maße. Zwar berücksichtigt das Gericht zu Gunsten des Klägers, dass dieser offenbar besondere Probleme hat, Geschehnisse zeitlich korrekt einzuordnen. Auch angesichts dessen ist jedoch nicht erklärlich, dass der Kläger die umfangreichen Folterungen eingangs seiner so bezeichneten „Schwierigkeiten“ im Jahr 2006 gegenüber dem Bundesamt nicht erwähnte (Niederschrift der mündlichen Verhandlung, S. 6):
„…Dann fing man an mich zu schlagen. Man machte einen Knoten aus einem Handtuch, machte das Handtuch feucht und schlug mich mit dem Knoten. Man hat es vermieden, mich ins Gesicht zu schlagen, wohl aber auf den Körper. Man hat auch auf die Fersen geschlagen, indem ich aufgehängt wurde. Mit den Händen nach hinten und hochgezogen. Das heißt Schwalbe. Also man schlug mich und verhörte mich und man band mich fest, legte mir ein Handtuch über den Kopf und goss Wasser drüber, so dass man keine Luft mehr bekommt. Man zog mir eine Tüte über den Kopf und drohte mich mit einem Schlagzeug zu vergewaltigen. Ich sollte über die Organisation, über etwaige Mitstreiter etwas aussagen. Dann gab man mir eine Verschnaufpause und danach hat man mir Stromschläge verpasst mit einem Elektroschocker. Das war ein großer Elektroschocker, wohl aus der Zeit der UdSSR. Man hat mich komplett mit Wasser übergossen und Stromschläge verpasst. Ich hatte überall Wunden als ich dort herauskam.“
Hiervon abgesehen hat der Kläger gegenüber dem Bundesamt weder erwähnt, dass er mit einem zusammengeknoteten Handtuch geschlagen worden sein will noch dass ein Eltroschocker aus „der Zeit der UdSSR“ zum Einsatz gekommen sein soll. Darüber hinaus widerspricht sich der Kläger auch insoweit, als er gegenüber dem Bundesamt nach ausweichenden Antworten (vgl. dortige Niederschrift, S. 10) auf Nachfrage erklärte hatte, mit Strom ein Mal gefoltert worden zu sein –
(dortige Niederschrift, S. 11: „Mit Strom war das der einzige Vorfall.“),
auf den Vortrag im Sachbericht „er sei 5 bis 6mal mitgenommen und einmal mit Strom gefoltert worden“ jedoch erklärte (Niederschrift der mündlichen Verhandlung, S. 3:
„Einmal war das mit dem Elektroschocker und das 2. Mal hat man mir schon ordentliche Drähte angeschlossen und Strom durchfließen lassen.“
Auch im Übrigen spricht das Aussageverhalten des Klägers in der mündlichen Verhandlung für sich: So hat der Kläger zum einen von den Folterungen im Jahr 2006 seiner Mimik und Gestik nach in einer Weise berichtet, die mit einer eigenen Betroffenheit schwerlich in Einklang zu bringen wäre, zum anderen vermittelte sein gesamtes Aussageverhalten zu den für seinen Anspruch wesentlichen Punkten den Eindruck einer Darstellung vermeintlicher Geschehnisse und zu keinem Zeitpunkt den Eindruck eines tatsächlich Erlebten. So musste der Kläger etwa durch das Gericht nicht nur wiederholt dazu angehalten werden, fortzufahren, obwohl der Kläger nicht den Eindruck gehabt haben konnte, die Frage des Gerichts abschließend beantwortet zu haben –
(vgl. nur Niederschrift, S. 5 und S. 6:
„…Man hat mich komplett mit Wasser übergossen und Stromschläge verpasst. Ich hatte überall Wunden als ich dort herauskam.“
Anmerkung des Gerichts: „Fahren sie fort.“
Antwort des Klägers: „Also man hat mich befragt und geschlagen, geschlagen und gefragt. Ich weiß nicht was ich dazu erzählen kann. Beleidigungen vielleicht, die man mir gegenüber geäußert hat. Beispielsweise, deine Frau ist hübsch und wenn wir sie verhören wird sie alles erzählen. Wobei, sie hat nichts zu erzählen, genauso wenig wie ich…“) –,
die Aussage insgesamt vermittelte den Eindruck einer nicht realen und verfahrensangepassten Darstellung. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang insbesondere auf die Antwort des Klägers auf die Bitte des Gerichts, das „erste Erlebnis“ möglichst ausführlich zu schildern. Das Aussageverhalten des Klägers korrespondiert nicht nur mit seinem Aussageverhalten gegenüber dem Bundesamt –
(vgl. Niederschrift der dortigen Anhörung vom 23. August 2018, S. 7, oben:
„Frage: Wer genau kam wann zu Ihnen?
