Toolbar-Menü
 
Sie sind hier: Gerichtsentscheidungen Entscheidung

Entscheidung OVG 2 B 16.19


Metadaten

Gericht OVG Berlin-Brandenburg 2. Senat Entscheidungsdatum 07.10.2022
Aktenzeichen OVG 2 B 16.19 ECLI ECLI:DE:OVGBEBB:2022:1007.OVG2B16.19.00
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen § 3 AsylVfG 1992, § 3a AsylVfG 1992, § 3a AsylVfG 1992, § 4 AsylVfG 1992, Art 16a GG, § 60 Abs 5 AufenthG, § 60 Abs 7 AufenthG

Tenor

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 % des beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Der Kläger, ein türkischer Staatsangehöriger, begehrt seine Anerkennung als Asylberechtigter, hilfsweise internationalen Schutz sowie weiter hilfsweise die Feststellung von Abschiebungsverboten.

Der am … 1996 in der Türkei geborene Kläger ist kurdischer Volkszugehörigkeit und Sunnit. Zu seinem Reiseweg machte der Kläger unterschiedliche Angaben. Erst gab er an, er sei im August 2016 auf dem Luftweg von Istanbul nach Budapest gereist. Von Budapest aus sei er auf dem Luftweg nach Deutschland eingereist. Diese Reise habe ca. zwei bis drei Tage gedauert, er habe sich einen Tag in Ungarn in einem Hotel aufgehalten. Ursprünglich hatte der Kläger bei seiner Flüchtlingsersterfassung im Mai 2017 angegeben, er sei am 1. März 2017 nach Deutschland gekommen, und zwar sei er von der Türkei aus nach Ungarn geflogen und dann mit einem Lkw von Ungarn aus nach Deutschland eingereist. Einige Tage später gab er abweichend dazu an, er sei direkt von Istanbul nach Berlin geflogen und sei schon seit acht Monaten in Berlin. Am 26. Mai 2017 stellte er einen Asylantrag.

Der Kläger gab bei seiner Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am 12. Juni 2017 an, er habe in der Türkei die Mittelschule besucht und später Pistazien gesammelt und damit ca. 1.500 Lira (400 Euro) verdient. Er habe in der Türkei keinen Wehrdienst geleistet. Allerdings habe er sich für das Militär gemeldet. Als es den Putsch gegeben habe, habe er gesehen, dass Soldaten sterben. Er habe Angst bekommen und bereut, sich zum Militär gemeldet zu haben. Er habe zwar gewusst, dass man beim Militär unter anderem auch mit einer Waffe auf Menschen schießen müsse, aber nach dem Putsch sei „das mit dem Sterben und den Problemen mit dem Putsch“ viel stärker geworden. Er habe Angst zu sterben. Er habe Angst, zum Militär zu gehen. Konkrete Schritte, um dem Militärdienst in der Türkei zu entgehen, habe er nicht unternommen. Zudem seien sie, wenn sie ins Krankenhaus gegangen seien, wie Menschen zweiter Klasse behandelt worden, sie hätten viel länger warten müssen. Er sei in eine Moschee gegangen und sie hätten ihn damit beleidigt, IS-Mitglied zu sein. Er sei auch vor dem Präsidenten Erdogan geflüchtet, der in der Türkei eine Diktatur aufbaue. Er habe Angst, weil er Kurde sei. Bedrohungen habe es gegen ihn in der Türkei nicht gegeben. Gesundheitliche Einschränkungen habe er - abgesehen davon, dass er eine Brille trage - nicht.

Zu seiner Familie hat der Kläger angegeben, er habe drei Brüder. Sie lebten alle schon seit langer Zeit in Deutschland. Zwei hätten einen unbefristeten Aufenthalt, einer habe einen befristeten Aufenthaltstitel. Er habe in der Türkei zuletzt im Dorf B... (Landkreis B..., S...) gelebt und in einem Haus gewohnt, das seiner Familie gehöre. Dort lebten jetzt zwei Brüder, Mutter und Vater. Später erwähnte der Kläger noch eine ältere Schwerster, die das Abitur gemacht habe und zur Universität gegangen sei.

Mit Bescheid des Bundesamtes vom 3. Juli 2017, der dem Kläger am 10. Juli 2017 zugestellt worden ist, versagte die Beklagte dem Kläger die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, lehnte den Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter ab und erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu. Darüber hinaus stellte das Bundesamt fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorlägen und forderte den Kläger zur Ausreise auf. Es drohte für den Fall, dass er die Ausreisefrist nicht einhält, seine Abschiebung in die Türkei an und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung. Zur Begründung führte das Bundesamt im Wesentlichen aus, dass der Kläger in der Türkei nicht verfolgt werde. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus lägen nicht vor. Abschiebungsverbote seien nicht gegeben.

