Gericht | VG Cottbus 1. Kammer | Entscheidungsdatum | 31.08.2022 | |
---|---|---|---|---|
Aktenzeichen | 1 K 1228/19.A | ECLI | ECLI:DE:VGCOTTB:2022:0831.1K1228.19.A.00 | |
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 71 AsylVfG 1992, § 77 AsylVfG 1992, § 3 AsylVfG 1992, § 3a AsylVfG 1992, § 3e AsylVfG 1992 |
Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 16. September 2019 wird in Ziffer 1. aufgehoben, soweit über den Asylfolgeantrag der Kläger zu 1., 3. und 4. entschieden wurde. Die Klage der Klägerin zu 2. und der Kläger zu 5. – 9. wird abgewiesen.
Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Kläger zu 1., 3. und 4.; die Kläger zu 2. und 5. - 9. tragen die außergerichtlichen der Beklagten zu 2/3. Im Übrigen tragen die Beteiligten ihre außergerichtlichen Kosten selbst. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Das Urteil ist für den jeweiligen Kostengläubiger hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 vom Hundert des vollstreckbaren Betrags abwenden, soweit nicht der jeweilige Kostengläubiger zuvor Sicherheit in Höhe von 110 vom Hundert des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Kläger sind russische Staatsangehörige tschetschenischer Volkszugehörigkeit.
Der Kläger zu 1. (nachfolgend: der Kläger), seine Ehefrau, die Klägerin zu 2. und ihre Kinder – die Kläger zu 3. bis 9. –, reisten im April 2016 in die Bundesrepublik Deutschland ein und beantragten bei dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) ihre Anerkennung als Asylberechtigte (Az.: 6...).
In der Anhörung vom 13. September 2016 erklärten die Eheleute im Wesentlichen, der Cousin des Klägers zu 1. habe im August 2015 im Verlauf einer Feier zwei Menschen getötet. Sie befürchteten eine Blutrache durch Verwandte der Opfer.
Das Bundesamt lehnte es mit Bescheid vom 23. November 2016 im Wesentlichen ab, die Flüchtlingseigenschaft oder den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen, versagte die Asylanerkennung (dort Ziffer 1. bis 3.), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 S. 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) nicht vorlägen (Ziffer 4.) und forderte die Kläger unter Androhung ihrer Abschiebung im Wesentlichen in die Russische Föderation auf, die Bundesrepublik Deutschland binnen der bezeichneten Frist zu verlassen (Ziffer 5.). Zur Begründung heißt es sinngemäß, die Kläger hätten nicht geltend machen können, in individuellen Rechten betroffen zu sein und die russischen Sicherheitsbehörden gewährten Schutz vor einer Blutrache. Zudem stehe den Klägern in anderen Teilen der Russische Föderation außerhalb Tschetscheniens eine inländische Fluchtalternative offen.
Zur Begründung ihrer Klage vom 22. Dezember 2016 (V...) ließen die Kläger im Wesentlichen unter Vorlage entsprechender Unterlagen vortragen, gegen den Cousin des Klägers A...sei am 09. September 2015 ein Strafverfahren eingeleitet worden und nach dem Kläger werde gefahndet; dieser befinde sich „aufgrund des Erlebten“ in ärztlicher Behandlung, er habe eine Angstdepression und eine Anpassungsstörung erlitten. Die Einzelrichterin holte eine amtliche Auskunft des Auswärtigen Amtes ein, das unter dem 29. Mai 2019 (5...) mitteilte, die von den Klägern eingereichten Unterlagen seien Fälschungen, es werde weder nach dem Kläger noch nach dessen Verwandten gefahndet. In der mündlichen Verhandlung vom 12. August 2019 nahmen die Kläger die Klage zurück.
Im September 2019 beantragten die Kläger bei der Außenstelle des Bundesamtes in Eisenhüttenstadt die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens.
Zur Begründung beriefen sie sich schriftlich darauf, sie hätten zwar „leider keine neuen Gründe“, die Situation habe sich „aber verschlechtert“ und sie hätten Angst um ihre Kinder.
Das Bundesamt lehnte den Antrag mit Bescheid vom 16. September 2019 als unzulässig ab (Ziffer 1.) und versagte es, den Bescheid vom 23. November 2016 zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG zu ändern (Ziffer 2.).