Antwort: Das waren Menschen, die sich nicht ausgewiesen haben. Sie hatten keine Masken auf, mir ist bekannt das viele Tschetschenien erzählen, dass die Menschen maskiert sind und sie mitnehmen. Auch dass sie die Menschen mitnehmen, foltern und verhören. Ich schäme mich für Sie.“
und S. 7, unten:
„Frage: Sie haben angegeben 5-6 Mal mitgenommen und gefoltert worden zu sein. Wo sind sie hingebracht worden und was ist genau passiert?
Antwort: Wenn man mitgenommen wird, dann entweder im Kofferraum oder man bekommt etwas über den Kopf gezogen, so dass man nichts sehen kann. Nur wenn man den Bezirk gut kennt, dann kann man sich einigermaßen gut orientieren. Meistens sind es irgendwelche Kellerräume.
Frage: Wie genau sind sie jetzt mitgenommen worden und was es ihnen genau passiert?
Antwort: Meine Frau und meine Mutter haben gesehen wie ich mitgenommen wurde. Es geschah immer beim Sonnenaufgang…“
insoweit, als der Kläger auf (vermeintlich) übliche Geschehensabläufe und Tatsachen zu sprechen kommt, um die Glaubhaftigkeit eigener Angaben zu unterstreichen –
(Niederschrift der mündlichen Verhandlung vom 04. August 2022, S. 5):
„… Antwort des Klägers: „Euer Ehren, es ist meistens so, wenn einer kommt, ist es 3 bis 4 Uhr morgens. Zum 1. Mal kamen Sie mitten in der Nacht, es war vielleicht 3 Uhr.“ –,
die Ausführungen sind auch ersichtlich verfahrensangepasst:
(Niederschrift, S. 5, unten:
„Ich sagte, dass mein Onkel unschuldig in Haft genommen wurde aber man glaubte mir nicht – dass was man sagt glauben sie einem nie. Ich habe dann Sprachnachrichten ausgetauscht mit meinem Onkel und fragte ihn, ob er weiß, wann er zum 1. Mal mitgenommen wurde. Mein Onkel sagte, dass sei ihm unvergesslich, das sei der 7. Februar 2006 gewesen.“
Mit diesem Aussageverhalten deckt sich, dass der Vortrag des Klägers gegenüber dem Bundesamt zu fortlaufenden „Mitnahmen“ und Misshandlungen ebenso wenig plausibel ist, wie die Angaben gegenüber dem Gericht zu Misshandlungen 2006 und fortlaufenden „Schikanen“ sowie „Vorladungen“: Die Verbreitung des radikalen Islamismus stellt für den tschetschenischen Machthaber Ramsan Kadyrov ein hohes Risiko dar und Tschetschenien verfolgt daher konsequent eine Politik der Repression radikaler Elemente (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, Stand: 10. Juni 2021, S. 48 ff.). Hätten die tschetschenischen oder russischen Behörden konkrete Anhaltspunkte dafür gehabt, dass es sich bei dem Kläger tatsächlich um einen ernsthaften Regierungsgegner oder gar aktiven Unterstützer der wenigen noch verbliebenen islamistischen Rebellen oder von Terrororganisationen handeln könnte, dann hätten sie ihn nicht mehrfach festgehalten und anschließend wieder freigelassen. Vielmehr wäre damit zu rechnen gewesen, dass der Kläger – und zwar ohne jegliche Vorwarnung – verhaftet und (mindestens) dauerhaft festgehalten worden wäre. Entsprechend ist der Vortrag im gerichtlichen Verfahren nicht nachvollziehbar, dass der Kläger zwar bereits 2006 von tschetschenischen Stellen zu einer Zusammenarbeit verpflichtet worden sein will, diese Stellen ihn aber bis 2015 weitestgehend unbehelligt lassen und ihm die Ausreise mit öffentlichen Verkehrsmitteln ermöglichen. Ebenso wenig plausibel wäre es, wenn der Kläger auch nach seiner Verpflichtung zur Zusammenarbeit 2006 wiederholt aufgesucht, mitgenommen und misshandelt worden wäre.
