Toolbar-Menü
 
Sie sind hier: Gerichtsentscheidungen Entscheidung

Entscheidung 1 K 644/19.A


Metadaten

Gericht VG Cottbus 1. Kammer Entscheidungsdatum 18.08.2022
Aktenzeichen 1 K 644/19.A ECLI ECLI:DE:VGCOTTB:2022:0818.1K644.19.A.00
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen Art 16a GG, § 3 AsylVfG 1992, § 3a AsylVfG 1992, § 3e AsylVfG 1992

Tenor

Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 16. April 2019 wird in Ziffer 1., 2. und 5. aufgehoben, soweit sich diese Entscheidungen auf den Kläger beziehen. Die Beklagte wird verpflichtet, den Kläger als Asylberechtigten anzuerkennen und ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Das Urteil ist für den Kläger hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 vom Hundert des vollstreckbaren Betrags abwenden, soweit nicht der Kläger zuvor Sicherheit in Höhe von 110 vom Hundert des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand

Der am 18. Juli 1985 in Tscharenzawan (damalige Armenischen Sozialistischen Sowjetrepublik und heutigen Republik Armenien) geborene Kläger, seine am 10. Februar 1985 in Krasnodar geborene Ehefrau und ihr am 18. Februar 2018 ebenfalls in Krasnodar geborenes Kind sind Staatsangehörige der Russischen Föderation armenischer Volkszugehörigkeit und christlicher Glaubenszugehörigkeit.

Der Kläger und seine Familie wohnten bis zu ihrer Ausreise zuletzt in Krasnodar. Sie reisten nach eigenen Angaben unter Vorlage eines im Dezember 2018 ausgestellten Touristenvisums am 11. Dezember 2018 zusammen mit der Mutter des Klägers auf dem Luftweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und beantragten am 16. Januar 2019 die Gewährung internationalen Schutzes. Der Kläger gab an, er sei gelernter Ökonom, habe in Russland jedoch die letzten 2 Jahre vor seiner Ausreise als Taxifahrer gearbeitet. Seine wirtschaftliche Situation sei schlecht gewesen.

In der Anhörung vor dem Bundesamt erklärte der Kläger im Wesentlichen:

Er habe 2010 die russische Staatsangehörigkeit angenommen und die armenische Staatsangehörigkeit aufgegeben. Das Visum zur Einreise in die Bundesrepublik Deutschland habe er Ende September/Anfang Oktober 2018, den Reisepass habe er unter Benutzung der Anschrift seines Schwiegervaters im August 2018 beantragt und erhalten.

Die Russische Föderation habe er wegen der Gefahr für sich und seine Familie verlassen.

Er habe für Alexej Nawalny demonstriert. Im Sommer 2017 habe er als Taxifahrer einen 25-27 Jahre alten Mann mit Vornamen Michael kennengelernt, mit dem er sich auch über Politik ausführlich unterhalten habe. Der Mann habe mit Alexej Nawalny sympathisiert. Zu Fahrtende hätten sie Telefonnummern ausgetauscht. Michael habe ihn mit dessen Freunden Jegor und Svetlana bekannt gemacht, sie hätten sich einige Male getroffen und sich über Politik, die Missstände in Russland, die Korruption und den Krieg auf der Krim unterhalten.

Am 07. Oktober 2017, dem Geburtstag Wladimir Putins, hätten in fast allen Städten Demonstrationen gegen die Verhaftung Nawalnys stattgefunden. Er habe sich verpflichtet gefühlt, an der größten Demonstration in Moskau teilzunehmen, seiner Familie am 06. Oktober 2017 jedoch gesagt, dass er zu einem Freund nach Belorechensk fahre. In Moskau sei er an der Metrostation Akademiemitglied Yangeya ausgestiegen und mit der Metro zum Puschkinplatz gefahren, gegen 14:00 Uhr habe die Demonstration Richtung Staatsduma begonnen. An der Staatsduma sei die Straße versperrt gewesen und auch er sei mit auf das Polizeirevier genommen worden und habe dort etwa eine bis anderthalb Stunden verbracht. Ein Polizist habe sich mit ihm unterhalten, habe seinen Pass kopiert und ihn aufgefordert, die Handybilder von der Demonstration zu löschen. Der Polizist habe ihm gedroht, es sei nicht klug, an derartigen Demonstrationen teilzunehmen. Anschließend sei er zurück nach Hause gefahren.

