Gericht | OLG Brandenburg 1. Strafsenat | Entscheidungsdatum | 29.08.2022 | |
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Aktenzeichen | 1 AR 25/22 | ECLI | ECLI:DE:OLGBB:2022:0829.1AR25.22.00 | |
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen |
Die Entschließung der Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg vom 10. Mai 2022, die Auslieferung des Verfolgten an Polen auf Grundlage des Nachtragsersuchens der polnischen Behörden vom 17. Januar 2022, Geschäftszeichen XIV Kop 94/21, als unzulässig ablehnen zu wollen, wird nach vollinhaltlicher Überprüfung gerichtlich bestätigt.
I.
Der Senat hat mit Beschluss vom 08. März 2021 (1 AR 11/20) die Auslieferung des Verfolgten an die Republik Polen zum Zwecke der Vollstreckung des Restes einer Freiheitsstrafe von noch zwei Jahren, drei Monaten und fünf Tagen aus ursprünglich drei Jahren wegen Diebstahls in drei Fällen aus dem rechtskräftigen Urteil des Amtsgerichts Wejherowo vom 27. März 2019 (Az.: II K 1505/18) unter Spezialitätsvorbehalt für zulässig erklärt. Zugleich hat der Senat die Entschließung der Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg, keine Bewilligungshindernisse geltend zu machen, nach vollumfänglicher Überprüfung gerichtlich bestätigt.
Der Verfolgte war daraufhin an Polen ausgeliefert worden.
Mit Schreiben vom 17. Januar 2022 haben die polnischen Behörden in Gestalt eines Nachtragsersuchens um Bewilligung der Vollstreckung zweier weiterer Strafen ersucht, die nicht vom ursprünglichen Europäischen Haftbefehl umfasst waren.
(1.) Mit dem Urteil des Amtsgerichts Wejherowo vom 28. Juni 2019 (Az.: II K 433/19) ist der Verfolgte wegen am 07. Juni 2018 begangenen Diebstahls einer Putzmaschine im Wert von 20.000 PLN zum Nachteil der K… L… zu einer Freiheitsstrafe von 8 Monaten verurteilt worden.
(2.) Des Weiteren verurteilte das des Amtsgerichts Wejherowo im Wege eines Strafbefehls am 22. November 2018 (Az.: II K 1402/18) den Verfolgten wegen des am 27. Juni 2018 festgestellten Besitzes von Betäubungsmitteln (2,78 g Amphetamin) und des am 27. Juni 2018 begangenen Fahrens eines PKWs unter dem Einfluss von Betäubungsmitteln zu einer Freiheitsbeschränkungsstrafe von einem Jahr. Diese Strafe ist durch Beschluss des Amtsgerichts Wejherowo vom 13. November 2019 in eine Ersatzfreiheitsstrafe von 6 Monaten und 2 Tagen umgewandelt worden, wobei das Gericht angenommen hat, dass ein Tag der Ersatzstrafe zwei Tagen der Freiheitsbeschränkungsstrafe entspräche; zugleich hat das Gericht den Vollzug der Strafe angeordnet.
Bereits zuvor, mit Schreiben vom 22. Januar 2022, hatte sich der Verfolgte aus polnischer Haft eigeninitiativ an die Generalstaatsanwaltschaft mit einer Stellungnahme gewandt und gebeten, die Nachtragsbewilligung nicht zu erteilen.
Mit Schreiben vom 18. Februar 2022 hat sich die Generalstaatsanwaltschaft an die ersuchende Stelle gewandt und um ergänzende Auskünfte hinsichtlich der Problematik der Abwesenheitsentscheidungen gebeten, die den beiden Straferkenntnissen, die nunmehr in Polen zusätzlich vollstreckt werden sollen, zu Grunde lagen.
