Gericht | VG Cottbus 7. Kammer | Entscheidungsdatum | 11.08.2022 | |
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Aktenzeichen | 7 K 2787/17.A | ECLI | ECLI:DE:VGCOTTB:2022:0811.7K2787.17.A.00 | |
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 28 Abs 1a AsylVfG 1992, § 4 AsylVfG 1992, § 3 AsylVfG 1992, § 3a AsylVfG 1992 |
Die Beklagte wird unter Aufhebung der Nummern 1, 3, 4, 5 und 6 des Bescheides des B... vom 26. Oktober 2017 verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden, tragen der Kläger zu ¼ und die Beklagte zu ¾,
Der nicht zur Person ausgewiesene Kläger, nach eigenen Angaben ein am 28. März 1978 geborener russischer Staatsangehöriger, reiste seinem Vorbringen zufolge 25. August 2015 aus der Republik Polen kommend und letztmalig am 11. Oktober 2015 von Griechenland aus in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 5. Februar 2016 einen Asylantrag.
In seiner persönlichen Anhörung vor dem Bundesamt am 9. Juni 2016 führte der Kläger, der zuvor eine schriftliche Stellungnahme zu seinem Verfolgungsschicksal eingereicht hatte, im Wesentlichen aus: Seine Personalpapiere seien ihm im Oktober in Berlin gestohlen worden. Er sei am 22. oder 23. August 2015 mit dem Pkw aus Moskau, wo er registriert gewesen sei und gewohnt habe, nach Minsk gefahren. Von dort sei er nach Warschau geflogen, anschließend mit dem Zug nach Berlin gefahren und am 25. August 2015 eingereist. Letztmalig sei er am 11. Oktober 2015 aus Griechenland, wo er sich aufgehalten, aber keinen Asylantrag gestellt habe, nach Deutschland eingereist. In Russland lebten außer seiner Mutter nur noch entfernte Verwandte.
1983 habe er die elfte Klasse abgeschlossen. Er sei vom 1. Juli 2011 bis zu seiner selbst vom Ausland aus eingereichten Kündigung am 20. September 2015 als aufsichtführender Direktor einer GmbH „Unterstützung“ tätig gewesen, die zwei Handelsplätze und das Recht zur Marktplatzvergabe gegen Bezahlung innegehabt habe. Seine wirtschaftliche Lage in Russland sei gut gewesen; die Ausreise habe er aus Ersparnissen finanziert. Wehrdienst habe er nicht geleistet.
Er habe freiwillig bei der Kommission der gesellschaftlichen Kontrolle des Moskau-Gebietes gearbeitet, wie sein Mitgliedsausweis zeige. Diese Organisation habe jederzeit und ohne Vorankündigung die Zustände in Gefängnissen und bei der Polizei kontrollieren dürfen.
Von zwei Kollegen in der Menschenrechtsorganisation habe er, nachdem diese das Gefängnis Nr. 2 in Moskau besucht hätten, von einer schriftlichen und mündlichen Beschwerde der beiden Brüder O...erfahren, die nach ihrer Verhaftung von der Polizei und den Ermittlungsbehörden im Zusammenhang mit der Ermordung eines Rechtsanwalts aufgefordert worden seien, fälschlicherweise auszusagen, dass er – der Kläger – sie mit der Beobachtung dieses Rechtsanwalts beauftragt habe. Nach ihrer Darstellung seien sie wegen des untergeschobenen Fundes von 80 g Haschisch verhaftet und in Untersuchungshaft verbracht worden. Daraufhin habe er wegen dieses Vorgehens bei der Generalstaatsanwaltschaft, dem Ermittlungskomitee und dem russischen Geheimdienst Anzeige gestellt und ein Ermittlungsverfahren beantragt; dieses Schreiben habe er auf der Internetseite der Organisation g... online gestellt, wie die von ihm vorgelegte Kopie der Seite belege. Am 15. August 2015 habe er eine Droh-E-Mail bekommen, die er in Kopie vorlege. In dieser habe gestanden, dass sich auf Wunsch der Leitung die Polizei nach der Weigerung der Brüder O...andere Leute finden würden, die gegen ihn