Etwa eine Woche später habe ihm die Eingangsverwalterin L... mitgeteilt, sie habe einen Anruf von der örtlichen Polizei erhalten und er solle dort erscheinen. Am Folgetag sei er um 11:00 Uhr zum Revier gegangen und er sei von dem Polizisten A... über die Demonstration verhört worden; dieser habe die Namen seiner Freunde erfahren wollen. Als er sich geweigert und mit der Staatsanwaltschaft gedroht habe, habe ihm der Polizist bedroht, ihn mit der Faust ins Gesicht geschlagen und ihn als „khuy“ beschimpft. Seiner Familie habe er anschließend das Vorgefallene berichtet.

Er habe dann normal weitergelebt und von seinen Freunden erfahren, dass im Mai 2018 in Zusammenhang mit der Amtseinführung Putins wieder Massenproteste geplant gewesen seien. Er habe den Freunden gesagt, er wolle wieder nach Moskau fahren.

In der Nacht vom 17. auf den 18. April 2018 sei er gegen 02:00 Uhr nachts von der Arbeit nach Hause gefahren. Vor seinem Haus habe ein Wagen den Weg versperrt. 3 maskierte Männer hätten ihn angegriffen, einer habe ihn mit dem Fuß zu Boden getreten und die anderen hätten ihn getreten. Man habe ihm gesagt: „Du Scheisskerl, man hatte dich doch im Polizeirevier gewarnt, oder? Und bereitest Dich jetzt darauf vor, nach Moskau zu fahren. Wenn Du Dich bei der Polizei beschwert, wird es noch schlimmer.“ Anschließend seien die Leute weggefahren. Er habe starke Schmerzen in dem geschwollenen linken Arm gehabt. Bei einer ärztlichen Untersuchung sei eine geschlossene Fraktur festgestellt worden, am 20. April 2018 sei er operiert und am 24. April 2018 wieder entlassen worden. Er habe anschließend Angst gehabt und habe an politische Aktivitäten nicht denken wollen. Er habe Michael einen Brief geschrieben und von dem Vorfall berichtet; dieser habe ihm gesagt, dass er die Reise nicht verraten habe, ihn jedoch gebeten, die Telefonnummer der beiden anderen zu löschen. Im August oder September habe er eine Reportage über Asylsuchende in Deutschland gesehen und die Familie sei ausgereist.

Das Bundesamt lehnte es mit Bescheid vom 16. April 2019 – zugestellt am 18. April 2019 – ab, dem Kläger, seiner Ehefrau und seinem Kind die Flüchtlingseigenschaft oder den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen und lehnte die Asylanträge ab (dort Ziffer 1. bis 3.), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 S. 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) nicht vorlägen (Ziffer 4.) und forderte die Asyantragsteller unter Androhung ihrer Abschiebung im Wesentlichen in die Russische Föderation auf, die Bundesrepublik Deutschland binnen der bezeichneten Frist zu verlassen (Ziffer 5.). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG befristete das Bundesamt auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 6.).

Zur Begründung heißt es im Wesentlichen: Der Kläger habe vor seiner Ausreise keine staatliche Verfolgung erlitten. Im Rahmen von dessen Befragung habe nicht seine politische Einstellung, sondern die Informationsgewinnung „im Vordergrund“ gestanden. Nachdem der Kläger mit dem Staatsanwalt gedroht habe, habe man ihm beschimpft, geschlagen und wieder frei gelassen; ein solches Vorgehen wäre bei einem politischen Gegner lebensfremd. Die Bedrohung durch die nationalen Sicherheitsbehörden sei keine Verfolgung durch den russischen Staat, denn sie knüpfe nicht an ein flüchtlingsrechtlich relevantes Merkmal an und sie sei im Übrigen als „Amtswalterexzess“ zu werten. Zudem hätten die Asylantragsteller die Russische Föderation legal verlassen, der Kläger sei keine exponierte Person gewesen. Auch stehe ihnen in anderen Teilen der Russischen Föderation eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung.