Daraufhin hat das Bezirksgericht Danzig unter dem 15. März 2022 mitgeteilt, dass die Verurteilung des Verfolgten durch das Amtsgericht Wejherowo am 28. Juni 2019 (Aktenzeichen II K 433/19) in Abwesenheit des Verfolgten erfolgte. Obgleich die Generalstaatsanwaltschaft danach gefragt hatte, finden sich in der Antwort keine Angaben über eine Vertretung durch einen Verteidiger. Das Bezirksgericht Danzig hält die Ladung, die an den Verfolgten geschickt wurde, für zugestellt, da sie an eine Anschrift versandt wurde, die der Verfolgte zu einer früheren Phase des Verfahrens als Zustelladresse benannt hatte. Da die Ladung dort nicht faktisch zugestellt werden konnte, wurde zweimal eine Abholnachricht hinterlegt, aufgrund derer jedoch keine Abholung der Ladung beim Postamt durch den Verfolgten erfolgte.
Hinsichtlich der Verurteilung durch das Amtsgericht Wejherowo vom 22. November 2018 (Aktenzeichen II K 1402/18) teilt das Bezirksgericht Danzig mit, der Verfolgte sei zunächst im Strafbefehlswege zur Ableistung gemeinnütziger Arbeit verurteilt worden. Das Urteil sei ihm persönlich ausgehändigt worden und er habe kein Rechtsmittel dagegen eingelegt. Später, bevor die Strafe vollstreckt werden konnte, sei der Verfolgte dann, so sinngemäß, untergetaucht. Das Gericht habe den Verfolgten dann an der letzten bekannten und von dem Verfolgten benannten Adresse zweimal geladen, wo erwartungsgemäß die Ladung nicht abgeholt worden sei. In der so anberaumten Verhandlung sei die Arbeitsstrafe dann in eine Freiheitsstrafe umgewandelt worden, auf deren beabsichtigte Vollstreckung sich nunmehr das Nachtragsersuchen beziehe.
Die Generalstaatsanwaltschaft erachtet die Auslieferung des Verfolgten nach der erteilten Auskunft der polnischen Behörden als unzulässig und hat deshalb von einer Bewilligungsentscheidung abgesehen.
Sie beantragt unter dem 10. Mai 2022, eingegangen beim Senat am 13. Mai 2022, die Zustimmung zu der beabsichtigten Versagung der Bewilligung der Auslieferung zu erteilen.
II.
1. Ein Tätigwerden des Senats in der Sache ist unabhängig davon veranlasst, ob Zweifel an der Richtigkeit oder Zulässigkeit der von der Generalstaatsanwaltschaft beabsichtigten Verfahrensweise besteht und ob in der Sache der Verfolgte gerichtlichen Rechtsschutz begehrt. Der Europäische Gerichtshof hat mit Urteil vom 24. November 2020 (C-510/19) entschieden, Art. 6 Abs. 2 und Art. 27 Abs. 3 lit. g und Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 geänderten Fassung dahin auszulegen, dass der Staatsanwalt eines Mitgliedstaates, der im Rahmen der Ausübung seiner Entscheidungsbefugnisse eine Einzelweisung seitens der Exekutive erhalten kann (vgl. § 146 GVG), keine „vollstreckende Justizbehörde“ ist. Dies macht weder das Tätigwerden der Generalstaatsanwaltschaft nach den Vorschriften des IRG noch die Vorschriften des IRG als solche rechtswidrig. Jedoch sind die Regelungen des IRG im Lichte der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes rahmenbeschlusskonform dahin auszulegen, dass die der Generalstaatsanwaltschaft übertragenen Entscheidungen zur Auslieferung in jedem Einzelfall gerichtlicher Überprüfung und Bestätigung bedürfen (vgl. OLG Karlsruhe, Beschlüsse vom 24. Februar 2020, Ausl 301 AR 167/19, zit. n. juris, dort Rn. 18, juris, und vom 4. Dezember 2020, Ausl 301 AR 173/20, juris, dort Rn.19). Das gilt – entgegen in der Rechtsprechung vereinzelt vertretener gegenteiliger Auffassung (vgl. OLG Dresden, Beschluss vom 17. Februar 2021, OLGAusl 258/20; OLG Braunschweig, Beschluss vom 11. Februar 2021, 1 AR (Ausl.) 17/20, zit. jew. n. juris) – auch dann, wenn diese Entscheidung im Einzelfall in der Ablehnung einer Auslieferung als unzulässig oder in der Geltendmachung von Bewilligungshindernissen besteht. Denn auch insoweit kann dem Umstand, dass die (General-) Staatsanwaltschaft keine „vollstreckende Justizbehörde“ im Sinne des Rahmenbeschlusses des Rates vom 13. Juni 2002 (2002/584/JI) ist, dadurch