aussagen würden. Er sei beunruhigt gewesen. Am 15 September 2015 seien die Brüder O...unter der Auflage, Russland nicht zu verlassen, aus der Haft entlassen worden; die Strafanzeige wegen Drogenbesitzes sei aber aufrechterhalten worden. Daraufhin habe er erneut Beschwerde erhoben. Im Dezember 2015 oder Januar 2016 habe er per E-Mail erfahren, dass auch gegen ihn wegen des Besitzes unerlaubter Betäubungsmittel ermittelt werde, und er sei beschuldigt worden, im Juli 2015 gleichfalls in Untersuchungshaft gewesen zu sein, obwohl er vom 9. bis 22. Juli 2015 in Spanien im Urlaub gewesen sei. Das Original dieses Schreibens, das er vorlege, habe er im Mai 2016 von einem seiner Kollegen in Berlin erhalten. Das Verfahren gegen ihn sei nicht abgeschlossen. Am 9. September 2015 habe er durch das Internet erfahren, dass beim Geschäftsführer seiner Organisation, V..., der zwischenzeitlich in Frankreich internationalen Schutz erhalten habe, bei dem Koordinator der Organisation und Kommissionsleiter für Resozialisierungsfragen, der später zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt worden sei, sowie bei einem Journalisten Durchsuchungen durchgeführt worden seien. Am 17. September 2015 sei ein weiterer Kollege verhaftet worden. Er habe begriffen, dass die Sicherheitsbehörden ernsthaft gegen die Menschenrechtsorganisation vorgehen wollten. Er könne nicht nach Russland zurückkehren, weil er Blogger und Menschenrechtler sei. Ihn erwarte das Gefängnis und darin der Tod, da er die dortigen Zustände kontrolliert und darüber in TV-Sendungen berichtet habe.
Weil er Polizeikorruption aufgezeigt und dokumentiert habe, seien ihm bereits 2011 zwei Patronen untergeschoben worden, weswegen er für 13 Tage im Gefängnis gewesen sei. Nach seiner Entlassung aufgrund des öffentlichen Interesses habe er eine Entschuldigung der Behörden und 1000 € erhalten. Er habe als Menschenrechtlicher mit seinen Kollegen über Missstände in den Gefängnissen berichtet, was Grundlage für kritische Artikel von Journalisten gewesen sei und den Behörden nicht gefallen habe. Da die Sicherheitsbehörden ihn überall in Russland finden würden, könne er nicht an einem anderen Ort Schutz finden.
Im Dezember 2015 habe er von seiner Mutter, die die Schreiben per E-Mail weitergeleitet habe, für Termine im November 2015 Vorladungen zur Vernehmung als Zeuge durch die Polizei erhalten. Da er diesen nicht nachgekommen sei, stehe er auf der Liste der gesuchten Personen, wie er Ende März 2016 über eine Anfrage im Internet, erfahren habe. Er gehe von einem konstruierten Vorgang aus, um ihn durch erzwungene Falschaussagen und darauf beruhende Strafverfolgung sowie Verurteilung zu einer langen Gefängnisstrafe dazu zu bringen, seine Tätigkeit als Menschenrechtler und Blogger beenden zu müssen.
Mit Bescheid vom 26. Oktober 2017 lehnte das Bundesamt den Antrag auf Zuerkennung des Flüchtlingsstatus (Nummer 1), den Antrag auf Asylanerkennung (Nummer 2) und den Antrag auf subsidiären Schutz (Nummer 3) ab und stellte zudem fest, dass keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen (Nummer 4). Ferner forderte es den Kläger auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe des Bescheides zu verlassen; im Fall einer Klageerhebung 30 Tage nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens. Für den Fall der Nichteinhaltung der Ausreisefrist drohte es die Abschiebung in die Russische Föderation an (Nummer 5). Ferner befristete das Bundesamt das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Nummer 6).