Mit seiner am 14. Juli 2017 bei dem Verwaltungsgericht Berlin erhobenen Klage verfolgte der Kläger sein Begehren weiter. Er teile die Einschätzung der Beklagten zur aktuellen politischen Situation in der Türkei nicht. Zur Begründung berief er sich insbesondere auf einen Bericht des Deutschlandfunks vom 13. Juli 2017, auf Reise- und Sicherheitshinweise des Auswärtigen Amtes für die Türkei mit Stand 9. August 2017 und einen Bericht der Süddeutschen Zeitung vom 6. August 2017.

Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit Urteil vom 4. September 2019 abgewiesen. Der Kläger habe keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, Anerkennung als Asylberechtigter, Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus und Feststellung von Abschiebungsverboten.

Der Senat hat die Berufung mit Beschluss vom 6. Dezember 2019 zugelassen, da dem Kläger vor dem Verwaltungsgericht das rechtliche Gehör versagt war.

Der Kläger hat seine Berufung unter Bezugnahme auf seine Ausführungen im Berufungszulassungsverfahren begründet. Insoweit macht er im Wesentlichen geltend, angesichts der politischen Entwicklung in der Türkei sei aufgrund seiner kurdischen Volkszugehörigkeit von einer flüchtlingsrelevanten Verfolgung auszugehen. Er habe im Termin vor dem Verwaltungsgericht zu seinen politischen Aktivitäten vorgetragen. Gerade heutzutage müsse von willkürlicher staatlicher Verfolgung für jene Kurden ausgegangen werden, die in irgendeiner Art und Weise politisch aktiv seien. Angesichts der schlechten wirtschaftlichen Lage und des schwindenden Vertrauens der türkischen Bevölkerung in ihren Präsidenten werde klassischer Weise versucht, das Volk mit Ablenkungsmanövern zu (ver)einen. In diesem Zusammenhang bestehe die Gefahr, dass mit Beendigung des militärischen Vormarsches der Türkei in Syrien wieder innenpolitische Themen aufkeimen werden. So biete es sich förmlich an, die kurdische Volksgruppe für alles Schlechte verantwortlich zu machen. Somit würde auch er aufgrund seiner beschriebenen politischen Aktivitäten in den Fokus staatlicher Verfolgung kommen. Daher sei von einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit auszugehen, was die Annahme einer Flüchtlingseigenschaft begründe.

Der Kläger beantragt,

das den Beteiligten jeweils am 19. September 2019 zugestellte Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin abzuändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 3. Juli 2017 zu verpflichten, den Kläger als Asylberechtigten anzuerkennen und ihm die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG zuzuerkennen,

hilfsweise dem Kläger subsidiären Schutz gemäß § 4 AsylG zuzuerkennen,

weiter hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG im Hinblick auf die Türkei vorliegen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie teile die Ansicht, dass dem Kläger allein aufgrund seiner kurdischen Volkszugehörigkeit eine flüchtlingsrelevante Verfolgung in der Türkei drohe, nicht. Der Kläger versäume, Erkenntnisquellen beizufügen, welche seine Ansicht stützen könnten. Soweit es um politische Aktivitäten von kurdischen Volkszugehörigen gehe, lasse sich keine allgemeingültige Antwort finden. Vielmehr komme es letztendlich auf die Umstände des Einzelfalles an.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen. Die vorgenannten Unterlagen waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Berufung ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Bescheid des Bundesamtes vom 3. Juli 2017 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, denn der Kläger hat keinen Anspruch auf das von ihm Begehrte (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).

1. Maßgebend für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist der Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung durch den Senat (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG; vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 - 10 C 23.12 - juris Rdn. 12).

2. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG.

a. Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.

Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher Weise betroffen ist. Diese Legaldefinition setzt Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Neufassung, ABl. L 337 S. 9, im Folgenden RL 2011/95/EU) um. § 3a Abs. 2 AsylG nennt im Einklang mit Art. 9 Abs. 2 RL 2011/95/EU einzelne Regelbeispiele von Verfolgungshandlungen. Danach kann die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt ebenso wie eine unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung ausreichen. Die Annahme einer Verfolgungshandlung setzt einen gezielten Eingriff in ein flüchtlingsrechtlich geschütztes Rechtsgut voraus (vgl. BVerwG, Urteil vom 19. Januar 2009 - 10 C 52.07 - juris Rdn. 22).

§ 3b Abs. 1 AsylG konkretisiert die in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Verfolgungsgründe. Nach § 3b Abs. 2 AsylG ist bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, unerheblich, ob dieser tatsächlich die flüchtlingsschutzrelevanten Merkmale aufweist, sofern ihm diese von seinem Verfolger zugeschrieben werden.