Den Asylantrag der Mutter des Klägers lehnte das Bundesamt in dem Verfahren 7... mit Bescheid vom 05. April 2019 ab; die Akten dieses Verfahrens lagen dem Gericht vor.

Der Kläger, seine Ehefrau und sein Kind haben am 02. Mai 2019 vor dem Verwaltungsgericht Frankfurt (Oder) Klage erhoben (V...). Das Verwaltungsgericht Frankfurt (Oder) hat sich mit Beschluss vom 09. Mai 2019 für örtlich unzuständig erklärt und den Rechtsstreit an das Verwaltungsgericht Cottbus verwiesen.

Die Kammer hat den Rechtsstreit nach Anhörung der Beteiligten mit Beschluss vom 18. Januar 2022 dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.

Der Kläger (zu 1.) ist in der mündlichen Verhandlung durch das Gericht informatorisch befragt worden. Mit Beschluss vom 30. August 2022 hat das Gericht das Verfahren abgetrennt und unter dem Aktenzeichen V... fortgeführt, soweit die Ehefrau und das Kind des Klägers Klage erhoben haben.

Der Kläger hat zur Begründung des Rechtsbehelfs im Wesentlichen ausgeführt:

Die Begründung des angefochtenen Bescheides gehe fehl. Es liege kein Amtswalterexzess, sondern eine staatliche Verfolgung vor. Menschen, die mit der Opposition sympathisieren und diese unterstützen, würden im Land nicht gern gesehen. Die Bedrohung, Erpressung und sogar Gewalt seien allein dadurch motiviert, den Kläger, der an der Demonstration der Opposition teilgenommen hatte, zu zwingen, belastenden Angaben gegen andere Demonstranten und Teilnehmer zu machen. Die fundamentalen Rechte etwa auf Meinungs- und Demonstrationsfreiheit seien in Russland nicht geschützt, das Bundesamt umgehe diese Probleme. Es sei allgemein bekannt, dass die Staatssicherheit in Russland nicht selten mit verschiedenen Kriminellen zusammenarbeite, um eigene Ziele zu erreichen. Der Vortrag des Klägers sei substantiiert und widerspruchsfrei. Auch habe der Kläger das ärztliche Attest in russischer Sprache im Original vorgelegt, das seine Verletzungen und deren Behandlung glaubhaft mache (S. 133 der Beiakte). Es sei nicht ersichtlich, dass das Bundesamt sich dafür interessiert hätte und es sei nur die erste Seite von zwei Seiten des Dokuments in die Akte aufgenommen worden.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 16. April 2019 zu verpflichten, ihn als Asylberechtigte anzuerkennen und ihm die Flüchtlingseigenschaft, zuzuerkennen, hilfsweise, ihm subsidiären Schutz zuzuerkennen, äußerst hilfsweise, die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG hinsichtlich der Russischen Föderation festzustellen.

Die Beklagte hat schriftlich beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie bekräftigt die Begründung des angefochtenen Bescheides und trägt ergänzend vor:

Eine politische Verfolgung durch den russischen Staat sei „nicht ersichtlich“. Die Familie habe Visa und Reisepässe erhalten; das spreche dagegen, dass die Sicherheitsorgane ein „erhöhtes Interesse“ gehabt hätten.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten und die Verwaltungsvorgänge des Bundesamtes sowie die beigezogenen Ausländerakten Bezug genommen. Sämtliche Akten waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Entscheidungsfindung des Gerichts.

Entscheidungsgründe

I. Das Gericht konnte ungeachtet der fehlenden Vertretung der Beklagten in der mündlichen Verhandlung verhandeln und in der Sache entscheiden, denn das Bundesamt wurde in der am 06. Juli 2022 zugestellten Ladung auf diese Rechtsfolgen hingewiesen, § 102 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).

II. Das Begehren des Klägers, dass der von der Rechtsantragstelle des Verwaltungsgerichts Frankfurt (Oder) zur Niederschrift aufgenommen Klage nach sämtliche Streitgegenstände umfasst, ist sachgemäß, § 88 VwGO, dahingehend auszulegen, dass ihm primär an der Anerkennung als Asylberechtigter, Art. 16a des Grundgesetzes (GG), § 2 Abs. 1 AsylG, und an der Verpflichtung der Beklagten gelegen ist, ihm die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG zuzuerkennen.