Am 14. November 2017 hat der Kläger Klage erhoben, zu deren Begründung er im Wesentlichen vorträgt: Er sei als Menschenrechtler in einer Gefängniskommission und als regimekritische Blogger aktiv gewesen und als solcher wegen der geäußerten Kritik verfolgt worden, wie die von ihm vorgelegte Stellungnahme der anerkannten und mit Preisen ausgezeichneten Menschenrechtlerin S... (Leiterin der Organisation „Bürger-Unterstützung“, Vorstandsmitglied bei Memorial) vom 1. Dezember 2017 und die des Gründers und Leiters des Internetprojektes gegen Folter und Korruption G..., V..., vom 19. Januar 2018 sowie die weiteren staatlichen Dokumente zur Einleitung eines gegen ihn gerichteten Strafverfahrens wegen des konstruierten Verdachts der Vorbereitung zum Mord an einem Deputierten, zur Zurückweisung der Beschwerde gegen die Eröffnung des Strafverfahrens wegen dieses Vorwurfs und zur Zurückweisung der Beschwerde gegen die Ausschreibung zur Fahndung belegten. Das Bundesamt habe sich in dem Bescheid mit dem detaillierten Vortrag nicht ausreichend auseinandergesetzt. Er habe das Land aus Verfolgungsfurcht über einen nicht kontrollierten Grenzübergang Richtung Weißrussland verlassen; Anlass dazu habe ihm erst die Verhaftung der Brüder O... gegeben. Die eingeholte Auskunft des Auswärtigen Amtes habe seine Angaben sowie die Echtheit der eingereichten Dokumente bestätigt; die dort getroffene Aussage, er sei als „Neffe“ eines Bandenmitglieds aufgetreten, sei auf einen einzigen fabrizierten Presseartikel zurückzuführen. Seine Integrität werde auch durch das Schreiben des Vorsitzenden des Komitees für Bürgerrechte, Mitglied des Menschenrechtsrates beim Präsidenten der Russischen Föderation A... vom 27. November 2019 bestätigt. Durch ein 2021 veröffentlichtes Video, dass Folter und Misshandlungen in russischen Gefängnissen in einem bisher nicht bekannten Ausmaß belegten, sei seine Gefährdung aufgrund seiner für diese nunmehr weithin bekannt gewordene Organisation weiter gestiegen. Er sei in Deutschland weiterhin exilpolitisch aktiv, nämlich auf Social Media sowie durch die Teilnahme an Aktionen und Demonstrationen. Er habe das russische Regime und Putin immer wieder öffentlich kritisiert, gerade auch im Hinblick auf den aktuell von Russland gegen die Ukraine geführten Krieg, wie die eingereichten Posts und geteilten Beiträge von seiner Facebook-Seite belegten. Die entsprechenden Antikriegsäußerungen seien in Russland aufgrund des neuen Mediengesetzes (Fake News-Gesetz) strafbar.
Der Kläger beantragt schriftsätzlich,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 26. Oktober 2017 zu verpflichten festzustellen,
dass er als Asylberechtigter anzuerkennen ist und die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz vorliegen
hilfsweise,
dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus gemäß § 4 Abs. 1 Asylgesetz vorliegen,
hilfsweise,
dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Aufenthaltsgesetz vorliegen.
Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung bezieht sie sich auf die Ausführungen in dem angefochtenen Bescheid des Bundesamtes.