Die Kläger hätten eine Änderung der Sachlage nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG) nicht glaubhaft gemacht und es lägen auch keine Gründe vor, die eine Abänderung der Entscheidung zu § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG ungeachtet der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG rechtfertigen könnten.
Die Kläger haben am 26. September 2019 Klage erhoben, zu deren Begründung sie ergänzend schriftlich geltend machen, die Klägerin zu 2. sei im Februar 2015 ungewollt Zeugin eines Verbrechens im Wald geworden und sie werde deshalb bedroht. Das habe sie bisher weder in der Anhörung noch gegenüber ihrem Ehemann erwähnt, weil eine Frau „nach den für sie geltenden Gesetzes nicht allein in den Wald gehen“ dürfe. Sie befänden sich „in ärztlicher Behandlung“, für die Klägerin sei ein Posttraumatisches Belastungssyndrom diagnostiziert worden.
In der mündlichen Verhandlung vom 31. August 2022 haben sich die Kläger zu 1., 3. und 4. des Weiteren darauf berufen, sie müssten im Fall ihrer Rückkehr in die Russische Föderation damit rechnen, zum Militär eingezogen und in dem völkerrechtswidrigen Krieg in der Ukraine eingesetzt zu werden.
Die Kläger beantragen,
den Bescheid des Bundesamtes vom 16. September 2019 aufzuheben,
hilfsweise,
die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides vom 16. September 2019 zu verpflichten, Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG festzustellen.
Die Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,
die Klage abzuweisen.
Das Bundesamt ist der Auffassung, die Klägerin zu 2. habe die im Klageverfahren dargelegte neue Verfolgungsgeschichte nach § 51 Abs. 2 VwVfG bereits in dem Asylerstverfahren geltend machen können; im Übrigen überzeugten ihre Angaben nicht.
Die Kammer hat den Rechtsstreit nach Anhörung der Beteiligten mit Beschluss vom 18. Januar 2022 dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten des vorliegenden Verfahrens und der beendeten Verfahren sowie auf die Verwaltungsvorgänge des Bundesamtes und der Ausländerbehörde Bezug genommen. Diese Unterlagen waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
I. Das Gericht hat das Rubrum des Verfahrens in Übereinstimmung mit der Verfahrensweise in den beendeten Verfahren V... und V... von Amts wegen insoweit berichtigt, als es die in der Klageschrift nicht namentlich bezeichnete minderjährige K... als Klägerin zu 6. aufgenommen hat.
Die Klageschriften der vormaligen Prozessbevollmächtigten der Klägerin den beendeten Verfahren und in dem vorliegenden Verfahren verdeutlichen schon durch ihre fehlerhafte Nummerierung – Kläger beginnend mit der Ziffer 1. und endend mit der Ziffer 9., aber unter Auslassung der Ziffer 6. –, dass das in dem Bescheid des Bundesamtes vom 16. September 2019 aufgeführte Kind in der Klageschrift versehentlich nicht konkret bezeichnet wurde, für diese Klägerin aber Klage erhoben werden sollte.
II. Die Kammer konnte ungeachtet des Ausbleibens eines Vertreters des Bundesamtes in der mündlichen Verhandlung verhandeln und in der Sache entscheiden, denn die Behörde wurde in der ihr zugestellten Ladung auf diese Rechtsfolgen hingewiesen, § 102 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
III. Die Klage ist mit dem Hauptantrag als Anfechtungsklage statthaft und auch im Übrigen zulässig.
Das Bundesamt hat den Asyl(folge-)antrag der Kläger mit Ziffer 1. des angefochtenen Bescheides nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 des Asylgesetzes (AsylG) als unzulässig abgelehnt, weil ein weiteres Asylverfahren nach § 71 Abs. 1 AsylG nicht durchzuführen sei.
Diese Entscheidung ist entgegen der bisherigen Rechtsprechung, die eine Verpflichtung der Verwaltungsgerichte zum "Durchentscheiden" und dementsprechend die Verpflichtungsklage als allein statthafte Klageart angenommen hatte (BVerwG, Urt. v. 10. Februar 1998 – BVerwG 9 C 28.97 –, juris), mit der Anfechtungsklage anzugreifen. Folge hiervon ist, dass sich der Streitgegenstand der Klage auf die vom Bundesamt ausschließlich geprüfte Zulässigkeit des Asylantrags beschränkt (zu alledem: BVerwG, Urt. v. 14. Dezember 2016 – BVerwG 1 C 4.16 –, juris Rn. 15-16 und 19).
