Gericht | LArbG Berlin-Brandenburg 23. Kammer | Entscheidungsdatum | 27.04.2022 | |
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Aktenzeichen | 23 Sa 905/21 | ECLI | ECLI:DE:LAGBEBB:2022:0427.23SA905.21.00 | |
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen |
I. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgericht Cottbus vom 22.04.2021 – 3 Ca 876/20 – abgeändert:
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 1.416,38 EUR brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.01.2019 zu zahlen.
II. Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.
III. Die Revision wird für die Beklagte zugelassen.
Die Parteien streiten um einen Anspruch des Klägers auf Überzeitzuschläge für das Jahr 2018.
Der Kläger war seit Januar 2001 bei der Beklagten, einem Betrieb der Fahrzeuginstandhaltung im Konzern der D. B., beschäftigt. Er war zuletzt seit Januar 2011 als Prüftechniker/Messfahrten der Entgeltgruppe 106 des Funktionsgruppenspezifischen Tarifvertrags für Tätigkeiten der Funktionsgruppe 1 – Anlagen- und Fahrzeuginstandhaltung – verschiedener Unternehmen des DB-Konzerns (nachfolgend: FGr 1-TV) zugeordnet.
Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien finden kraft beidseitiger Tarifbindung und arbeitsvertraglicher Bezugnahme die für die Beklagte maßgeblichen Haustarifverträge des DB-Konzerns Anwendung, darunter im Jahr 2018 der FGr 1-TV in der Fassung vom 12.12.2016, der auszugsweise die folgenden Regelungen enthielt:
Abschnitt III
Zulagen und Prämien
§ 18 Überzeitzulage
(1) Arbeitnehmer erhalten für Überzeit eine Überzeitzulage in Höhe von 4,02 EUR (ab 01. Januar 2018 in Höhe von 4,13 EUR) je Stunde.
….
Abschnitt VI
Arbeitszeit
§ 37 Individuelles regelmäßiges Jahresarbeitszeit-Soll
(1) Als Vollzeitarbeit gilt eine - auf der Basis beidseitiger Freiwilligkeit - individuell vereinbarte Arbeitszeit von 1.827 bis 2.088 Stunden (individuelles regelmäßiges Jahresarbeitszeit-Soll) ausschließlich der gesetzlichen Ruhepausen im Kalenderjahr (Abrechnungszeitraum). Als Teilzeitarbeit gilt ein - auf der Basis beidseitiger Freiwilligkeit - individuell vereinbartes regelmäßiges Jahresarbeitszeit-Soll von weniger als 1.827 Stunden im Abrechnungszeitraum.
Protokollnotiz:
Ist in einem zwischen dem 01. Januar 2005 und dem 28. Februar 2011 abgeschlossenen Arbeitsvertrag auf eine „derzeit“ tarifvertraglich höchstmögliche Jahresarbeitszeit von 2.088 Stunden abgestellt worden, so ist diese Vereinbarung ab dem 01. März 2011, sofern nicht ausdrücklich abweichende Absprachen bestehen, unbeschadet Abs. 1 so auszulegen, dass die ab 01. März 2011 maßgebende Referenzarbeitszeit von 2.036 Stunden gemeint ist. ……
§ 38 Überzeit
(1) Überzeit ist die Zeit, die vom Arbeitnehmer auf Anordnung über das individuelle regelmäßige Jahresarbeitszeit-Soll abzüglich des Vortrags nach § 39 Abs. 5 - mindestens jedoch über 1.827 Stunden - geleistet wurde, einschließlich der Zeit, die nach den tarifvertraglichen und gesetzlichen Bestimmungen zu verrechnen bzw. anzurechnen ist. …….
§ 39 Arbeitszeitkonto
(1) Für Arbeitnehmer wird ein Arbeitszeitkonto geführt, in dem die geleisteten Zeiten und die nach den tarifvertraglichen und gesetzlichen Bestimmungen zu verrechnenden bzw. anzurechnenden Zeiten fortlaufend erfasst werden. Das Arbeitszeitkonto dient auch als arbeitszeitrechtliche Grundlage für das Entgelt. ….
(3) Der Einsatz der Arbeitnehmer soll mit dem Ziel eines ausgeglichenen Kontostandes am Ende eines Abrechnungszeitraumes geregelt werden. …
(5) Bei Überschreiten des individuellen Jahresarbeitszeit-Solls am Ende des Abrechnungszeitraums werden 50 v.H. der Überschreitung auf den folgenden Abrechnungszeitraum vorgetragen. …
Der Vortrag in das Arbeitszeitkonto führt zur Reduzierung des individuellen Jahresarbeitszeit-Solls im folgenden Abrechnungszeitraum.