Auf Anfrage des Gerichts vom 17. Juni 2019 hat das Auswärtige Amt mit Schreiben vom 14. November 2019 mitgeteilt, dass nach seinen Erkenntnissen der Kläger Mitglied der „Beobachtungskommission für Gefängnisse“ bzw. der „Kommission für gesellschaftliche Kontrolle des Gebietes Moskau“ gewesen sei. Ferner habe dieser laut Presseberichten wegen bei einer Hausdurchsuchung gefundener Patronen vom 13. bis 25. Oktober 2011 12 Tage in Untersuchungshaft verbracht, sei anschließend durch Gerichtsbeschluss freigesprochen und aus der Haft entlassen worden sei. Der Kläger habe sich seit 2011 bzw. 2012 (www....) als regimekritischer Blogger positioniert und dort regelmäßig regimekritische Beiträge veröffentlicht. Im Hinblick auf die von ihm selbst in den Beiträgen öffentlich gemachten Ermittlungsverfahren aus den Jahren 2015/16 sei wegen seiner Tätigkeit ein politischer Hintergrund nicht ausgeschlossen. Im Dezember 2014 sei das Gebäude der zuvor genannten Kommissionen durchsucht worden. Recherchen hätten ergeben, dass der Kläger in kriminellen Strukturen als „Neffe“ eines bekannten Bandenmitglieds bekannt sei. Auf seinen Antrag hin sei ein gegen ihn gerichtetes Fahndungsersuchen vom russischen Innenministerium am 10. April 2017 aufgehoben worden; den entsprechenden Brief habe der Kläger, dessen Aufenthalt in Deutschland sich aus den unter Angabe einer Berliner Anschrift veröffentlichen Fotos und Beiträgen unproblematisch erkennen lasse, ins Internet gestellt. Eine Person mit den Personalien des Klägers sei in Russland nach wie vor zur nationalen Fahndung ausgeschrieben. Die vom Kläger vorgelegten russischen Dokumente seien echt. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte (Bl. 142 – 147 R) verwiesen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes sowie des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Bundesamtes (1 Hefter) Bezug genommen, der zusammen mit den ins Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln Gegenstand der Entscheidungsfindung war.
Der Rechtsstreit war aufgrund des Übertragungsbeschlusses der Kammer vom 18. Juli 2022 durch den Berichterstatter als Einzelrichter zu entscheiden (vgl. § 76 Abs. 1 des Asylgesetzes – AsylG –). Gemäß § 84 Abs. 1 Satz 1 der Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – kann über die Klage zudem ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden werden, weil die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Die Beteiligten wurden zuvor gehört.
Die zulässige Klage hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter nach Art. 16a des Grundgesetzes – GG – (dazu I.). Er hat aber nach Aktenlage aufgrund der Gesamtumstände des vorliegenden Falles einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG (dazu II). Soweit er dem entgegensteht, ist der angefochtene Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 26. Oktober 2017 zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. § 84 Abs. 1 Satz 3 VwGO, § 77 Abs. 1 AsylG analog) rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Die weiteren in dem Bescheid getroffenen Entscheidungen sind daher gleichfalls aufzuheben (dazu III.).
I. Ein Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter gemäß Art. 16a GG scheidet schon deshalb aus, weil der Kläger nach seinen eigenen Angaben auf dem Landweg über die Republik Polen bzw. aus Griechenland und damit jeweils aus einem sicheren Drittstaat im Sinne von § 26a AsylG, Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG in die Bundesrepublik Deutschland eingereist ist.
II. Der auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gerichtete Antrag der Kläger hat Erfolg. Im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) liegen zur Überzeugung des Gerichts (§ 108 Abs. 1 VwGO) nach Lage der Akten die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft vor.
Nach § 3 Abs. 4 1. Halbsatz AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 der Vorschrift ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560) ist nach § 3 Abs. 1 AsylG ein Ausländer, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.
Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten nach § 3a AsylG Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II Seite 685, 953) keine Abweichung zulässig ist. Gleiches gilt nach § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG für eine Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, die so gravierend sind, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist. Als Verfolgung können namentlich die unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung gelten, § 3a Abs. 2 Nr. 3 AsylG.
Zwischen den nach § 3a AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen (sog. Verfolgungshandlungen) und den in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Merkmalen muss nach § 3a Abs. 3 AsylG eine Verknüpfung bestehen. Die Verfolgung muss stattfinden, weil der Verfolger dem Ausländer das in Rede stehende Merkmal zuschreibt, z.B. eine bestimmte politische Überzeugung. Ist dies der Fall, kommt es weder darauf an, ob der Betroffene die ihm zugeschriebene Überzeugung tatsächlich aufweist (§ 3b Abs. 2 AsylG) noch ob er aufgrund dieser tatsächlich tätig geworden ist (§ 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG). Ob eine Verfolgungshandlung in diesem Sinne „wegen“ eines flüchtlingsrelevanten Merkmals erfolgt, ist nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung anhand des inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den – ohnehin kaum feststellbaren – subjektiven Vorstellungen und Motiven, die den Verfolgenden oder die für ihn handelnden Personen leiten (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 3. Juli 1996 - 2 BvR 1957/94 -, juris Rn. 18). Entscheidend ist mithin, wie sich die Verfolgungshandlung nach dem „objektiven Empfängerhorizont“ darstellt.