IV. Die Klage der Kläger zu 1., 3. und 4. ist begründet (sogleich unter 1.); hinsichtlich der übrigen Kläger bleibt sie hingegen sowohl mit dem Haupt- als auch dem Hilfsantrag ohne Erfolg (unter 2.).
1. Der Bescheid des Bundesamtes vom 16. September 2019 ist rechtswidrig und verletzt die Kläger zu 1., 3. und 4. in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO, soweit deren Asylfolgeantrag in Ziffer 1. als unzulässig abgelehnt wurde.
Nach § 71 Abs. 1 S. 1 AsylG ist ein weiteres Asylverfahren auf einen erneuten Asylantrag (Folgeantrag) nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung eines früheren Asylantrags nur durchzuführen, wenn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vorliegen; die Prüfung obliegt dem Bundesamt.
Zwar haben die Kläger zu 1., 3. und 4. ihren Asylfolgeantrag bis zur mündlichen Verhandlung am 31. August 2022 nicht ansatzweise untersetzt und sie haben insbesondere im Verwaltungsverfahren nicht dargelegt, dass sich die dem Ausgangsbescheid zugrunde liegende Sach- oder Rechtslage nachträglich zu ihren Gunsten geändert haben könnte.
Mit ihrem Vorbringen aus der mündlichen Verhandlung, sie befürchteten zum Militär eingezogen und in dem völkerrechtswidrigen Krieg der Russischen Föderation in der Ukraine eingesetzt zu werden, haben sie eine mögliche Änderung der Sachlage im Sinne von § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG jedoch hinreichend konkret vorgetragen und dieser Vortrag ist im Klageverfahren zu berücksichtigen.
Einer Berücksichtigung dieses Vortrages durch steht weder entgegen, dass sich der Streitgegenstand einer Klage nach einer Unzulässigkeitsentscheidung des Bundesamtes auf die von der Behörde ausschließlich geprüfte Zulässigkeit des Asylantrags beschränkt (BVerwG, Urt. v. 14. Dezember 2016 – BVerwG 1 C 4.16 –, juris Rn. 19) noch dass die „mit dem Antrag auf Wiederaufnahme (und im weiteren Verlauf des Verfahrens) geltend gemachten Gründe“ den Gegenstand der behördlichen und gerichtlichen Prüfung bestimmen und begrenzen (so: BVerwG, Urt. v. 20. November 2018 – BVerwG 1 C 23.17 –, juris Rn. 12). Die Auffassung, in einem der Entscheidung der Behörde über die Wiederaufnahme des Verwaltungsverfahrens nach § 51 VwVfG nachfolgenden Klageverfahren könnten neue Wiederaufnahmegründe nicht unmittelbar gegenüber dem Verwaltungsgericht geltend gemacht und damit „nachgeschoben“ werden (Ramsauer in Kopp/Ramsauer, VwVfG, 22. Aufl. 2021, § 51 VwVfG Rn. 11 unter Verweis auf: OVG f. d. Ld. Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 22. April 1985 – 4 A 2750/83 –, beck.online, unter 2. a) [nicht entscheidungstragend] und Bayerischer VGH, Beschl. v. 17. Mai 1989 – 3 B 88.03544 –, beck.online [nicht entscheidungstragend]; einschränkend: VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 22. Juni 1990 – 4 S 2257/89 –, juris Rn. 19 [kein Nachschieben von Gründen in Streitigkeiten aus dem Beamtenverhältnis]; a. A.: BVerwG, Urt. v. 21. April 1982 – BVerwG 8 C 75.80 –, juris Rn. 12) überzeugt jedenfalls im Asylverfahren nicht. Die zur Begründung dieser Auffassung angeführten Gesichtspunkte, die Ausgestaltung des Verwaltungsverfahrens nach § 51 VwVfG und das Antragserfordernis für eine Wiederaufnahme, sind nicht zwingend (hierzu vgl. auch: OVG f. d. Ld. Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 25. Februar 1997 – 25 A 720/97.A –, juris Rn. 15), und die Frage, wie sich ein erst im Verlaufe eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens geltend gemachter Wiederaufnahmegrund auf den Fortgang dieses Verfahrens auswirkt, beurteilt sich nicht nach § 51 VwVfG, sondern nach dem einschlägigen Prozessrecht (so explizit: BVerwG, Beschl. v. 11. Dezember 1989 – 9 B 320.89 –, NVwZ 1990, 359). Im Asylverfahren aber verlangt das Prozessrecht die Berücksichtigung der von einem Asylkläger nachgeschobenen Gründe (Funke-Kaiser in GK-AsylVfG, Januar 2022, § 71 AsylG Rn.202; so im Ergebnis auch: VG Sigmaringen, Beschl. v. 29. Dezember 1999 – A 1 K 12025/99 –, juris Rn. 18; a. A.: VG Cottbus, Urt . v. 10. Mai 2022 – VG 5 K 1942/18.A –, UA S. 5; VG Cottbus, Urt. v. 02. März 2021 – VG 5 K 1178/19.A –, UA S. 3). Nach § 77 Abs. 1 AsylG stellt das Gericht in Streitigkeiten nach diesem Gesetz auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung, oder, sofern die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung ergeht, auf den Zeitpunkt ab, in dem die Entscheidung gefällt wird. Die Norm beinhaltet damit eine prozessrechtliche Regelung, die in Asylverfahren abweichend von dem üblichen Vorrang des materiellen Rechts als maßgeblichen Zeitpunkt der Sach- und Rechtslage gleichermaßen für Verpflichtungs- und Anfechtungsklagen die mündliche Verhandlung oder den Zeitpunkt der Entscheidung für maßgeblich erklärt. Das kann, wie vorliegend, dazu führen, dass das Gericht im Fall einer Anfechtungsklage deutlich über die ihm ansonsten zukommende Kontrollfunktion hinaus tätig werden muss, weil es bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer behördlichen Entscheidung auch Aspekte zu berücksichtigen hat, die der Behörde bei ihrer Entscheidung nicht bekannt waren und die auch nicht bekannt sein konnten (Seeger in Kluth/Heusch, Beck/OK Ausländerrecht, 01. Juli 2022, § 77 Rn. 1 ff.).
Soweit das Bundesverwaltungsgericht in Zusammenhang mit anderen Fragen – zu klären waren die im Asylklageverfahren statthafte Klageart und das Rechtsschutzbedürfnis für eine Bescheidungsuntätigkeitsklage – den besonderen Sachverstand des Bundesamtes und die besondere Ausgestaltung des behördlichen Asylverfahrens hervorhebt (BVerwG, Urt. v. 14. Dezember 2016 – BVerwG 1 C 4.16 –, juris Rn. 19; BVerwG, Urt. v. 11. Juli 2018 – BVerwG 1 C 18.17 –, juris Rn. 36), führen diese Begründungselemente nicht zu einer abweichenden Beurteilung der vorliegend inmitten stehenden Frage, insbesondere ist es an dem Gesetzgeber, die Rechtslage vor dem Hintergrund des § 77 Abs. 1 AsylG klarzustellen.
Der Vortrag der Kläger zu 1., 3. und 4. ist vorliegend auch hinreichend substantiiert und erheblich.
Nach § 71 Abs. 3 S. 1 AsylG hat der Ausländer in dem Folgeantrag unter anderem die Tatsachen und Beweismittel anzugeben, aus denen sich das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG ergibt. Der Asylfolgeantragsteller ist danach im Grundsatz verpflichtet, den geltend gemachten Wiederaufnahmegrund und die weiteren Voraussetzungen einer Wiederaufnahme schlüssig, also substantiiert und widerspruchsfrei, vorzutragen, und die Geeignetheit dieser Umstände für eine ihm günstigere Entscheidung nachvollziehbar darzulegen (BVerwG, Urt. v. 25. November 2008 – BVerwG 10 C 25.07 –, juris Rn. 11). Im Fall des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG ist daher regelmäßig eine Änderung der allgemeinen politischen Verhältnisse oder Lebensbedingungen im Heimatstaat oder der das persönliche Schicksal bestimmenden Umstände im Verhältnis zu der der früheren Asylentscheidung zugrunde gelegten Sachlage glaubhaft und substantiiert vorzutragen (BVerfG, Beschl. v. 04. Dezember 2019 – 2 BvR 1600/19 –, juris Rn. 20/21). Der Folgeantragsteller hat eine dichte und in sich stimmige Darlegung der Umstände vorzulegen, aus denen sich ergibt, dass sich die im früheren Verfahren zugrunde gelegte Sachlage tatsächlich verändert hat; lediglich pauschale und wenig konkretisierte bzw. nicht nachvollziehbare allgemeine Schilderungen reichen nicht aus.