Es erscheint auch lebensfern und damit ausgeschlossen, dass insbesondere die rigoros und oftmals unter Außerachtlassung jeglicher rechtsstaatlicher Anforderungen gegen Abweichler vorgehenden Sicherheitsorgane in der russischen Republik Tschetschenien Vorladungen an Personen verschicken, die verdächtigt werden, Kontakt mit dem islamistischen Widerstand zu haben, sie hierdurch warnen und gleichzeitig den Erfolg der (Ermittlungs-)Verfahren riskieren (vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, Stand: 10. Juni 2021, S. 26). Erst recht erscheint es ausgeschlossen, dass diesen Personen, wie vorliegend für die Kläger zu 1. und 2. in den Jahren 2013 und 2014, Reisepässe ausgestellt werden.
Die von dem Kläger eingereichte Epikrise eines „Republikanischen Klinischen Krankenhaus für Notfallmedizin“ vom 20. August 2014 (Bl. 309 ff. BA I) ist auch in dem vorliegenden Zusammenhang schon deshalb ohne Aussagekraft, weil sie allenfalls die Entfernung eines Gegenstandes aus dem „rechten Temporalbereich“ bei einem „M...‘, geb. im Jahr 1985“ belegt, sich die Ärzte zu der Ursache der Verwundung aber nicht verhalten. Auch den weiteren Angaben in dieser Bescheinigung („Nach Worten des Patienten wurde das Trauma 10 Minuten vor der Krankenhausaufnahme infolge des Schusses aus einer ‚traumatischen Pistole‘ zugefügt.“) kommt in Zusammenhang mit dem Klageanspruch kein Gehalt zu.
1.2.2 Von der mangelnden Glaubhaftigkeit des Sachvortrags der Kläger abgesehen, scheidet die Gewährung von Flüchtlingsschutz aber auch nach § 3e Abs. 1 AsylG aus.
Politisch unverdächtigen und erwerbsfähigen Tschetschenen – Entsprechendes gilt für Tschetschenen, die zwar verfolgungsbedingt ausgereist, nicht jedoch zur nationalen Fahndung ausgeschrieben sind – steht in den meisten Teilen der Russischen Föderation grundsätzlich eine inländische Fluchtalternative („interner Schutz“) zur Verfügung (st. Rspr. d. Kammer, zuletzt: Urt. v. 28. Februar 2022 – VG 1 K 2944/17.A –, und Urt. d. 7. Kammer v. 31. März 2021 – VG 7 K 1900/16.A –, juris; ebenso etwa: VG Frankfurt (Oder), Urt. v. 18. Juni 2020 – VG 6 K 741/13.A –, juris; VG Potsdam, Urt. v. 10. Mai 2017 – 6 K 4904/16.A – juris, Rn. 22 ff.; VG Berlin, Urt. v. 24. März 2015 – 33 K 229.13 A –, juris; OVG des Landes Sachsen-Anhalt, Urt. v. 28. Mai 2020 – 2 L 25/18 –, Rn. 45, juris).