Eine „begründete Furcht“ vor Verfolgung der vorstehend beschriebenen Art liegt vor, wenn dem antragstellenden Ausländer politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Dies ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts anhand einer Verfolgungsprognose zu beurteilen, die die Wahrscheinlichkeit zukünftiger Geschehensabläufe bei einer hypothetisch unterstellten Rückkehr des Schutzsuchenden in seinen Heimatstaat zum Gegenstand hat. Beachtlich wahrscheinlich ist eine Verfolgung danach, wenn bei der im Rahmen dieser Prognose vorzunehmenden „zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts“ die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Insofern ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung geboten, bei der letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit maßgebend ist. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Ausländers Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Eine in diesem Sinne wohlbegründete Furcht vor einem Ereignis kann auch dann vorliegen, wenn aufgrund einer quantitativen oder mathematischen Betrachtungsweise weniger als 50 % Wahrscheinlichkeit für dessen Eintritt besteht. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben allerdings die Gesamtumstände des Einzelfalls die „tatsächliche Gefahr“ („real risk“) einer politischen Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Er wird bei der Abwägung aller Umstände zudem auch immer die Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in die Betrachtung mit einstellen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, macht es aus Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen erheblichen Unterschied, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber schwere Misshandlungen bzw. Folter oder gar die Todesstrafe riskiert (vgl. zum Vorstehenden: Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 5. November 1991 - BVerwG 9 C 118.90 -, juris Rn. 17; EuGH-Vorlage vom 7. Februar 2008 - BVerwG 10 C 33.07 -, juris Rn. 37).
Die begründete Furcht vor Verfolgung kann dabei sowohl auf tatsächlich erlittener oder unmittelbar drohender Verfolgung bereits vor der Ausreise im Herkunftsstaat (sog. Vorverfolgung) als auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat (sog. Nachfluchtgründe). Für Vorverfolgte gilt innerhalb des auch insoweit anzuwenden Maßstabes der beachtlichen Wahrscheinlichkeit eine Beweiserleichterung. Denn nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Qualifikationsrichtlinie) ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder unmittelbar von Verfolgung bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist. In diesen Fällen streitet also die tatsächliche Vermutung dafür, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Diese Vermutung kann allerdings widerlegt werden, wenn stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit der Verfolgung entkräften (vgl. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 27. April 2010 - BVerwG 10 C 5.09 -, juris Rn. 22 ff.).
Soweit Nachfluchtgründe geltend gemacht werden, kann nach § 28 Abs. 1a AsylG die begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 zu erleiden, auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist.
Gemessen an diesen Vorgaben hat der Kläger wegen seiner Internet- und Menschenrechtsaktivitäten sein Heimatland vorverfolgt verlassen. Ihm drohte schon zum Zeitpunkt der gegen Ende August 2015 erfolgten Ausreise unter den seinerzeit in der Russischen Föderation geltenden Strafgesetzen eine Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a AsylG. Seine Tätigkeit als Mitglied der „Beobachtungskommission für Gefängnisse“ bzw. der „Kommission für gesellschaftliche Kontrolle des Gebietes Moskau“ wird nicht nur die dazu von ihm vorgelegten Schreiben und Unterlagen verschiedener Institutionen und Persönlichkeiten belegt, deren Echtheit hinsichtlich der russischen Dokumente das Auswärtige Amt in seiner Auskunft vom 14. November 2019 bestätigt hat, sondern auch durch das Auswärtige Amt selbst. In dessen Auskunft wird auch bestätigt, dass sich Kläger seit 2011 bzw. 2012 auf der Internetseite „www.g...“ als regimekritischer Blogger positioniert und dort regelmäßig regimekritische Beiträge veröffentlicht hat.