Es liegt allerdings auf der Hand, dass sich die Verpflichtung eines Asylfolgeantragstellers, eine Änderung der Sachlage substantiiert darzulegen, nach den Umständen des Einzelfalls beurteilt und dass sie in den Fällen um so stärkere Geltung beansprucht, in denen die Umstände für eine mögliche Wiederaufnahme des Verfahrens nicht offenkundig sind. Vorliegend aber sind die Umstände offenkundig. Der völkerrechtswidrige Krieg der Russischen Föderation gegen die Ukraine und der Personalbedarf der russischen Streitkräfte sind ebenso allgemeinkundig wie eine mögliche Einziehung von Männern im wehrdienstfähigen Alter durch die Streitkräfte der Russischen Föderation oder eine mögliche extralegale „Verpflichtung“ durch das tschetschenische Republikoberhaupt Ramzan Kadyrov (vgl. dazu Urt. d. Kammer v. 04. August 2022 – V... –, zur Veröffentlichung vorgesehen). Vor diesem Hintergrund bedurfte es einer weitergehenden Darlegung von Seiten der Kläger zu 1., 3. und 4. hier nicht.
Der Vortrag dieser Kläger ist auch im Rahmen des § 3 AsylG erheblich. Trägt der Antragsteller eine nachträgliche Änderung der Sach- oder Rechtslage glaubhaft und substantiiert vor, genügt für die Begründetheit des Folgeantrags mit der Folge, dass ein weiteres Asylverfahren durchzuführen ist, schon die Möglichkeit einer günstigeren Entscheidung aufgrund der geltend gemachten Wiederaufgreifensgründe. Nicht von Bedeutung ist hingegen, ob der neue Vortrag im Hinblick auf das glaubhafte persönliche Schicksal des Antragstellers sowie unter Berücksichtigung der allgemeinen Verhältnisse im angeblichen Verfolgerland tatsächlich zutrifft, die Verfolgungsfurcht begründet erscheinen lässt und die Annahme einer relevanten Verfolgung rechtfertigt. Eine Pflicht des Bundesamtes bzw. der Gerichte, den Sachverhalt insofern umfassend aufzuklären und die erforderlichen Beweise zu erheben, § 24 Abs. 1 S. 1 AsylG, besteht erst in dem wiederaufgenommenen Asylverfahren. Lediglich wenn das Vorbringen nach jeder vertretbaren Betrachtungsweise ungeeignet ist, zur Asylberechtigung beziehungsweise zur Zuerkennung internationalen Schutzes zu verhelfen, darf der Folgeantrag als unzulässig abgelehnt beziehungsweise darf die Unzulässigkeitsentscheidung gerichtlich bestätigt werden (BVerfG, Beschl. v. 04. Dezember 2019 – 2 BvR 1600/19 –, juris Rn. 20 ff.; BVerwG, Urt . v. 23. Juni 1987 – BVerwG 9 C 251.86 –, juris Rn. 10). Vorliegend lässt der Vortrag der Kläger zu 1., 3. und 4. eine Änderung der Sachlage schon mit Blick auf die Verfolgungshandlungen des § 3a Abs. 2 Nr. 1 und 5 AsylG als jedenfalls möglich erscheinen.
Der Berücksichtigung des Vortrags aus der mündlichen Verhandlung steht auch weder § 71 Abs. 1 AsylG i. V. m. § 51 Abs. 2 VwVfG entgegen noch waren die Kläger zu 1., 3. und 4. verpflichtet, die Antragsfrist des § 51 Abs. 3 VwVfG zu berücksichtigen. Zwar hat danach der Ausländer den Folgeantrag innerhalb einer Frist von drei Monaten, beginnend mit dem Tage, an dem er von dem Grund für das Wiederaufgreifen Kenntnis erlangt hat, zu stellen. Diese Antragsfrist bleibt im Asylfolgeverfahren allerdings wegen des Anwendungsvorrangs des Europarechts unangewandt, weil sie mit Art. 40 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes nicht vereinbar ist (EuGH, Urt v. 09. September 2021 – C-18/20 –, juris Rn. 54 ff.; Dickten in: BeckOK AuslR, 34. Ed. 1.4.2022, AsylG § 71 Rn. 7 und 12).