Zwischen den genannten Verfolgungsgründen und den in § 3a Abs. 1 und 2 AsylG beschriebenen Verfolgungshandlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG, Art. 9 Abs. 3 RL 2011/95/EU). Die Maßnahme muss darauf gerichtet sein, den von ihr Betroffenen gerade in Anknüpfung an einen oder mehrere Verfolgungsgründe zu treffen. Ob die Verfolgung in diesem Sinne „wegen“ eines Verfolgungsgrundes erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme zu beurteilen, nicht hingegen nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten. Diese Zielgerichtetheit muss nicht nur hinsichtlich der durch die Verfolgungshandlung bewirkten Rechtsgutverletzung anzunehmen sein, sondern auch in Bezug auf die Verfolgungsgründe im Sinne des § 3b AsylG, an die die Handlung anknüpft (vgl. BVerwG, Urteil vom 19. Januar 2009 - 10 C 52.07 - juris Rdn. 22; Beschluss vom 21. November 2017 - 1 B 148.17 - juris Rdn. 17). Für eine derartige Verknüpfung reicht ein Zusammenhang im Sinne einer Mitverursachung aus. Ein bestimmter Verfolgungsgrund muss nicht die zentrale Motivation oder alleinige Ursache einer Verfolgungsmaßnahme sein; indes genügt eine lediglich entfernte, hypothetische Verknüpfung mit einem Verfolgungsgrund nicht den Anforderungen des § 3a Abs. 3 AsylG (vgl. BVerwG, Urteil vom 19. April 2018 - 1 C 29.17 - juris Rdn. 13).

Die Furcht vor Verfolgung ist im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG begründet, wenn dem Ausländer - bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr - die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Hierfür ist erforderlich, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine individuelle Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Diese Würdigung ist auf der Grundlage einer „qualifizierenden“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung vorzunehmen. Hierbei sind gemäß Art. 4 Abs. 3 RL 2011/95/EU neben den Angaben des Antragstellers und seiner individuellen Lage auch alle mit dem Herkunftsland verbundenen flüchtlingsrelevanten Tatsachen zu berücksichtigen. Entscheidend ist, ob in Anbetracht der Gesamtumstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 - 10 C 23.12 - juris Rdn. 32 m.w.N.).

Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab gilt unabhängig von der Frage, ob der Antragsteller vorverfolgt ausgereist ist oder nicht. Vorverfolgte werden nach den unionsrechtlichen Vorgaben nicht über einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab, sondern über die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU privilegiert. Danach besteht bei ihnen eine tatsächliche Vermutung, dass ihre Furcht vor Verfolgung begründet ist. Diese Vermutung kann widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe dagegen sprechen, dass ihnen erneut eine derartige Verfolgung droht (vgl. BVerwG, Urteil vom 1. Juni 2011 - 10 C 25.10 - juris Rdn. 22 zur inhaltsgleichen Regelung in Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/ EG; s. zum Ganzen auch BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 - 1 C 37.18 -, juris Rdn. 9 ff.; vgl. zum Vorstehenden insgesamt: OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 18. Februar 2022 - OVG 3 B 97.18 -, S. 6 ff. EA).

Es obliegt dem Schutzsuchenden, die Gründe für das Verlassen seiner Heimat schlüssig darzulegen. Er muss unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt schildern, aus dem sich - als wahr unterstellt - ergibt, dass er bei verständiger Würdigung politischer Verfolgung unterliegt. Hierzu gehört, dass er zu den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinem persönlichen Schicksal eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den geltend gemachten Anspruch auf Abschiebungsschutz lückenlos zu tragen. Unauflösbare Widersprüche und erhebliche Steigerungen des Vorbringens sind hiermit nicht vereinbar und können dazu führen, dass dem Vortrag im Ganzen nicht geglaubt werden kann (vgl. Sächsisches OVG, Urteil vom 22. November 2014 - A 3 A 519/12 -, juris Rdn. 37).

b. Gemessen daran erfüllt der Kläger nicht die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Ihm droht im Falle einer hypothetischen Rückkehr in die Türkei keine Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG i.V.m. §§ 3a, 3b AsylG.

c. Eine Gruppenverfolgung allein wegen seiner kurdischen Volkszugehörigkeit hat der Kläger nicht zu befürchten.