Der Kläger ist auch aus begründeter Furcht vor Verfolgung ausgereist. Die gesamten Umstände im Sommer 2015 waren geeignet, bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Klägers Furcht vor Verfolgung hervorzurufen. Denn ihm war bekannt geworden, dass bereits inhaftierte Dritte unter Druck gesetzt worden waren, ihn mit Falschaussagen zu belasten. Daraus sowie aus der nachfolgend zugesandten Droh-E-Mail konnte er nur den Schluss ziehen, dass er nunmehr derart in das Blickfeld der Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden geraten war, dass er mit weitergehenden einschneidenden Maßnahmen wie etwa seiner Inhaftierung und somit ihm landesweit drohender Verfolgung rechnen musste. Das gilt umso mehr, weil er nach den auch vom Auswärtigen Amt recherchierten Presseberichten bereits im Jahr 2011 für 12 Tage unter einer falschen Anschuldigung inhaftiert war, auch wenn er – unter den seinerzeit noch geltenden rechtlichen und politischen Umständen – im Anschluss durch (im Internet abrufbaren) Gerichtsbeschluss freigesprochen wurde und nach eigenen Angaben ein Entschuldigungsschreiben sowie eine finanzielle Entschädigung erhalten hat.
Die nachfolgenden Ereignisse bestätigen nur die Richtigkeit der seinerzeitigen Lageeinschätzung des Klägers und seiner diesbezüglichen Angaben. Auch das Auswärtige Amt hält im Hinblick auf die vom Kläger selbst in seinen Beiträgen öffentlich gemachten nachfolgenden Ermittlungsverfahren wegen Erwerb, Besitz, Verbreitung, Herstellung und Weiterverarbeitung von Drogen sowie Beteiligung an einem Mordanschlag aus den Jahren 2015/16 (die Echtheit der insoweit vorgelegten russischen Dokumente hat es gleichfalls nicht in Zweifel gezogen) im Hinblick auf seine regimekritischen Tätigkeiten einen politischen Hintergrund nicht für ausgeschlossen. Ferner hat das Auswärtige Amt ausdrücklich bestätigt, dass eine Person mit den Personalien des Klägers in Russland nach wie vor zur nationalen Fahndung ausgeschrieben sei, auch wenn das russische Innenministerium ein gegen ihn gerichtetes Fahndungsersuchen mit Schreiben vom 10. April 2017 aufgehoben habe. Daraus ergibt sich, dass die russischen Ermittlungs- und Strafverfolgungsbehörden immer noch ein Interesse daran haben, des Klägers habhaft zu werden.
Dem stehen entgegen der vom Bundesamt in dem Bescheid geäußerten Auffassung seine Angaben zur Ausreise nicht entgegen. Der Kläger hat ausgeführt, dass er dafür sein noch gültiges Schengen-Visum aus Furcht nicht habe nutzen können und mit dem Pkw über Weißrussland nach Polen gefahren sei, weil dort keine Kontrollen durchgeführt worden seien. Der vom Auswärtigen Amt in seiner Auskunft angerführte Umstand, dass er in kriminellen Strukturen als „Neffe“ eines bekannten Bandenmitglieds bekannt sei, ist – selbst wenn der ein entsprechendes Verwandtschaftsverhältnis tatsächlich bestehen und der entsprechende Artikel aus dem Internet nicht, wie vom Kläger angegeben, fabriziert sein sollte – für die hier zu treffende asylrechtliche Beurteilung irrelevant.
Der Kläger kann sich zudem mit Erfolg auf Nachfluchtgründe im Sinne des § 28 Abs. 1a AsylG in Verbindung mit § 3 Abs. 1 AsylG berufen. Er ist – wie den Ermittlungsbehörden in Russland bekannt ist – Mitglied der die Intenetseite g... betreibenden Menschenrechtsorganisation, die auch nach seiner Ausreise kritische Berichte zu den Verhältnissen in russischen Haftanstalten veröffentlich hat. Insbesondere die Veröffentlichung einer Vielzahl herausgeschmuggelter Videos Anfang Oktober 2021, die Folter und Misshandlungen in russischen Gefängnissen in einem bisher nicht gekannten Ausmaß offenlegten, hat weltweit für Aufsehen sowie ein entsprechend negatives Medienecho, auch in Deutschland, gesorgt und war geeignet, das internationale Ansehen Russlands zu schmälern. Es ist naheliegend, dass sich infolge dessen der Bekanntheitsgrad der Organisation „g...“ innerhalb und außerhalb Russlands wesentlich erhöht hat. Derartige kritische Nichtregierungsorganisationen (non-governmental organizations) sind in den letzten Jahren aufgrund der geänderten Gesetzeslage zunehmend mit Einschränkungen und Repression konfrontiert; die gerichtliche Entscheidung, die Organisation „Memorial“ aufzulösen, nachdem zuvor bereits einschneidende finanzielle Sanktionen verhängt worden waren, ist dafür ein besonders prominentes Beispiel (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich – im Folgenden: BfA –, Länderinformation der Staatendokumentation Russische Föderation aus dem COI-CMS vom 10. März 2022, Version 6, S. 31 ff.)