§ 41 Arbeitszeitbewertung
(1) Jeder Tag einer Arbeitsbefreiung mit Fortzahlung des Entgelts nach gesetzlichen oder tariflichen Bestimmungen wird im Arbeitszeitkonto der Arbeitnehmer mit der geplanten Arbeitszeit verrechnet. .…
(4) Jeder Tag einer Arbeitsverhinderung wegen Arbeitsunfähigkeit wird mit der Dauer der für den jeweiligen Tag geplanten Arbeitszeit des Arbeitnehmers bewertet. Sofern für einen Tag, an dem ein arbeitsunfähiger Arbeitnehmer grundsätzlich zu arbeiten gehabt hätte, die geplante Arbeitszeit nicht bestimmt ist, sind die auf die Werktage Montag bis Freitag fallenden Tage der Arbeitsunfähigkeit im Arbeitszeitkonto mit 1/261 des individuellen regelmäßigen Jahresarbeitszeit-Solls nach § 37 Abs. 1 zu bewerten. …
(6) Bei Versäumnis von Arbeitszeit ohne Anspruch auf Entgeltfortzahlung und bei Arbeitsbefreiung ohne Fortzahlung des Entgelts verringert sich das individuelle Jahresarbeitszeit-Soll um die entsprechende Arbeitszeit.
Der vollzeitig beschäftigte Kläger vereinbarte mit der Beklagten ein individuelles regelmäßiges Jahresarbeitszeit-Soll von 2.036 Stunden. Im Jahr 2017 überschritt der Kläger sein individuelles Jahresarbeitszeit-Soll um 106:14 Stunden (106,23 Industriestunden). Die Beklagte nahm gemäß § 39 Abs. 5 FGr 1-TV einen Vortrag in das Arbeitszeitkonto des Klägers von 53:07 Stunden (53,11 Industriestunden) vor. Unter Abzug dieses Vortrags von dem individuellen regelmäßigen Jahresarbeitszeit-Soll des Klägers ergab sich für das Jahr 2018 ein gemäß § 39 Abs. 5 FGr 1-TV reduziertes individuelles Jahresarbeitszeit-Soll und zugleich eine Überzeit-Schwelle i. S. d. § 38 Abs. 1 FGr 1-TV von 1.982,89 Industriestunden (2.036 h - 53,11 h).
Der Kläger war im Jahr 2018 mehr als sechs Wochen lang ununterbrochen arbeitsunfähig erkrankt. Im Zeitraum vom 20.08.2018 bis 19.10.2018 war er wegen der Überschreitung von sechs Wochen Arbeitsunfähigkeit ohne Anspruch auf Entgeltfortzahlung erkrankt und bezog Krankengeld sowie einen tariflich vereinbarten Krankengeldzuschuss von der Beklagten. Die Beklagte verrechnete die während der Arbeitsunfähigkeitszeit mit Entgeltfortzahlung geplante Arbeitszeit des Klägers mit der tatsächlich geleisteten Arbeitszeit. Sie reduzierte das individuelle Jahresarbeitszeit-Soll des Klägers um die für die Zeit der Arbeitsunfähigkeit ohne Entgeltfortzahlung (20.08. bis 19.10.2018) geplante Arbeitszeit von 342,95 Stunden auf 1.639,94 Stunden (1.982,89 – 342,95).
Der Kläger leistete im Jahr 2018 - trotz der zwei Monate andauernden Arbeitsunfähigkeit ohne Entgeltfortzahlung - auf Anordnung der Beklagten insgesamt 2.078,27 Stunden Arbeit, die die Beklagte vergütete bzw. teilweise dem Langzeitkonto des Klägers gutschrieb. Die Beklagte zahlte an den Kläger eine Überzeitzulage i. H. v. insgesamt 393,92 EUR brutto unter Ansatz von 4,13 EUR brutto pro Stunde für die 95,38 über die von ihr errechnete Überzeit-Schwelle hinausgehend geleisteten Arbeitsstunden (2.078,27 Stunden – 1.982,89 Stunden).
Der Kläger machte mit Schreiben vom 23.03.2019 die Zahlung einer Überzeitzulage für weitere 342,95 Stunden unter Hinweis darauf geltend, dass er insgesamt 438,33 Stunden über sein individuelles Jahresarbeitszeit-Soll hinaus gearbeitet habe. Die Beklagte lehnte die Zahlung einer weiteren Überzeitzulage mit Schreiben vom 29.05.2019 unter Hinweis darauf ab, dass nach Maßgabe der tariflichen Regelungen eine Zulage nur auf diejenige Überarbeit zu zahlen sei, die über das individuelle regelmäßige Jahresarbeitszeit-Soll abzüglich des Vortrags nach § 39 Abs. 5 FGr 1-TV hinaus geleistet worden sei, vorliegend auf 95,38 Stunden. Mit seiner Klage verfolgt der Kläger sein Begehren auf Zahlung einer Überzeitzulage von 4,13 EUR brutto pro Stunde für weitere 342,95 Stunden weiter.