Die rechtlichen Voraussetzungen für die Anerkennung einer Gruppenverfolgung sind in der höchstrichterlichen Rechtsprechung grundsätzlich geklärt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 16. November 2015 - 1 B 76.15 -, juris Rdn. 4). Danach kann sich die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer, der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG begehrt, nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben (anlassgeprägte Einzelverfolgung), sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (Gefahr der Gruppenverfolgung). Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten auch zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unverfügbares Merkmal wie die Religion anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen. Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt - abgesehen von den Fällen eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms - ferner eine bestimmte „Verfolgungsdichte“ voraus, welche die „Regelvermutung“ eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Auch für die Gruppenverfolgung gilt, dass sie mit Rücksicht auf den allgemeinen Grundsatz der Subsidiarität des Flüchtlingsrechts den Betroffenen einen Schutzanspruch im Ausland nur vermittelt, wenn sie im Herkunftsland landesweit droht (vgl. BVerwG, Urteil vom 21. April 2009 - 10 C 11.08 -, juris Rdn. 13 f. m.w.N.; BVerfG, Beschluss vom 23. Januar 1991 - 2 BvR 902.85, 2 BvR 515.89, 2 BvR 1827.89 -, juris Rdn. 37 ff.). Diese ursprünglich für die unmittelbare und die mittelbare staatliche Gruppenverfolgung entwickelten Grundsätze sind prinzipiell auch auf die private Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure übertragbar.

Die Rechtsprechung geht - soweit ersichtlich einhellig - davon aus, dass kurdische Volkszugehörige in der Türkei keiner Gruppenverfolgung im Sinne der §§ 3, 3a, 3b Abs. 1 Nr. 4 b) AsylG unterliegen (vgl. OVG des Saarlandes, Beschluss vom 19. März 2021 - 2 A 76/21 -, juris Rdn. 9 und Beschluss vom 16. November 2020 - 2 A 309/20 -, juris Rdn. 12; Sächsisches OVG, Beschluss vom 5. Juli 2019 - 3 A 608/19.A -, juris Rdn. 8; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27. August 2013 - A 12 S 2023/11 -, juris Rdn. 37; OVG NRW, Beschluss vom 29. Juli 2014 - 8 A 1678/13.A -, juris Rdn. 10; BayVGH, Beschluss vom 3. Juni 2016 - 9 ZB 12.30404 -, juris Rdn. 6; Sächsisches OVG, Beschluss vom 28. Mai 2018 - 3 A 120/18.A -, juris Rdn. 8; VG Aachen, Urteil vom 27. April 2018 - 6 K 6072/17.A -, juris Rdn. 35 ff.; VG Magdeburg, Urteil vom 19. Februar 2019 - 11 A 8/18 -, juris Rdn. 53 ff.; VG Augsburg, Urteil vom 30. April 2019 - Au 6 K 17.33876 -, juris Rdn. 35 ff.).

Die aktuellen Erkenntnisse, insbesondere die sich aus dem aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amtes ergebenden (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 28. Juli 2022 - Stand: Juni 2022 -, S. 9 f.), bestätigen diese Einschätzung. Danach unterliegen kurdische Volkszugehörige in der Türkei zwar einer gewissen Diskriminierung. Es fehlt aber jedenfalls an der für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderlichen kritischen Verfolgungsdichte. In der Türkei leben etwa 13 Mio. bis 15 Mio. kurdische Volkszugehörige, wobei die Angaben zu Zahlenstärken recht unzuverlässig sind. Die Kurden stellen die größte Minderheit in der Bevölkerung der Türkei dar (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 28. Juli 2022 - Stand: Juni 2022 -, S. 9 f.). Türkische Staatsbürger nichttürkischer Volkszugehörigkeit sind keinen staatlichen Repressionen aufgrund ihrer Abstammung unterworfen. Die Ausweispapiere enthalten keine Aussage zur ethnischen Zugehörigkeit. Der private Gebrauch der kurdischen Sprache ist in Wort und Schrift seit Anfang der 2000er Jahre keinen staatlichen Restriktionen mehr ausgesetzt. Der amtliche Gebrauch ist allerdings eingeschränkt. Unterricht in kurdischer Sprache ist an öffentlichen Schulen seit 2012 und an privaten seit 2014 möglich (Wahlpflichtfach „Lebendige Sprachen und Mundarten“), wird in der Praxis aufgrund faktischer Barrieren aber oftmals nicht angeboten. Seit 2009 dürfen Ortschaften im Südosten ihre kurdischen Namen zurückerhalten. Die verfassungsrechtliche Festschreibung von Türkisch als einziger Nationalsprache bleibt bestehen. Kurdisch-sprachige Medien sind seit Ende des Friedensprozesses 2015 und nach dem Putschversuch 2016 vermehrt staatlichem Druck ausgesetzt; zahlreiche kurdischsprachige Medien wurden verboten (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 28. Juli 2022 - Stand: Juni 2022 -, S. 9 f.).