Rechnung getragen werden, dass die von der Generalstaatsanwaltschaft getroffenen Entscheidungen einer gerichtlichen Überprüfung und Bestätigung zugeführt werden. Dass dazu ein zusätzlicher, nach den Regeln des IRG nicht vorgesehener Prüfungsschritt vor dem Oberlandesgericht erforderlich wird, mag grundsätzliche Zweifel an der Statthaftigkeit einer solchen ergänzenden Auslegung begründen. Insoweit unterscheidet sich der Fall einer Negativ-Entscheidung der Generalstaatsanwaltschaft zur Zulässigkeit der Auslieferung aber in nichts von dem Verfahren über die Bewilligung einer Auslieferung im vereinfachten Verfahren. Auch hier wäre nach den Regelungen des IRG die Generalstaatsanwaltschaft dazu berufen, über die Bewilligung zu entscheiden und nach erfolgter Entscheidung für die Bewilligung die Auslieferung zu vollziehen, ohne eine gerichtliche Überprüfung herbeizuführen. Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 24. November 2020 bedingt die sachliche Notwendigkeit für die gerichtliche Überprüfung und Bestätigung bei Negativ-Entscheidungen in gleicher Weise wie bei Entscheidungen für die Auslieferung. Zwar droht hier nicht die Verletzung von Grundrechten des Verfolgten; wohl aber droht Stillstand dieses Teils der Rechtspflege innerhalb der Europäischen Union. Da die Generalstaatsanwaltschaft nicht „vollstreckende Justizbehörde“ im Sinne der Regelungen des Rahmenbeschlusses ist und das IRG niemand anderem diesbezügliche Zuständigkeiten zuweist, könnten ohne gerichtliche Bestätigung staatsanwaltschaftlicher Entschließungen nach dem IRG Auslieferungsentscheidungen in der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr getroffen werden. Das hätte zur Folge, dass dem wechselseitigen Vertrauen zwischen den Mitgliedsstaaten, das Grundlage für den Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl ist (vgl. Erwägungsgrund 10 des Rahmenbeschlusses 2002/584) die Grundlage entzogen würde. Die rechtliche Behelfskonstruktion einer gerichtlichen Überprüfung und Bestätigung der von der Generalstaatsanwaltschaft getroffenen Entscheidungen führt dabei, entgegen der Auffassung der Oberlandesgerichte Dresden und Braunschweig (vgl. OLG Dresden, Beschluss vom 17. Februar 2021, Az.: OLG Ausl 258/20, Rn. 10, juris und OLG Braunschweig, Beschluss vom 11. Februar 2021, Az.: 1 AR (Ausl.) 17/20, Rn. 27, juris), nicht dazu, dass das mit dieser Überprüfung und Bestätigung befasste Oberlandesgericht selbst zur Bewilligungsbehörde würde. In der Sache beschränkt die gerichtliche Prüfung sich vielmehr auf die Frage, ob oder ob nicht die von der Generalstaatsanwaltschaft getroffene Entscheidung/Entschließung sich tatsächlich an der Sach- und Rechtslage orientiert und insoweit nach juristischen Maßstäben Bestand haben kann. Dass diese Frage nur im Ergebnis einer vollinhaltlichen Überprüfung der Entscheidung der Generalstaatsanwaltschaft beantwortet werden kann, bedingt zwar einen zusätzlichen Verfahrensaufwand, der mit den Grundsätzen der Verfahrensökonomie kaum vereinbar ist. Aber auch insoweit unterscheidet sich die Entscheidung über die Unzulässigkeit oder Nicht-Bewilligung einer Auslieferung in nichts von der über ihre Bewilligung. Dass inzwischen die nicht ganz unbegründete Erwartung einer baldigen Änderung der innerstaatlichen deutschen Rechtslage besteht, die derartige Behelfskonstruktionen entbehrlich macht (vgl. OLG Dresden, Beschluss vom 17. Februar 2021, OLGAusl 258/20, juris, Rn. 11), ändert nichts an der Notwendigkeit, bis dahin auch den Aspekt der Sicherung der Funktionsfähigkeit des unionsrechtlichen Systems der gegenseitigen Anerkennung von Entscheidungen im Blick zu halten und zu Gunsten der ausstellenden Justizbehörden anderer Mitgliedsstaaten sicherzustellen, dass die nach Art. 15 ff. des Rahmenbeschlusses vorgesehenen Entscheidungen tatsächlich ergehen und die entsprechenden Mitteilungen, insbesondere nach Art. 22 des Rahmenbeschlusses, erfolgen können.