Die in einem Asylverfahren in Betracht kommenden Streitgegenstände stehen in einem Rangverhältnis dergestalt, dass Schutz vor geltend gemachten Gefahren im Heimatstaat vorrangig auf der Stufe zu gewähren ist, die jeweils den umfassenderen Schutz vermittelt. Nach der im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung geltenden Rechtslage vermitteln die Anerkennung als Asylberechtigte und der Flüchtlingsschutz gleichermaßen die weitest gehende Rechtsstellung, § 26 Abs. 1 S. 2 AufenthG, dem nach § 26 Abs. 1 S. 3 AufenthG der subsidiäre Schutzstatus nach § 4 AsylG und sodann die Verpflichtung zur Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG nachfolgen, § 26 Abs. 1 S. 4 i. V. m. § 25 Abs. 3 S. 1 AufenthG. Lehnt das Bundesamt den Asylantrag, § 13 Abs. 1 und Abs. 2 S. 1 AsylG i. V. m. § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG, des Rechtsschutzsuchenden ab und droht es ihm unter Versagung von Abschiebungsverboten, hier nach § 60 Abs. 5 und 7 S. 1 AufenthG, die Abschiebung in seinen Heimatstaat an, richtet sich das den Verwaltungsgerichten unterbreitete Rechtsschutzbegehren mithin vorrangig auf die Verpflichtung des Bundesamts zur Gewährung von Asyl nach Art. 16a GG und auf Anerkennung als Flüchtling nach § 3 AsylG. Für den Fall, dass dieses Hauptbegehren insgesamt erfolglos bleibt, ist nachrangiges Rechtsschutzziel die Verpflichtung des Bundesamts zur Gewährung subsidiären Schutzes, § 4 AsylG, weiter hilfsweise auf Feststellung des Vorliegens von Abschiebungsverboten nach § 60 AufenthG. Der typischen Interessenlage des im Verwaltungsverfahren unterlegenen Asylsuchenden entspricht es deshalb, sein dem Verwaltungsgericht unterbreitetes Rechtsschutzbegehren – wenn es nicht ausnahmsweise deutlich erkennbar eingeschränkt sein sollte – in dieser Weise sachdienlich umfassend auszulegen (vgl. BVerwG, Urt. v. 21. November 2006 – BVerwG 1 C 10.06 –, juris Rn. 12 m. w. N.; BVerwG, Beschl. v. 16. September 2015 – BVerwG 1 B 36.15 –, juris Rn. 2; Marx in Marx: Aufenthalts-, Asyl- und Flüchtlingsrecht, 7. Aufl. 2020, § 9 Asylverfahren, Rn. 131 ff.).

III. Die zulässige Klage ist mit dem Hauptantrag begründet.

1. Der Kläger hat einen Anspruch, als Asylberechtigter anerkannt zu werden.

Nach Art. 16a Abs. 1 GG genießen politisch Verfolgte Asylrecht. Politisch verfolgt im Sinne des Grundgesetzes ist, wer in dem Land, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, in Anknüpfung an seine Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten soziale Gruppe, seine politische Überzeugung oder andere für ihn unverfügbare Merkmale, die sein Anderssein prägen, begründet befürchten muss, gezielt staatlichen Rechtsverletzungen mit Gefahr für Leib, Leben oder persönlicher Freiheit ausgesetzt zu sein, die ihn ihrer Intensität nach aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit ausgrenzen und zur Unzumutbarkeit seines weiteren Verbleibens bzw. der Rückkehr in seinen Heimatstaat führen (BVerfG, Beschl. v. 10. Juli 1989 –2 BvR 502, 1000, 961/86 –, BVerfGE 80, 315, 333 ff. - zu den, insoweit inhaltsgleichen, Anforderungen an eine politische Verfolgung nach Art. 16 Abs. 2 S. 2 GG a. F., nunmehr Art. 16 a Abs. 1 GG).

Der Kläger hat die Russische Föderation wegen erlittener und ihm bei Fortsetzung seiner öffentlichen politischen Aktivitäten drohender staatlicher Verfolgung und damit vorverfolgt verlassen.