Auf internen Schutz in der Russischen Föderation außerhalb der Teilrepublik Tschetschenien deutet bereits die große Zahl von Tschetschenen, die sich außerhalb des Nordkaukasus in anderen Gebieten des Landes niedergelassen haben. Allein in den Jahren zwischen 2008 und 2015 sollen rund 150.000 Personen Tschetschenien aus ökonomischen und gesundheitlichen Gründen oder aber mit Blick auf verbreitete Verstöße gegen die Menschenrechte in dieser Republik verlassen und teilweise in andere Regionen der Russischen Föderation verzogen sein. Von den etwa 300.000 außerhalb des Nordkaukasus lebenden Tschetschenen existieren die offiziell größten Gemeinschaften in Moskau (über 14.000 Personen), Inguschetien (knapp 19.000 Personen), in der Region Stawropol (knapp 12.000 Personen) und in den Regionen Rostow und Wolgograd (über 11.000 bzw. knapp 10.000 Personen). Die tatsächliche Zahl der in der Russischen Föderation, etwa in Moskau, außerhalb Tschetscheniens lebenden Personen dürfte jedoch erheblich höher liegen, unter anderem, weil bei der letzten Volkszählung ein großer Teil der Bevölkerung seine ethnische Zugehörigkeit nicht angegeben hat. So sollen etwa in der Region Wolgograd doppelt so viele und in der Region Sankt Petersburg etwa sieben Mal so viele Tschetscheninnen und Tschetschenen leben, wie offiziell angenommen. (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, Stand: 10. Juni 2021, S. 85; ausf. auch European Asylum Support Office [EASO], „Informationsbericht über das Herkunftsland Russische Föderation - Die Situation der Tschetschenen in Russland“, August 2018, S. 12 bis 17), und das Auswärtige Amt gibt die Anzahl der in Moskau lebenden Tschetschenen mit 200.000 Personen an (Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 02. Februar 2021 in der Fassung vom 21. Mai 2021, S. 14).
Für Tschetscheninnen und Tschetschenen gibt es ungeachtet nationaler Datenbanken und Registrierungsgesetze, abhängig von den Umständen des Einzelfalls, einen Spielraum, Anonymität und Sicherheit in den großen Städten des Landes zu finden, und Personen, die in ihrer Heimatregion Übergriffen durch Sicherheitskräfte ausgesetzt waren und deshalb außerhalb der Teilrepublik Tschetschenien in der Russischen Föderation leben, müssen dort nicht beachtlich wahrscheinlich mit Verfolgung rechnen. Das gilt jedenfalls dann, wenn nach diesen Personen nicht gefahndet wird, sie sich nicht in prominenter Position als Gegner des Präsidenten der russischen Teilrepublik Tschetschenien Ramsan Achmatowitsch Kadyrow betätigt haben oder es sich nicht um Personen handelt, die sich den LGBTI (Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Intersexual) zugehörig fühlen. Es ist nicht anzunehmen, dass die russischen Sicherheitsbehörden außerhalb des Nordkaukasus tschetschenische Stellen bei der Suche nach etwaigen aus deren Sicht Verdächtigen bedingungslos unterstützen würden und als deren Vollstrecker auftreten. Vielmehr betrachten russische Stellen Forderungen aus Grosny oft mit Skepsis und machen einen deutlichen Unterschied zwischen der Behandlung von Personen, die wegen Verbrechen in Tschetschenien gerichtlich verurteilt wurden, und denen, denen lediglich vorgeworfen wird, Verbrechen begangen zu haben. Auch besitzt das tschetschenische Republikoberhaupt zwar volle Kontrolle über die Sicherheitskräfte der Republik Tschetschenien („Kadyrowzy“) und bewaffnete Kräfte, die ihm zuzurechnen sind, sind auch in den großen Städten der Russischen Föderation, so insbesondere in Moskau, präsent. Es ist jedoch nicht beachtlich wahrscheinlich, dass Kadyrow die ihm zur Verfügung stehenden Mittel, einer in anderen Teilen Russlands lebenden Person habhaft zu werden, einsetzen wird, wenn es sich nicht um einen prominenten Gegner seiner Politik oder eine andere, einleitend bezeichnete Person handelt (AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 02. Februar 2021 in der Fassung vom 21. Mai 2021, S. 15 [„Einzelfälle“]; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, Stand. 20. Juni 2021, S. 86 ff.; EASO, „Informationsbericht über das Herkunftsland Russische Föderation - Die Situation der Tschetschenen in Russland“, August 2018, S. 49 ff.).
Vorliegend behauptet der Kläger selbst nicht, in der Russischen Föderation zur Fahndung ausgeschrieben worden zu sein noch gibt es hierfür Anhaltspunkte. Im Übrigen handelt es sich bei ihm – selbst den Vortrag der Kläger als wahr unterstellt – aus Sicht tschetschenischer Stellen nicht um eine in der gesamten Russischen Föderation prominente Persönlichkeit und auch nicht um einen bekannten oder hochrangigen Kämpfer oder Gegner des Republikoberhaupts. Dem stünden – an dieser Stelle ebenfalls unterstellte – gewalttätige Übergriffe tschetschenischer Sicherheitskräfte innerhalb der eigenen Teilrepublik nicht entgegen, denn aus ihnen könnte nicht der Schluss gezogen werden, dass der Betreffende auch jetzt bei einer Rückkehr in eine andere als seine Heimatregion von staatlichen Akteuren gesucht werden würde.