Die Entscheidung des Bundesamtes zu Ziffer 2. des angefochtenen Bescheids ist auf den Hauptantrag nicht aufzuheben, selbst wenn das Gericht mit Blick auf die umfassende Formulierung dieses Antrags durch die Prozessbevollmächtigte der Kläger in der mündlichen Verhandlung unterstellt, dass er sich auch auf diese Entscheidung des Bundesamtes – und nicht nur auf die Ziffer 1. – bezieht. Zwar ist das Bundesverwaltungsgericht in dem Urteil vom 14. Dezember 2016 (BVerwG 1 C 4.16 –, juris Rn. 21) davon ausgegangen, dass im Falle eines Erfolgs der Anfechtungsklage gegen eine Unzulässigkeitsentscheidung des Bundesamtes auch eine gegebenenfalls ergangene Feststellung, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG nicht vorliegen, nebst Abschiebungsandrohung aufzuheben sei, denn beide Entscheidungen seien dann jedenfalls verfrüht ergangen. Der Verweis des 1. Senats auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 7. März 1995 (BVerwG 9 C 264.94 –, juris Rn. 19) verdeutlicht jedoch, dass die vorliegend inmitten stehende Sachverhaltskonstellation – nämlich die Ablehnung der Abänderung einer Entscheidung zu § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG im Rahmen eines „Wiederaufgreifens im weiteren Sinne“ – nicht gemeint ist.
2. Die Klage der Kläger zu 2. und 5.- 9. ist hingegen sowohl mit dem Haupt- als auch dem Hilfsantrag unbegründet.
2.1 Die Kläger zu 2. und zu 5.- 9. haben bereits einen Wiederaufnahmegrund nicht hinreichend dargelegt.
Für die Kläger zu 5. - 9. wurde von vornherein – und zwar weder im Verfahren vor dem Bundesamt noch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren – kein Wiederaufnahmegrund geltend gemacht und mit ihrem schriftlichen Vortrag im verwaltungsgerichtlichen Verfahren hat die Klägerin zu 2. bereits der vorstehenden Verpflichtung nicht genügt, den Wiederaufnahmegrund nachvollziehbar, substantiiert und stimmig vorzutragen. Hiervon abgesehen steht einer Berücksichtigung dieses Vortrags nur kurze Zeit nach Beendigung des Asylerstverfahrens § 71 Abs. 1 S. 1 AsylG i. V. m. § 51 Abs. 2 VwVfG entgegen. Das Vorbringen der Klägerin ist unzulässig, weil sie nicht ohne grobes Verschulden außerstande war, den Grund für das Wiederaufgreifen in dem früheren Verfahren geltend zu machen. Ihr Erklärungsversuch, den vermeintlichen Vorfall im Wald habe sie weder in der Anhörung noch gegenüber ihrem Ehemann erwähnt, weil eine Frau „nach den für sie geltenden Gesetzes nicht allein in den Wald gehen“ dürfe, ist schon nicht schlüssig, weil sich die Klägerin nur kurze Zeit nach rechtskräftigem Abschluss des Asylerstverfahrens nicht gehindert sieht, diesen neuen Sachverhalt nachzuschieben. Der Erklärungsversuch ist im Übrigen aber auch nicht geeignet, den Vorwurf einer zumindest groben Fahrlässigkeit auszuräumen. Die Klägerin hat im vorliegenden Klageverfahren entsprechend vortragen lassen und es ist nicht ersichtlich, was sie gehindert haben könnte, in dem mit ihrer Klagerücknahme am 12. August 2019 beendeten Klageverfahren V...entsprechend vorzutragen.
2.2 Dem hilfsweisen Antrag, die Beklagte zu verpflichten, Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG festzustellen, ist ebenfalls nicht zu entsprechen, weil die Kläger hierzu weder schriftlich noch in der mündlichen Verhandlung vorgetragen haben. Vor diesem Hintergrund unterliegt die Ermessensentscheidung des Bundesamtes, das Verfahren insoweit nicht wiederaufzugreifen, keinen Bedenken.
V. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO und § 83b AsylG.
Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit des Urteils hinsichtlich der Kosten beruht auf § 167 Abs. 1 S. 1 und Abs. 2 VwGO i. V. m. § 708 Nr. 11, § 709 S. 1 und 2 und § 711 S. 1 und 2 der Zivilprozessordnung (ZPO).