Unabhängig davon finden Kurden in der Westtürkei internen Schutz im Sinne von § 3e Abs. 1 AsylG (vgl. VG Magdeburg, Urteil vom 19. Februar 2019 - 11 A 8/18 -, juris Rdn. 58; BayVGH, Beschluss vom 22. September 2015 - 9 ZB 14.30399 - juris). Sie können ihren Wohnort innerhalb der Türkei wechseln und dort ihr Auskommen finden. In den letzten Jahrzehnten ist etwa die Hälfte der kurdischen Bevölkerung der Türkei in die West-Türkei ausgewandert, sowohl um dem bewaffneten Konflikt zu entkommen, als auch auf der Suche nach wirtschaftlichen Möglichkeiten. In städtischen Zentren wächst eine kurdische Mittelschicht, vor allem im Westen der Türkei (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation Türkei, Stand: 10. März 2022, S. 132).

d. Eine flüchtlingsschutzrelevante Verfolgungsgefahr ergibt sich nicht aus den von dem Kläger angeführten individuellen Umständen.

aa. Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass dem Kläger wegen des von ihm vor dem Verwaltungsgericht hinsichtlich politischer Aktivitäten Geschilderten mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine an die Verfolgungsgründe nach § 3 Abs. 1 AsylG anknüpfende Verfolgung droht.

Dabei kann offen bleiben, unter welchen Voraussetzungen politische Aktivitäten kurdischer Volkszugehöriger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr einer Verfolgung begründen. Denn der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat an seinem erstinstanzlichen Vorbringen zu den geltend gemachten politischen Betätigungen nicht festgehalten. Er hat vielmehr ausgeführt, er habe in der Türkei weder an Demonstrationen noch an Veranstaltungen von politischen Parteien teilgenommen. Auch an einer Feier zu Öcalans Geburtstag habe er nicht teilgenommen, sondern nur zugeschaut, als andere an seinem Dorf vorbeigezogen seien.

bb. Soweit der Kläger geltend gemacht hatte, er sei in der Moschee damit beleidigt worden, IS-Mitglied zu sein, ist sein Vorbringen nicht glaubhaft, denn es ist unsubstantiiert.

cc. Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung in Anknüpfung an einen für die Flüchtlingseigenschaft maßgeblichen Verfolgungsgrund besteht weder wegen einer unerlaubten Ausreise des Klägers aus der Türkei noch wegen seines Aufenthalts und/oder der Asylantragstellung in Deutschland. Anhaltspunkte für eine unerlaubte Ausreise des Klägers aus der Türkei liegen nicht vor. Der Kläger hatte vorgetragen, die Türkei mit seinem Reisepass verlassen zu haben. Zurückkehrende Asylbewerber kurdischer Volkszugehörigkeit werden nicht routinemäßig, d. h. ohne Vorliegen von Besonderheiten, allein aufgrund eines längeren Auslandsaufenthalts und einer Asylantragstellung bei der Wiedereinreise inhaftiert und/oder asylerheblichen Misshandlungen oder Folter ausgesetzt (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27. August 2013 - A 12 S 2023/11 -, juris Rdn. 19; AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 28. Juli 2022 - Stand: Juni 2022 -, S. 24 f.).

dd. Eine begründete Furcht vor Verfolgung ergibt sich auch nicht mit Blick auf eine dem Kläger drohende Heranziehung zum Wehrdienst oder auf dem Kläger infolge einer Wehrdienstentziehung drohende Sanktionen.

(1) In der Türkei unterliegt jeder männliche türkische Staatsangehörige zwischen dem 19. und 41. Lebensjahr der Wehrpflicht. Söhne und Brüder von gefallenen Soldaten können vom Wehrdienst befreit werden (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 28. Juli 2022 - Stand: Juni 2022 -, S. 12). Nach dem türkischen Wehrdienstgesetz ist jeder Mann in der Türkei zur Einberufung verpflichtet und muss sich ab dem 1. Januar des Jahres, in dem er zwanzig Jahre alt wird, anmelden (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation Türkei, Stand: 10. März 2022, S. 71). Das Wehrpflichtgesetz vom 25. Juni 2019 (Nr. 7179) hat den Wehrdienst auf sechs Monate verkürzt, wobei im Ausland geleisteter Wehrdienst nicht angerechnet wird. Zudem wurde eine (auf 145.000 Personen pro Jahr kontingentierte) Freikaufoption eingeführt. Die Befreiung erfolgt für Inlandstürken durch Bezahlung eines Pauschalbetrags (aktuell: 55.194 TL) und Ableistung eines Grundwehrdienstes von einem Monat in Form einer Fernausbildung. Auch Auslandstürken können sich vom Wehrdienst freikaufen, für derzeit rund 4400 EUR (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 28. Juli 2022 - Stand: Juni 2022 -, S. 12 f.). Nebst Personen, die sich dem Militärdienst entziehen, und Deserteuren sind u.a. auch jene im Ausland lebenden Staatsbürger von der Freikaufsoption ausgeschlossen, die eine Aufenthalts- oder Arbeitserlaubnis infolge eines Asylantrages erhalten haben (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation Türkei, Stand: 10. März 2022, S. 72). Das Gesetz in der Türkei macht keinen Unterschied zwischen Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft. Dies gilt auch für die Vorschriften über den Militärdienst und die Rekrutierung. Daher ist es möglich, dass ein türkischer Wehrpflichtiger kurdischer Herkunft in einer Provinz eingesetzt wird, in der die Mehrheit der Bevölkerung kurdisch ist. Es gibt keine politische Intention, türkisch-kurdische Wehrpflichtige gegen türkisch-kurdische Kämpfer einzusetzen (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation Türkei, Stand: 10. März 2022, S. 73).