Die Familie kann auch sicher und legal in den sicheren Landesteil reisen, und es kann von ihr vernünftigerweise erwartet werden, dass sie sich dort niederlässt.
Bei der Prüfung, ob ein Teil des Herkunftslandes die Voraussetzungen nach § 3e Abs. 1 AsylG erfüllt, sind die dortigen allgemeinen Gegebenheiten und die persönlichen Umstände des Ausländers nach Art. 4 RL 2011/95/EU zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag zu berücksichtigen (§ 3e Abs. 2 S. 1 AsylG). Erforderlich ist, dass der Ausländer am Zufluchtsort unter persönlich zumutbaren Bemühungen jedenfalls sein wirtschaftliches Existenzminimum, sei es durch eigene Arbeit, sei es durch staatliche oder sonstige Hilfen, auf einem Niveau sichern kann, das eine Verletzung des Art. 3 EMRK nicht besorgen lässt; daüber hinausgehende Anforderungen sind nicht notwendige Voraussetzung der Zumutbarkeit der Niederlassung (BVerwG, Urt. v. 24. Juni 2021 – BVerwG 1 C 54.20 –, Rn. 9 ff., Rn. 14 ff.; BVerwG, Urt. v. 18. Februar 2021 – BVerwG 1 C 4.20 –, juris Rn. 27). Dabei sind einem jungen, gesunden und arbeitsfähigen Schutzsuchenden außer kriminellen Tätigkeiten alle Arbeiten zumutbar, auch solche, für die es keine Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entsprechen, etwa weil sie keinerlei besondere Fähigkeiten erfordern, oder die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs, beispielsweise in der Landwirtschaft oder auf dem Bausektor, ausgeübt werden können (BVerwG, Beschl. v. 13. Juli 2017 – BVerwG 1 VR 3/17 –, juris Rn. 119); auf eine entwürdigende oder eine entgeltliche Erwerbstätigkeit für eine kriminelle Organisation darf der Schutzsuchende demgegenüber nicht verwiesen werden (vgl. BVerwG, Urt. v. 01. Februar 2007 – BVerwG 1 C 24.06 –, juris Rn. 11).
Tschetschenen steht wie allen russischen Staatsbürgern das in der Verfassung verankerte Recht der freien Wahl des Wohnsitzes und des Aufenthalts in der Russischen Föderation zu. Für eine legale Aufenthaltsnahme bedarf es einer Registrierung, wozu der Inlandspass und ein Wohnraumnachweis vorgelegt werden müssen. Zwar kann es in manchen Städten oder Regionen zu Problemen bei der Registrierung kommen, insbesondere wenn der Zuzug von Personen aus den südlichen Republiken der Russischen Föderation in Frage steht, in der Regel ist eine Registrierung auch für Tschetschenen – wie bereits die hohe Anzahl der außerhalb Tschetscheniens lebenden Personen verdeutlicht – jedoch kein Problem (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, Stand: 10. Juni 2021, S. 82; EASO, „Informationsbericht über das Herkunftsland Russische Föderation - Die Situation der Tschetschenen in Russland“, August 2018, S. 20; AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 02. Februar 2021 in der Fassung vom 21. Mai 2021, S. 22/23).