Er hat ferner im gerichtlichen Verfahren durch Vorlage von Auszügen aus seinen Veröffentlichungen in sozialen Medien (Facebook-Account) glaubhaft gemacht, dass er sich weiter im Internet kritisch mit der russischen Politik auseinandersetzt, etwa zu den Haftbedingungen des bekannten Oppositionellen Alexej Nawalny. Ferner äußert er sich dort nunmehr seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine im Februar 2022 in russischer Sprache ablehnend zur russischen Invasion der Ukraine und zur Tötung von Ukrainern. Er teilt dort auch weiterhin Beiträge von g... und dem Vorsitzenden dieser Organisation, V..., in denen es u. a. um die Forderung nach der Einhaltung der Menschrechte geht.
Diese Aktivitäten stellen sich in der gebotenen Weise als Fortentwicklung der bereits in seinem Heimatland ausgeübten politischen Aktivitäten des Klägers dar, wo dieser sich – wie bereits ausgeführt – zu verschiedenen innenpolitisch relevanten Themen bereits regimekritisch geäußert hat. Dass die Veröffentlichungen auf Russisch erfolgen, legt nahe, dass der Kläger seine Leserinnen und Leser in der Mehrheit in der Russischen Föderation und der Ukraine vermutet. Dem Kläger ist es auch nicht zuzumuten, im Fall der Rückkehr in die Russische Föderation seine Aktivitäten einzustellen. Dass er nicht unter dem Eindruck des Asylverfahrens und zur Schaffung von Nachfluchtgründen in den sozialen Medien veröffentlicht, ergibt sich aus der Konstanz seiner regimekritischen Aktivitäten als Kommissionsmitglied und Blogger seit 2011/12 über etliche Jahre, die seine andauernde regimekritische politische Haltung nachvollziehbar machen.
Allein aufgrund dieser öffentlichkeitswirksamen Aktivitäten wäre der Kläger, der nach seinen glaubhaften und von der Auskunft des Auswärtigen Amtes gestützten Angabe bereits vor seiner Ausreise den russischen Ermittlungsbehörden schon als Regimekritiker und Menschenrechtler bekannt geworden ist und der laut der Auskunft des Auswärtigen Amtes nach wie vor landesweit zur Fahndung ausgeschrieben ist, im Fall seiner Rückkehr in die Russische Föderation selbst bei einer insoweit unterstellten Verneinung von Vorfluchtgründen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung durch staatliche Akteure ausgesetzt, ohne dass eine interne Fluchtalternative bestünde. Das ergibt sich aus den Erkenntnismitteln zur Strafverfolgung von Menschenrechts- und Internetaktivisten wie dem Kläger. Zwar sind Meinungs- und Pressefreiheit wie Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit in der Russischen Föderation verfassungsrechtlich garantiert, werden aber durch ein „ständig dichter werdendes Netz einschränkender und bestrafender Vorschriften“ beschränkt (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 21.05.2021, Stand: Oktober 2020, S. 6; BfA, Länderinformation der Staatendokumentation Russische Föderation aus dem COI-CMS vom 10. März 2022, Version 6, S. 31 ff.). Für den Einzelnen ist nicht absehbar, ob er aufgrund einzelner Äußerungen oder Handlungen damit rechnen muss, strafrechtlich belangt zu werden (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 21.05.2021, Stand: Oktober 2020, S. 6.). Zu den Straftatbeständen, auf die die Behörden zurückgreifen, zählen der Straftatbestand des Schürens von Hass und Feindseligkeit gegen bestimmte Gruppen (Art. 282 Strafgesetzbuch), außerdem das Extremismusgesetz (Gesetz Nr. 114) oder der Straftatbestand der Verleumdung. Ein im März 2019 in Kraft getretenes Gesetz sieht für die online getätigte Herabwürdigung der Gesellschaft, des Staats, seiner Verfassung, Symbole oder Organe eine Administrativstrafe von bis zu 100.000 Rubel oder 15 Tagen Arrest vor (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 21.05.2021, Stand: Oktober 2020, S. 6).