Das Gericht ist davon überzeugt, dass das Vorbringen des Klägers in der Anhörung vor dem Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung vom 18. August 2022, er sei im Anschluss an seine Demonstrationsteilnahme zu Gunsten Alexej Nawalnys vom 07. Oktober 2017 auf dem örtlichen Polizeirevier von einem Polizisten mit der Faust geschlagen und bedroht worden, ebenso auf Tatsachen beruht wie seine Bekundungen, er sei im Vorgriff auf eine erneute Demonstrationsteilnahme am 18. April 2018 von Unbekannten zusammengeschlagen worden. Der Kläger hat von diesen Vorkommnissen in der mündlichen Verhandlung in Übereinstimmung mit seinen Angaben in der Anhörung durch das Bundesamt etwa dreieinhalb Jahre zuvor und in einer Weise berichtet, die auf ein tatsächliches Erleben schließen lässt (vgl. etwa die Anmerkung des Klägers auf die Ausführungen des Gerichts zum Monat der Amtseinführung Wladimir Putins 2018, Niederschrift der mündlichen Verhandlung, S. 2). Er war zudem zu keiner Zeit bemüht, Elemente des von ihm dargelegten Sachverhalts in ein seinem Begehren zuträglicheres Licht zu rücken – so etwa die Angabe, die Familie habe sich (erst) nach einem Bericht über die Schutzmöglichkeit in Deutschland entschlossen, das Land zu verlassen – und seine Ausführungen zu Fragen seines politischen Engagements zeugen von einer aufrichtigen politischen Überzeugung. Hiermit korrespondiert, dass der Kläger Begebenheiten auch ansonsten, etwa zu dem Verhalten der Sicherheitsorgane, lebensnah geschildert hat, ohne die Sicherheitslage der Familie zu dramatisieren

Der Kläger hat asylerhebliche staatliche Maßnahmen erlitten.

Die Misshandlung auf dem Polizeirevier in Krasnodar im Oktober 2017 ist ebenso asylrelevant wie die Misshandlungen durch Unbekannte im April 2018.

Zwar genügen einfache Vorladungen auf ein Polizeirevier den Anforderungen an die hinreichende Intensität einer asylerheblichen Rechtsgutsbeeinträchtigung ebenso wenig wie ein kurzzeitiges Festhalten durch die Sicherheitsorgane. Es ist allerdings ebenfalls nicht zweifelhaft, dass ein Faustschlag ins Gesicht ebenso seiner Intensität nach einen asylrechtlich erheblichen Eingriff in die physische und psychische Integrität des Klägers darstellt, wie die Misshandlungen durch Unbekannte im April 2018 asylrelevant sind.

Die Misshandlung auf dem Polizeirevier knüpfte auch an die politische Überzeugung des Klägers an. Das Bundesamt ist der Auffassung, im Rahmen von dessen Befragung auf dem Polizeirevier habe nicht seine politische Einstellung, sondern die „Informationsgewinnung“ im Vordergrund gestanden. Der Kläger habe mit dem Staatsanwalt gedroht und er sei beschimpft, geschlagen, anschließend jedoch wieder frei gelassen worden; ein solches Vorgehen wäre bei einem politischen Gegner lebensfremd gewesen. Die Bedrohung durch die nationalen Sicherheitsbehörden sei mithin keine Verfolgung durch den russischen Staat, denn sie knüpfe nicht an ein flüchtlingsrechtlich relevantes Merkmal an und sie sei als Amtswalterexzess zu werten.

Diese Auffassung überzeugt nicht.

Eine Verfolgung ist im Sinne von Art. 16a Abs. 1 GG politisch, wenn sie auf die Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder die politische Überzeugung des Betroffenen zielt. Ob eine in dieser Weise spezifische Zielrichtung vorliegt, die Verfolgung mithin "wegen" eines Asylmerkmals erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht aber nach den subjektiven Gründen und Motiven, die den Verfolger dabei leiten (BVerfG, Beschl. v. 14. Mai 2003 – 2 BvR 134/01 –, juris Rn. 14).