Es liegen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass es den Klägern aus wirtschaftlichen Gründen unzumutbar gewesen wäre, ihren Aufenthalt innerhalb der Russischen Föderation außerhalb der Teilrepublik Tschetschenien zu nehmen, insbesondere wäre zu erwarten gewesen, dass die Kläger ihren Lebensunterhalt einschließlich der Versorgung mit menschenwürdigem Wohnraum – losgelöst von einer (jedenfalls teilweisen) Versorgung durch familiäre Strukturen und die sozialen Sicherungssysteme in Russland – durch zumutbare Arbeit sichern könnten. In den wirtschaftlichen Zentren der Russischen Föderation ist die Armutsquote nur halb so hoch wie im Landesdurchschnitt und erheblich niedriger als in den Regionen des Nordkaukasus (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, Stand: 10. Juni 2021, S. 82). Der russisch sprechende Kläger ist zudem arbeitsfähig und es ist mit Blick auf seine beruflichen Vorkenntnisse davon auszugehen, dass er – wie nach Darlegung der Klägerin gegenüber dem Bundesamt – eine Arbeit auf dem Bau oder im Handwerk finden würde, um für den Lebensunterhalt der Familie zumindest in dem notwendigen Umfang zu sorgen. Entsprechendes gilt für die Klägerin auch mit Blick darauf, dass Frauen aus dem Nordkaukasus auf dem Arbeitsmarkt mit weniger Diskriminierung als Männer zu rechnen haben (EASO, „Informationsbericht über das Herkunftsland Russische Föderation - Die Situation der Tschetschenen in Russland“, August 2018, S. 30/31), und dass ihre bisherige Tätigkeit Anknüpfungspunkt für eine Beschäftigungsmöglichkeit bieten könnte.
1.3 Den Klägern, insbesondere dem Kläger (zu 1.), droht auch bei einer (unterstellten) Rückkehr in die Russische Föderation keine Verfolgung.
1.3.1 Das Gericht ist nicht davon überzeugt, dass der Kläger vor seiner Ausreise aus der Russischen Föderation mitgenommen, misshandelt und wegen einer möglichen Verbindung zum Islamismus unter Druck gesetzt wurde, so dass auch sein Hinweis auf das Schicksal seines Onkels und der Cousins – eine Verwandtschaft insbesondere zu dem in der Klagebegründung bezeichneten L... hier unterstellt – nicht verfängt.
Zwar ist der Auskunftslage nach eine Sippenhaft „üblich“, wobei „je nach Schwere der Tat“ die Familienangehörigen verantwortlich gemacht werden (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Bundesamt vom 29. Juni 2022 – 508-9-516.80). Das bedeutet der Auskunftslage nach jedoch nicht, dass eine solche Sippenhaft auch diejenigen Familienangehörigen im Fall ihrer Wiedereinreise in die Russische Föderation trifft, die das Land – wie vorliegend – verlassen haben, ohne auch nur von (politischer) Verfolgung bedroht worden zu sein.
1.3.2 Die Voraussetzungen des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG liegen ebenfalls schon deshalb nicht vor, weil der Kläger bei einer unterstellten Wiedereinreise in die Russische Föderation nach gegenwärtiger Auskunftslage nicht gewärtigen muss, in Tschetschenien oder im restlichen Staatsgebiet der Russischen Föderation zum Militärdienst gezwungen oder offiziell eingezogen und in dem völkerrechtswidrigen Krieg in der Ukraine eingesetzt zu werden.
Der Kläger ist heute 37 Jahre alt und er hat nach eigenem – insoweit glaubhaften (vgl.
ACCORD; Anfragebeantwortung u. a. zur Wehrpflicht vom 16. Mai 2022, S. 14) – Bekunden im wehrfähigen Alter keinen Wehrdienst in den russischen Streitkräften geleistet noch hat er anderweitig militärische Erfahrung, etwa im Umgang mit Waffen, erworben.
Es liegen keine Anzeichen dafür vor, dass eine Person in dem Alter und in der Situation des Klägers mit einer legalen Einberufung oder einer extralegalen Einziehung zum Militär in der Russischen Föderation rechnen müsste.