Ein Recht zur Verweigerung des Wehrdienstes oder der Ableistung eines Ersatzdienstes besteht nicht. Das Urteil des EGMR Ülke./.Türkei aus dem Jahr 2006 ist trotz deutlicher Mahnungen des Ministerkomitees des Europarats noch nicht umgesetzt (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 28. Juli 2022 - Stand: Juni 2022 -, S. 12). Personen, die sich dem Prozess der abschließenden militärischen Musterung respektive Prüfung der Rekrutierung (final military draft inspection) entziehen, gelten als sogenannte yoklama kaçagi (Vor-Registrierungs-Wehrdienstverweigerer). Wehrpflichtige, die dem Aufgebot der Militärbüros nicht Folge leisten, und diejenigen, die nach Abschluss ihrer Registrierungen nicht dem entsprechenden militärischen Ausbildungszentrum oder der entsprechenden Einheit beitreten, werden bakaya (Nach-Registrierungs-Wehrdienstverweigerer) genannt (vgl. SFH, Auskunft vom 14. Juni 2019, Türkei: Grenzkontrolle nach Nichtbefolgen des Aufgebots zur Rekrutierung zum Wehrdienst - Musterung -, S. 4). Sobald die Behörden Kenntnis davon haben, dass jemand zu einem yoklama kaçagi oder bakaya geworden ist, werden Name und Adresse der betroffenen Person von den Verwaltungsbehörden an die Sicherheitsbehörden (die Polizei oder die Gendarmerie) weitergeleitet. Die Sicherheitsbehörden sind autorisiert, nach diesen Personen zu suchen. Die Informationen über eine Wehrdienstverweigerung werden in die Polizeidatenbank eingetragen. Die türkischen Behörden unterhalten eine hochentwickelte nationale Datenbank für den Militärdienst, die eine Umgehung desselben nahezu unmöglich macht. Auch an Grenzkontrollen wird der Wehrdienststatus überprüft. Wenn die Person aufgrund des Wehrdienstentzugs als gesucht gemeldet ist, wird sie an der Grenze verhaftet (vgl. SFH, Auskunft vom 14. Juni 2019, Türkei: Grenzkontrolle nach Nichtbefolgen des Aufgebots zur Rekrutierung zum Wehrdienst - Musterung -, S. 5).

Seit Änderung von Art. 63 tMilStGB ist nunmehr bei unentschuldigtem Nichtantritt oder Fernbleiben vom Wehrdienst statt einer Freiheitsstrafe zunächst eine Verwaltungsgeldstrafe zu verhängen. Anwendung findet hierbei Art. 17 Abs. 7 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten Nr. 5326. Subsidiär bleiben aber Haftstrafen bis zu sechs Monaten möglich. Die Verjährungsfrist für die Strafverfolgung richtet sich nach Art. 66e tStGB und beträgt bis zu acht Jahren für den Fall, dass die Tat mit Freiheitsstrafe bedroht ist. Bis 2009 kam es bei Wehrdienstentziehung auch zur Aberkennung der türkischen Staatsangehörigkeit (Art. 25ç tStAG a.F.). Die gesetzliche Bestimmung wurde durch Novellierung des Staatsangehörigkeitsgesetzes vom 29. Mai 2009 - in Kraft seit 12. Juni 2009 - abgeschafft. Seitdem können Personen, die u. a. wegen Art. 25 ç tStAG a.F. die türkische Staatsangehörigkeit verloren haben, unabhängig von ihrem Wohnsitz erneut die türkische Staatsangehörigkeit gemäß Artikel 43 tStAG n.F. erhalten (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 28. Juli 2022 - Stand: Juni 2022 -, S. 12 f.).

(2) Die Heranziehung zum Wehrdienst in der Türkei stellt keine Form politischer Verfolgung dar, da sie allgemein gegenüber allen männlichen Staatsangehörigen ausgeübt wird (vgl. BVerwG, Beschluss vom 16. Januar 2018 - 1 VR 12/17 - juris Rdn. 86 m.w.N.).