Mit dem Beginn des Angriffskriegs auf die Ukraine wurde das Strafrecht weiter deutlich verschärft. Am 04. März 2022 wurden das Ordnungswidrigkeitengesetz und das Strafgesetzbuch um Vorschriften ergänzt, nach denen die Verbreitung von falschen Informationen über russische Militäreinsätze und die Herabwürdigung der russischen Armee mit Geldbußen von bis zu 1,5 Mio. Rubel oder einer Gefängnisstrafe von bis zu 15 Jahren geahndet werden. Nach Berichten von Menschenrechtsorganisationen wurden in wenigen Tagen nach Inkrafttreten der Vorschriften 140 Personen verhaftet. Am 22. März 2022 wurde die „Fake news“-Gesetzgebung noch weiter verschärft. Schon die besonders hohen Strafandrohungen stellen für sich genommen bereits eine unverhältnismäßige Bestrafung im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 3 AsylG und damit eine Verfolgungshandlung dar (vgl. zum Vorstehenden: VG Göttingen, Urteil vom 17. Juni 2022 - 1 A 14/22 -, juris Rn. 27 m. w. N.). Dazu treten beachtliche Einschränkungen im gerichtlichen Strafverfahren hinsichtlich der Einhaltung des Grundsatzes des fairen Verfahrens (vgl. United States Department of State, Russia 2020 Human Rights Report, S. 15 ff.) sowie die Haftbedingungen in russischen Gefängnissen als weitere Aspekte, die zu einer unverhältnismäßigen Strafverfolgung und Bestrafung führen. Verurteilte Straftäter werden entweder in sogenannten Ansiedlungskolonien, Erziehungskolonien, Besserungsheileinrichtungen, Strafkolonien oder in einem Gefängnis untergebracht. Die Verhältnisse sind unterschiedlich. Jedenfalls in Gefängnissen sind die Haftbedingungen unmenschlich und entwürdigend (vgl. Auswärtiges Amts, a.a.O., S. 17 f.). Sie sind von Überfüllung, Übergriffen durch Wärter und andere Insassen, beschränktem Zugang zu gesundheitlicher Versorgung, Mangel an Essen und unzureichenden hygienischen Bedingungen geprägt (vgl. United States Department of State, a.a.O., S. 10 ff.). Insbesondere politische Gefangene, die u.a. wegen „Terrorismus“, „Extremismus“, „Separatismus“ oder Spionage verurteilt worden sind, werden besonders harten Haftbedingungen unterworfen, zu denen auch Einzelhaft oder die Unterbringung in psychiatrischen Abteilungen gehören (vgl. United States Department of State, a.a.O., S. 17).
III. 1. Ist nach den vorstehenden Ausführungen dem Kläger daher die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, kann weder die diesbezügliche Ablehnung des Antrags noch die Ablehnung des nachrangigen subsidiären Schutzes noch die Ablehnung der Feststellung von Abschiebungsverboten in dem angefochtenen Bescheid Bestand haben.
Das Gleiche gilt für die Abschiebungsandrohung. Eine Abschiebungsandrohung setzt gem. § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AsylG unter anderem voraus, dass dem Ausländer nicht die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird, was aber vorliegend gerade der Fall ist.
Aufzuheben ist schließlich auch das in Ziffer 6 des Bescheides verhängte Einreise- und Aufenthaltsverbot des § 11 Abs. 1 AufenthG.
IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i. V .m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.