Hiervon ausgehend war es zwar auch Ziel der Vorladung des Klägers auf das Polizeirevier in Krasnodar, im Rahmen seiner Befragung Einzelheiten über weitere Unterstützer der Opposition in der Russischen Föderation zu erhalten. Das ändert jedoch nichts daran, dass die Maßnahme nicht einem legitimen staatlichen Interesse diente, die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu schützen, sondern vor allem auf die öffentliche politische Meinungsäußerung des Klägers und weiterer Unterstützer der Opposition in Russland zielte, die kontrolliert und im Interesse der Partei „Einiges Russland“ und des Präsidenten unterdrückt werden sollte. Der Kläger sollte als ein anders denkender Bürger wegen seiner politischen Überzeugung getroffen werden.

Der weitere Begründungsansatz, das Vorgehen des Polizisten könne dem russischen Staat nicht zugerechnet werden, geht ebenfalls fehl. Der Umstand alleine, dass bestimmte Maßnahmen der Rechtsordnung des Herkunftsstaats widersprechen, berechtigt ohne eine hinreichende Tatsachengrundlage nicht dazu, sie als Exzess eines Amtswalters einzustufen. Vielmehr bedarf es entsprechender verlässlicher tatsächlicher Feststellungen durch die Behörde oder das Gericht zur politischen Lage im Herkunftsstaat und zur disziplinarischen und strafrechtlichen Verfolgung des Fehlverhaltens von Amtswaltern, andernfalls bleibt das Handeln der Sicherheitsorgane dem Staat zurechenbar (BVerfG, Beschl. v. 14. Mai 2003 – 2 BvR 134/01 –, juris Rn. 14; BVerfG, Beschl. v. 08. Juni 2000 – 2 BvR 81/00 –, juris Rn. 19; BVerfG, Beschl. v. 20. Mai 1992 – 2 BvR 205/92 –, juris Rn. 28). Das Bundesamt untersetzt seine Behauptung, es habe sich um einen „Amtswalterexzess“ gehandelt, nicht ansatzweise und diese Behauptung lässt sich der Auskunftslage nach auch nicht untersetzten: Im Jahre 2017 hatte sich das zentral auf den russischen Präsidenten Wladimir Putin ausgerichtete politische System weiter verfestigt. Die von ihm kontrollierte Partei „Einiges Russland“ stellte und stellt drei Viertel der Parlamentsmandate und auch die drei weiteren im Parlament vertretenen Fraktionen tragen als „Systemopposition“ die Linie der Mehrheitspartei fast durchgängig mit. Das Wahlergebnis wurde geprägt durch eine massive Behinderung der Opposition und es war flankiert von Wahlfälschungen. Der Druck auf die Opposition und auf eine kritische Zivilgesellschaft hat sich im Verlaufe der dritten Amtszeit Wladimir Putins weiter verstärkt. Behörden haben in der Russischen Föderation große Freiräume und sie nutzten und nutzen diese Freiräume oft in vorauseilendem Gehorsam zum Nachteil unliebsamer Kritiker, so auch der Opposition durch Alexej Nawalny, dessen Partei trotz mehrfacher Versuche nicht registriert wurde. Oppositionelle Politiker und Aktivisten werden in den staatlichen Massenmedien diskreditiert und die verfassungsrechtlich garantierte Versammlungs-, Meinungs- und Pressefreiheit kommt in der Praxis nur linientreuen Gruppen zugute, wohingegen oppositionelle und kritische Vertreter der Zivilgesellschaft mit erheblichen Restriktionen rechnen müssen. Vor dem Hintergrund dieses gesellschaftlichen und politischen Klimas hat sich auch die Menschenrechtslage in Russland 2017 weiter verschlechtert. Misshandlungen durch die Polizei und andere Sicherheitskräfte sind weiterhin verbreitet und das gesetzliche Folterverbot wird im gesamten Land, insbesondere aber in Polizeigewahrsam oder in Untersuchungshaft, missachtet. Opfer von Polizeigewalt werden häufig unter Druck gesetzt, um sie zu einer Rücknahme ihrer Klage zu bewegen und die Untersuchung von Foltervorwürfen bleibt fast immer folgenlos, nur in einigen wenigen Fällen, in denen sich Menschenrechtsorganisationen eingeschaltet hatten, wurde Anklage gegen die beteiligten Staatsbediensteten erhoben (vgl. nur Auswärtiges Amt, Ad-hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 22. Juli 2017 – 508-516.80 / RUS, S. 4 – 7 u. S. 17).