(3) Dass eine Wehrdienstentziehung in der Türkei strafbewehrt ist, führt ebenfalls nicht zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Denn nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts stellen die an eine Wehrdienstentziehung geknüpften Sanktionen, selbst wenn sie von totalitären Staaten ausgehen, nur dann eine flüchtlingsrechtlich erhebliche Verfolgung dar, wenn sie nicht nur der Ahndung eines Verstoßes gegen eine allgemeine staatsbürgerliche Pflicht dienen, sondern darüber hinaus den Betroffenen auch wegen seiner Religion, seiner politischen Überzeugung oder eines sonstigen asylerheblichen Merkmals treffen sollen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 24. April 2017 - 1 B 22.17 -, juris Rdn. 14 m.w.N.). Dafür ist nach obigen Ausführungen in der Türkei nichts ersichtlich (vgl. auch Sächsisches OVG, Beschluss vom 3. Februar 2020 - 3 A 60/20.A -, juris Rdn. 10). Auch der Kläger behauptet nicht, dass er wegen eines asylerheblichen Merkmals eine härtere als die sonst übliche Bestrafung bei seiner Rückkehr zu erwarten hätte.

(4) Der Umstand, dass in der Türkei nicht die Möglichkeit besteht, den Wehrdienst zu verweigern, führt zu keiner anderen Beurteilung. Eine Verletzung der von Art. 9 EMRK garantierten Gewissensfreiheit kommt hier nicht in Betracht, denn der Kläger hat den Wehrdienst nicht aus Gewissensgründen verweigert. Eine Gewissensentscheidung in diesem Sinn ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts eine sittliche Entscheidung, die der Kriegsdienstverweigerer innerlich als für sich bindend erfährt und gegen die er nicht handeln kann, ohne in schwere Gewissensnot zu geraten; erforderlich ist eine Gewissensentscheidung gegen das Töten von Menschen im Krieg und damit die eigene Beteiligung an jeder Waffenanwendung. Sie muss absolut sein und darf nicht situationsbezogen ausfallen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 16. Januar 2018 - 1 VR 12.17 -, juris Rdn. 87). Dem Vorbringen des Klägers lässt sich eine Gewissensentscheidung in vorgenanntem Sinn nicht entnehmen. Denn der Kläger, der geäußert hat, er habe Angst davor zum Militär zu gehen und davor, zu sterben, hat auch angegeben, er wolle keinen Wehrdienst für den türkischen Staat leisten, hingegen sei er bereit, dies für einen kurdischen Staat zu tun.

(5) Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist nicht mit Blick auf § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG gerechtfertigt. Danach kann auch die Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt eine Verfolgungshandlung darstellen, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen.

Dabei kann offen bleiben, ob § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG voraussetzt, dass der Betroffene entweder Militärangehöriger ist oder vor seiner Flucht war und sich dem Militärdienst durch Flucht entzogen hat bzw. entzieht, was jedenfalls eine Einberufung zum Militärdienst verlangt (vgl. dazu: Sächsisches OVG, Beschluss vom 3. Februar 2020 - 3 A 60/20.A -, juris Rdn. 11) oder ob einem Schutzsuchenden, der sich auf § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG beruft, grundsätzlich nicht allein entgegengehalten werden kann, er sei noch kein Militärangehöriger oder er habe noch keinen Einberufungsbefehl erhalten (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 29. Januar 2021 - OVG 3 B 68.18 -, juris Rdn. 27). Denn Flüchtlingsschutz kommt insoweit nur denjenigen zugute, für die es bei vernünftiger Betrachtung plausibel erscheint, dass sie sich bei der Ausübung des Militärdienstes in hinreichend unmittelbarer Weise an solchen Handlungen beteiligen müssten (vgl. Sächsisches OVG, Beschluss vom 3. Februar 2020 - 3 A 60/20.A -, juris Rdn. 11). Das ist bei dem Kläger nicht der Fall, ohne dass es einer Entscheidung bedarf, ob in dem sich weiter zuspitzenden Konflikt des türkischen Staates mit der PKK sowohl in der Türkei selbst, insbesondere im Südosten, als auch in Nordsyrien und im Nordirak (vgl. BAMF, Länderreport Türkei, Die Entwicklung des Kurdenkonflikts, der PKK und der HDP, Stand: 12/2021, S. 2, 25) Verbrechen oder Handlungen begangen werden, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen. Es ist nicht beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger als Wehrpflichtiger in diesem Konflikt eingesetzt würde. Denn die türkische Armee hat vor einigen Jahren den Einsatz von Wehrpflichtigen im Kampf eingestellt; abgesehen davon wird der Einsatzort für den Wehrdienst durch das Los bestimmt (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation Türkei, Stand: 10. März 2022, S. 72).