2. In der Sache führt die vollinhaltliche Überprüfung der von der Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg über die Auslieferung des Verfolgten getroffenen Entscheidung zu deren Bestätigung durch den Senat.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat zur Frage der Zulässigkeit der Auslieferung unter dem 10. Mai 2022 ausgeführt:
„Im Ergebnis hat die ersuchende Stelle [...] mitgeteilt, dass Ausnahmetatbestände im Sinne des Art. 4a RB EuHB nicht vorliegen. Die - sich unionsrechtlich als irrig erweisende - entgegenstehende Annahme der ersuchenden Behörde im Nachtragsersuchen stützt sich alleine auf die unionsrechtlich irrelevante Ladungsfiktion nach nationalem polnischen Prozessrecht.
Für die erstgenannte Verurteilung durch das Amtsgericht Wejherowo bedarf dies keiner näheren Darlegung. Was die zweitgenannte Verurteilung angeht, so liegt eine Besonderheit darin, dass zunächst eine Verurteilung zu einer Arbeitsstrafe erfolgte, die später in eine Freiheitsstrafe umgewandelt wurde. Anders als bei der Umwandlung von Bewährungsstrafen in unbedingte Freiheitsstrafen (gleiche Strafart, jedoch Widerruf der Bewährung) kommt es nach der insoweit maßgeblichen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs im Falle nachträglicher Entscheidungen, die, wie hier, eine andere Strafart festsetzen, für die Frage der Ladung alleine auf die zweite Verhandlung an (EuGH, Urteil vom 10. August 2017, C-271/17; EuGH, Urteil vom 22. Dezember 2017, C-571/17 PPU). Zu dieser zweiten Verhandlung wurde der Verfolgte hier jedoch ebenfalls alleine im Sinne der polnischen Zustellungsfiktion 'geladen'.
Nach § 83 Abs. 2 bis 4 IRG ist die Auslieferung damit zwingend unzulässig. Dass die Norm nach der maßgeblichen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ihrerseits insoweit unionsrechtswidrig sein dürfte, weil dem ersuchten Staat nach Art. 4a RB EuHB in Fällen wie dem vorliegenden ein Entscheidungsspielraum verbleiben muss, ob die Überstellung des Verfolgten trotz des Abwesenheitsurteils bewilligt wird, der deutsche Umsetzungsgesetzgeber einen solchen Spielraum jedoch ausgeschlossen hat, kann dahinstehen. Denn im vorliegenden Fall würde die Generalstaatsanwaltschaft angesichts auch dann, wenn ein Entscheidungsspielraum bestünde, beantragen, die Unzulässigkeit der Auslieferung festzustellen. Maßgeblich hierfür ist, dass die polnischen Behörden nach den Angaben im Schreiben vom 15. März 2022 bei Veranlassung der maßgeblichen Ladungen wussten bzw. vermuteten, dass der Verfolgte flüchtig war, sodass die Ladungsversuche sich materiell als reine Förmelei darstellten.“
Diesen Ausführungen, die der Sach- und Rechtslage entsprechen, tritt der Senat nach eigener Prüfung bei; die Entschließung der Generalstaatsanwaltschaft, die Auslieferung des Verfolgten wegen deren Unzulässigkeit versagen zu wollen, wird deshalb gerichtlich bestätigt.