Auch die weiteren Misshandlungen des Klägers im April 2018 waren asylrelevant, denn sie beeinträchtigten ihn nachhaltig in seiner körperlichen Integrität, zielten auf seine politische Einstellung und sie sind ebenfalls dem russischen Staat zuzurechnen.

Dem steht nicht entgegen, dass der Kläger die Personen, die ihn misshandelten, nicht als Staatsbedienstete, insbesondere als Polizeibeamte, identifizieren konnte. Es ist durch die (glaubhaften) Bekundungen des Klägers über Äußerungen dieser Personen („Du bist doch gewarnt worden auf der Polizeidienststelle, dass es dir schlecht ergehen kann, aber du hast die Absicht nach Moskau zur Demonstration zu fahren.“, Niederschrift, S. 10) offenkundig, dass die Täter in Polizeikreisen zu suchen sind oder jedenfalls mit staatlicher Stellen zusammenarbeiten. Vor diesem Hintergrund muss sich der russische Staat auch diesen asylerheblichen Vorfall zurechnen lassen.

Jedenfalls die dem Kläger vor seiner Ausreise aus der Russischen Föderation im Oktober 2017 und April 2018 insgesamt zugefügten Rechtsverletzungen waren von einer Intensität, die sich nicht nur als eine Beeinträchtigung, sondern als eine - ausgrenzende - Verfolgung darstellt. Sie brachten den Kläger in eine für ihn ausweglose Lage, weil sei ihm zeigten, dass eine öffentliche oppositionelle politische Betätigung nicht möglich sein würde, ohne nachhaltige Eingriffe in die körperliche Integrität gewärtigen zu müssen (vgl. nur: BVerfG, Beschl. v. 26. November 1986 – 2 BvR 1058/85 –, juris Rn. 35 ff.). Zwar stellt nicht jede nach der Rechtsordnung anderer Staaten zulässige Beeinträchtigung von Rechten, die dem Einzelnen in der Bundesrepublik Deutschland durch das Grundgesetz gewährleistet sind, schon eine asylerhebliche politische Verfolgung dar (BVerwG, Urt. v. 08. Mai 1984 – BVerwG 9 C 3.84 , juris Rn. 13 ff.; BVerwG, Urt. v. 18. Februar 1986 – BVerwG 9 C 16.85 –, juris Rn. 20). Die politische Überzeugung wird jedoch dann in asylerheblicher Weise unterdrückt, wenn ein Staat auf Leib, Leben oder die persönliche Freiheit des einzelnen schon deshalb zugreift, weil dieser seine – mit der Staatsraison nicht übereinstimmende – politische Meinung nicht "für sich behält", sondern sie nach außen bekundet und sich mit ihr Dritten gegenüber "hören lässt" und damit notwendigerweise eine geistige Wirkung auf die Umwelt ausübt und meinungsbildend auf andere einwirkt (BVerwG, Urt. v. 19. Mai 1987 – BVerwG 9 C 184.86 –, juris Rn. 19). Das ist in der Russischen Föderation der Fall.

Vor diesem Hintergrund steht einer Vorverfolgung auch nicht entgegen, dass der Kläger sein Heimatland legal verlassen hat und dass es sich bei ihm – wie das Bundesamt insoweit zutreffend anmerkt – gerade nicht um eine „exponierte Person“ handelt.