3. Der Kläger hat keinen Anspruch auf eine Anerkennung als Asylberechtigter nach Art. 16a Abs. 1 GG. Offen bleiben kann, ob ein solcher Anspruch an Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG scheitert, denn nach dem zum Flüchtlingsstatus bereits Ausgeführten liegen auch die Voraussetzungen des Art. 16a Abs. 1 GG mangels Verfolgungsgefahr nicht vor.

4. Der Kläger hat ferner keinen Anspruch auf Gewährung subsidiären Schutzes i.S. des § 4 Abs. 1 AsylG. Insoweit ist nichts ersichtlich, was über den Gegenstand seines vorrangigen Begehrens auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG und Anerkennung als Asylberechtigter gemäß Art. 16a GG hinausgeht. Nach dem bereits Ausgeführten lässt sich nicht erkennen, dass ihm bei einer Rückkehr in die Türkei ein ernsthafter Schaden droht. Das gilt insbesondere auch hinsichtlich einer etwaigen Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung.

5. Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und/oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen bezogen auf den Kläger im Hinblick auf die Türkei nicht vor.

a. Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit eine Abschiebung nach den Bestimmungen der Europäischen Menschenrechts-konvention unzulässig ist. Dies umfasst auch das Verbot der Abschiebung in einen Zielstaat, in dem dem Ausländer unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne von Art. 3 EMRK droht. Angesichts des bereits Ausgeführten besteht für den Kläger keine konkrete Gefahr der Folter oder relevante unmenschlichen oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung durch einen staatlichen oder nichtstaatlichen Akteur.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kommt eine Verletzung des Art. 3 EMRK in besonderen Ausnahmefällen auch bei "nichtstaatlichen" Gefahren aufgrund prekärer Lebensbedingungen in Betracht, bei denen ein "verfolgungsmächtiger Akteur" (§ 3c AsylG) fehlt, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung "zwingend" sind mit Blick auf die allgemeine wirtschaftliche Lage und die Versorgungslage betreffend Nahrung, Wohnraum und Gesundheitsversorgung. Die einem Ausländer im Zielstaat drohenden Gefahren müssen hierfür jedenfalls ein "Mindestmaß an Schwere" (minimum level of severity) aufweisen; es kann erreicht sein, wenn er seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern kann, kein Obdach findet oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhält. In seiner jüngeren Rechtsprechung stellt der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH, Urteile vom 19. März 2019 - C-297/17 u.a. -, juris Rdn. 89 ff. und - C-163/17 -, juris Rdn. 90 ff.) darauf ab, ob sich die betroffene Person "unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not" befindet, "die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre" (vgl. zum Vorstehenden: BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 - 1 C 45.18 -, juris Rdn. 11 f.).

Dafür ist hier nichts ersichtlich. Der Kläger, der vor seiner Ausreise aus der Türkei in der Pistazienernte gearbeitet hat, ist 26 Jahre alt, gesund und erwerbsfähig. Er hat in der Türkei Familienangehörige. Unabhängig von der Frage, ob und in welchem Umfang er Rückkehrhilfen in Anspruch nehmen kann (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 28. Juli 2022 - Stand: Juni 2022 -, S. 20) ist davon auszugehen, dass er nach einer Rückkehr in die Türkei seinen Lebensunterhalt durch eigene Arbeit wird bestreiten können und dass er im Übrigen auf familiäre Unterstützung zurückgreifen kann. Vor seiner Ausreise hat er mit seinen Eltern in einem der Familie gehörenden Haus zusammengelebt, seine drei in Deutschland lebenden Brüder haben nach seinem Bekunden Geld für Essen an die Familie geschickt. Zudem leben in der Türkei nach seinen Angaben weitere Angehörige seiner Großfamilie.

b. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegt nicht vor. Nach dieser Norm soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Dafür, dass dem Kläger bei einer Rückkehr in die Türkei Gefahren i.S.d. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG drohen könnten, hat er Hinreichendes nicht vorgetragen. Anhaltspunkte dafür, dass er im Falle seiner Rückkehr aufgrund von Bedingungen, denen die Bevölkerung oder eine Bevölkerungsgruppe, der der Kläger angehört, allgemein ausgesetzt ist, mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt, sind nicht ersichtlich.

6. Die Abschiebungsandrohung findet ihre Rechtsgrundlage in §§ 34, 38 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG.

7. Die im Bescheid des Bundesamtes vom 3. Juli 2017 enthaltene Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1, 2 und 3 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung ist nicht zu beanstanden. Umstände, die eine Reduzierung der Länge des Verbots angezeigt erscheinen ließen, hat der Kläger nicht aufgezeigt.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 10, § 711 der Zivilprozessordnung.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keiner der in § 132 Abs. 2 VwGO genannten Gründe vorliegt.