Die Streitkräfte der Russischen Föderation ziehen im Rahmen der allgemeinen Wehrpflicht Männer im Alter zwischen 18 und 27 Jahren, in Einzelfällen ab dem 16. Lebensjahr, ein (ACCORD; Anfragebeantwortung u. a. zur Wehrpflicht vom 16. Mai 2022, S. 2; European Union Agency for asylum – euaa – „Treatment of military Deserters by State Authorities since the February 2022 Invasion of Ukraine“ vom 05. April 2022, S. 2) und auch eine Generalmobilmachung wurde bisher nicht angeordnet, so dass für den Kläger ebenfalls nicht die Gefahr besteht, als Reservist zum Dienst mit der Waffe gezwungen zu werden. Vor diesem Hintergrund ist es vorliegend ohne Belang, dass Angehörige ethnischer Minderheiten aus kleineren Gemeinden und aus ärmeren Familien aktuell überdurchschnittlich Gefahr laufen, in den Russischen Streitkräften kämpfen zu müssen (ACCORD; Anfragebeantwortung u. a. zur Wehrpflicht vom 16. Mai 2022, S. 13). Der Druck, im Krieg in der Ukraine und an der Front kämpfen zu müssen, lastet den vorliegenden Quellen nach (ACCORD; Anfragebeantwortung u. a. zur Wehrpflicht vom 16. Mai 2022, S. 5) primär auf jungen Wehrpflichtigen, die nach der Grundausbildung durch Täuschung oder mit mehr oder minder großem Druck gezwungen werden, sich als Zeitsoldat zu verpflichten und damit der Verlautbarung offizieller russischer Stellen entsprechend, Wehrpflichtige würden in der Ukraine nicht eingesetzt, Gefahr laufen, in dem Nachbarland kämpfen zu müssen. Hinzu kommt, dass im Frühjahr 2022 etwa 134.500 junge Männer in der gesamten Russischen Föderation neu als Wehrpflichtige eingezogen worden sein sollen – die, wie russische offizielle Stellen nach anfänglichem Leugnen zwischenzeitlich zugegeben haben, ebenfalls in der Ukraine eingesetzt werden – und dass die Streitkräfte Bekundungen Offizieller nach auf über zwei Millionen frühere Wehrpflichtige und Zeitsoldaten zurückgreifen können (European Union Agency for asylum – euaa – „Treatment of military Deserters by State Authorities since the February 2022 Invasion of Ukraine“ vom 05. April 2022, S. 3).
Von dem Vorstehenden abgesehen, besteht der Rechtslage in der Russischen Föderation nach die Möglichkeit, den allgemeinen Wehrdienst zu verweigern und alternative Dienste abzuleisten. Zwar gibt es derzeit Befürchtungen, dass diese Rechtslage derzeit keine Anwendung finden könnte, jedoch keine Erkenntnisse darüber, dass die Einberufungsbüros tatsächlich rechtswidrig vorgehen (ACCORD; Anfragebeantwortung u. a. zur Wehrpflicht vom 16. Mai 2022, S. 9).
Der Kläger muss – von der Möglichkeit, Schutz im restlichen Staatsgebiet der Russischen Föderation finden zu können, abgesehen – auch bei einer Rückkehr in die autonome Republik Tschetschenien nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit damit rechnen, durch Kräfte Kadyrovs extralegal zum Dienst in militärischen Einheiten gezwungen zu werden.
Zwar sollen sich bisher mehr als 70.000 Angehörige des Militärs, der tschetschenischen Sicherheitskräfte und insbesondere der Ramzan Kadyrov besonders verpflichteten Teileinheit der Nationalgarde („Kadyrowzy“) bereit erklärt haben, dem Bestreben des tschetschenischen Machthabers nach an dem Krieg in der Ukraine teilzunehmen, und eine signifikante Anzahl dieser Personen – Angaben in verschiedenen Quellen gehen von etwa 10.000 Personen aus – haben sich bereits an der „militärischen Spezialoperation“ beteiligt, auch indem sie an „Säuberungsaktionen“ und am Durchkämmen des Gebietes teilnahmen (ACCORD; Anfragebeantwortung u. a. zur Wehrpflicht vom 16. Mai 2022, S. 13). Auch gibt es Berichte darüber, dass junge Männer unter Androhung ihrer Inhaftierung oder von Vergeltungsaktionen gegenüber Verwandten gezwungen wurden, in der Ukraine zu kämpfen (ACCORD; Anfragebeantwortung u. a. zur Wehrpflicht vom 16. Mai 2022, S. 17).
Den vorliegenden Erkenntnissen nach besteht für den Kläger aber auch insoweit keine beachtenswerte Gefahr, (zwangs-)rekrutiert zu werden, denn diese Praxis trifft entweder junge Männer ohne militärische Ausbildung oder aber ältere Tschetschenen mit entsprechender militärischer (Kampf-)Erfahrung, etwa aus dem Krieg in der Arabischen Republik Syrien (ACCORD; Anfragebeantwortung u. a. zur Wehrpflicht vom 16. Mai 2022, S. 15; RadioFreeEurope/RadioLiberty: „North Caucasus .- Russia‘s ‚Shadow Mobilization‘ accelerates with new ethnic units from the north Caucasus“).