Zwar spricht alles dafür, dass der Kläger keine Weiterungen durch Polizei und andere staatlichen Stellen hätte befürchten müssen, wenn er das Land nicht zusammen mit seiner Familie im Dezember 2018 verlassen und sich dort, entsprechend seinen Überlegungen nach den Misshandlungen im April 2018, „ruhig verhalten“ und insbesondere davon Abstand genommen hätte, an einer weiteren Demonstration der Opposition teilzunehmen. Das kann von ihm aus asylrechtlicher Sicht jedoch nicht verlangt werden, weil es bedeuten würde, die politische Überzeugung auf den Bereich des forum internum zu beschränken. Zwar kann für den danach unter asylrechtlichen Gesichtspunkten zu fordernden Umfang der dem Ausländer in seinem Heimatland eingeräumten Äußerungs- und Betätigungsmöglichkeiten nicht uneingeschränkt von dem Maßstab ausgegangen werden, der sich bei Anwendung der durch das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland gewährleisteten Rechte ergeben würde. Die politische Betätigungsfreiheit umfasst allerdings ein Mindestmaß an Äußerungs- und Betätigungsmöglichkeiten, über das der Kläger ersichtlich nicht hinausgegangen ist, indem er an einer friedlichen Demonstration zu Gunsten eines Oppositionspolitikers teilgenommen hatte und eine weitere Teilnahme plante.

In anderen Teilen der Russischen Föderation hätte dem Kläger seinerzeit eine inländische Fluchtalternative nur dann zur Verfügung gestanden, wenn er sich entsprechend dem Vorstehenden „ruhig verhalten“ und von jeder öffentlichen Kundgebung seiner politischen Auffassung Abstand genommen hätte. Das jedoch konnte von ihm weder seinerzeit verlangt werden noch kann es von ihm im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung verlangt werden.

Der Kläger hat sein Heimatland auch in nahem zeitlichen Zusammenhang mit den als Verfolgung gewerteten Misshandlungen aus dem Oktober 2017 und April 2018 verlassen. An dem von Art. 16a Abs. 1 GG geforderten kausalen Zusammenhang zwischen Verfolgung und Flucht fehlt es (auch) nicht deshalb, weil der Kläger nach eigenem Bekunden nicht bereits die neuerlichen Misshandlungen im April 2018, sondern erst eine Reportage über Asylsuchende in Deutschland aus dem August/September 2018 zum Anlass genommen hat, das Land im Dezember 2018 legal zu verlassen (BVerfG, Urt. v. 26. November 1986 – 2 BvR 1058/85 –, juris; BVerwG, Urt. v. 19. Mai 1987 – BVerwG 9 C 184.86 –, juris Rn. 11).

Dem Vorstehenden entsprechend wäre der Kläger auch bei einer – unterstellten – Rückkehr in die Russische Föderation vor erneuter politischer Verfolgung nur dann hinreichend sicher, wenn er sich jeder öffentlichen politischen Kundgabe einer abweichenden politischen Meinung enthalten würde. Das jedoch verlangt das Asylrecht von ihm nicht.

Der Asylanerkennung des Klägers steht Art. 16a Abs. 2 GG i. V. m. § 26a Abs. 1 AsylG ebenfalls nicht entgegen, wonach sich auf das Asylgrundrecht des Art. 16a Abs. 1 GG nicht berufen kann, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften oder aus einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt ist. Der Kläger ist mit seiner Familie jedoch, wie die bereits im Verwaltungsverfahren vorgelegten Unterlagen und Eintragungen in den Reisepässen belegen, auf dem Luftweg (von Moskau nach Berlin) in das Hoheitsgebiet der Beklagten gelangt, ohne zuvor in einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften oder einem anderen (sicheren) Drittstaat gewesen zu sein.

2. Dem Kläger steht auch einen Anspruch zu, die Flüchtlingseigenschaft zu erhalten. Nach § 3 Abs. 4 1. Hs. AsylG wird einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, wenn er Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist; Flüchtling (im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge – BGBl. 1953 II S. 559, 560) ist Jemand, der sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.

Insoweit gilt das zum Asylgrundrecht des Art. 16a Abs. 1 GG Ausgeführte entsprechend.

3. Die Abschiebungsandrohung ist nach § 34 Abs. 1 S. 1 AsylG, § 59 Abs. 1 S. 1 AufenthG, aufzuheben, weil der Kläger als Asylberechtigter anerkannt und ihm die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde.

IV. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO und § 83b AsylG.

Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit des Urteils hinsichtlich der Kosten beruht auf § 167 Abs. 1 S. 1 und Abs. 2 VwGO i. V. m. § 708 Nr. 11, § 709 S. 1 und 2 und § 711 S. 1 und 2 der Zivilprozessordnung (ZPO).