Soweit andere Quellen (so das im Schriftsatz der Prozessbevollmächtigten der Kläger benannte Presseorgan „The Insider“: „Threatening mothers and sisters.“ „How Chechen ‚volunteers‘ are forcibly sent to fight in Ukraine“ vom 15. Juni 2022) berichten, dass die tschetschenischen Sicherheitskräfte wegen des Fehlens von Freiwilligen Einwohner einschüchtern, misshandeln oder bedrohen, um sie zu zwingen, in der Ukraine zu kämpfen, wobei es unmöglich sei, der „Mobilisierung“ zu entkommen und nur wenigen die Flucht gelinge, fehlt es an einer Konkretisierung, welche Personen hiervon im Allgemeinen betroffen sind. Der Artikel benannt den Bruder eines oppositionellen Bloggers und spricht ansonsten davon, dass „Reservisten“ oder Personen auf einer Liste von „Extremisten“ von Zwangsrekrutierungen betroffen sein sollen. Soweit in der Propaganda von tschetschenischen Offiziellen davon die Rede ist, dass sich die Rekrutierung für das „Vostok Akhmat Bataillon“ auf Männer im Alter von 21 bis 49 Jahren beziehe, handelt es sich, wie schon die Ankündigung „sozialer Garantien“ und finanzieller Vergünstigungen verdeutlicht, um ein elitäres Spezial-Bataillon, das von Zwangsrekrutierungen nicht betroffen sein und dem Kläger ohne jegliche militärische Erfahrung nicht offen stehen dürfte. Auch ansonsten werden bisher nur Einzelfälle – die Rede ist von „fünfzig Meldungen“ –, etwa der Erpressung eines „nahezu fünfzig Jahre alten Mannes“, der beschuldigt wurde, sich 1992 dem Militärdienst entzogen zu haben, benannt, ohne dass eine Vergleichbarkeit zu der Situation des Klägers hergestellt werden könnte.
2. Auch der Hilfsantrag ist unbegründet. Die Voraussetzungen der Zuerkennung subsidiären Schutzes, § 4 Abs. 1 Nr. 2 AsylG, liegen nicht vor.
Ein Antragsteller ist danach subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt: 1. die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, 2. Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder 3. eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.
Die Voraussetzungen der 2. Alternative – für die 1. und 3. Alternative ist von vornherein nichts ersichtlich oder vorgetragen – liegen angesichts der mangelnden Glaubhaftigkeit des Sachvortrags und des aufgezeigten internen Schutzes in der Russischen Föderation nicht vor. Auf die Ausführungen zu 1. wird Bezug genommen.
Die wirtschaftlichen Folgen der aufgrund des Angriffskrieges in der Ukraine gegen die Russische Föderation verhängten Sanktionen führen ebenfalls nicht zu dem Schluss, dass den Klägern die Sicherung ihres existenziellen Lebensunterhalts unmöglich wäre. Hierfür fehlt es unter Berücksichtigung der allgemeinen wirtschaftlichen Lage in der Russischen Föderation und der Lage der Kläger an hinreichenden Anhaltspunkten.
3. Auch die Verpflichtung des Bundesamtes, ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG festzustellen, scheidet aus.
Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 04. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist; nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht.
Die Voraussetzungen dieser Anspruchsgrundlagen liegen aus den vorstehenden Gründen nicht vor.
4. Die Abschiebungsandrohung findet ihre Rechtsgrundlage in § 34 Abs. 1 S. 1 AsylG, § 59 Abs. 1 S. 1 AufenthG. Die Ausreisefrist von 30 Tagen ergibt sich aus § 38 Abs. 1 AsylG.
III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO und § 83b AsylG.
Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit des Urteils hinsichtlich der Kosten beruht auf § 167 Abs. 1 S. 1 und Abs. 2 VwGO i. V. m. § 708 Nr. 11, § 709 S. 1 und 2 und § 711 S. 1 und 2 der Zivilprozessordnung (ZPO).