Der Kläger hat die Auffassung vertreten, die Regelung in § 38 Abs. 1 FGr 1-TV führe in verschiedenen Konstellationen zu einer Benachteiligung der Arbeitnehmer, die trotz der Überschreitung des reduzierten individuellen Jahresarbeitszeit-Solls nicht ab der ersten darüber hinaus geleisteten Arbeitsstunde eine Zulage erhielten, sondern erst bei Überschreiten der Überzeit-Schwelle gemäß § 38 Abs. 1 FGr 1-TV. Dies gelte etwa bei der Reduzierung des individuellen Jahresarbeitszeit-Solls wegen krankheitsbedingter Versäumnis von Arbeit ohne Anspruch auf Entgeltfortzahlung. Durch die Reduzierung des individuellen Jahresarbeitszeit-Solls befinde sich der Kläger in vergleichbarer Lage mit einem teilzeitbeschäftigten Arbeitnehmer. Mit der Überzeitzulage werde der Zweck verfolgt, das durch geleistete Mehrarbeit hervorgerufene Freizeit-Opfer auszugleichen, wobei sämtliche Arbeitnehmer unabhängig vom Umfang ihrer zu leistenden Arbeitszeit bei deren Überschreitung in gleicher Weise ein Freizeit-Opfer erbrächten. Die Regelung in § 38 Abs. 1 FGr 1-TV verstoße im Falle von teilzeitbeschäftigten Arbeitnehmern gegen § 4 Abs. 1 Teilzeit- und Befristungsgesetz (TzBfG), weil diese trotz des erbrachten Freizeit-Opfers erst ab Erreichen der Vollzeitschwelle von 1.827 Stunden Überzeitzulagen erreichen könnten und daher benachteiligt würden. Seine Situation sei durch die Reduzierung des individuellen Jahresarbeitszeit-Solls wegen der Zeit der Arbeitsunfähigkeit ohne Entgeltfortzahlung mit derjenigen eines Teilzeitarbeitnehmers vergleichbar mit der Folge, dass die bei Teilzeitbeschäftigten gegen § 4 Abs. 1 TzBfG verstoßende tarifliche Regelung auch auf ihn nicht anwendbar sei. Er werde durch die Regelung in § 38 Abs. 1 FGr 1-TV in gleicher Weise wie ein Teilzeitarbeitnehmer benachteiligt, ohne dass die Ungleichbehandlung gegenüber einem vollzeitig beschäftigten Arbeitnehmer ohne Verringerung seines individuellen Jahresarbeitszeit-Solls unter irgendeinem rechtlichen Gesichtspunkt gerechtfertigt wäre.
Der Kläger hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger Überzeitzuschläge für das Jahr 2018 in Höhe von 1.416,38 EUR brutto zu zahlen nebst Verzugszinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 01.01.2019, hilfsweise seit Rechtshängigkeit.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat ausgeführt, nach Maßgabe der tariflichen Regelungen und insbesondere der §§ 18 Abs. 1, 38 Abs. 1 FGr 1-TV sei nur diejenige Überzeit zulagepflichtig, die über das individuelle regelmäßige Jahresarbeitszeit-Soll abzüglich des Vortrags aus dem Vorjahr hinaus geleistet werde, und nicht diejenige Arbeitszeit, die über das individuelle – ggf. verringerte – Jahresarbeitszeit-Soll geleistet werde. Durch die tarifliche Regelung zur Reduzierung des individuellen Jahresarbeitszeit-Solls im Falle der Arbeitsunfähigkeit ohne Entgeltfortzahlung bleibe das individuelle regelmäßige Jahresarbeitszeit-Soll unberührt. Nach dem Willen der Tarifvertragsparteien solle geleistete Überzeit nur für über die vertraglich geschuldete Zeit mit Zulagen belohnt werden, d. h. für die über das individuelle regelmäßige Jahresarbeitszeit-Soll abzüglich des Vortrags aus dem Vorjahr hinausgehende Überzeit. In dieser Konstellation sei die Überzeitzulage eine Gegenleistung für die Einbuße an Freizeit und für die Einschränkung der Dispositionsmöglichkeit über die Freizeit des Arbeitnehmers. Erst bei der Überschreitung des individuellen regelmäßigen Jahresarbeitszeit-Solls abzüglich des Vortrags seien die Tarifvertragsparteien vom Vorliegen einer durch die Zulage auszugleichenden Belastung ausgegangen. Da Arbeitnehmer mit einer Arbeitsunfähigkeitszeit von mehr als sechs Wochen während des Krankengeldbezuges keine Arbeitsleistung erbrächten, würde eine Anrechnung auch dieser entgeltfortzahlungsfreien Zeiten zu einer nicht gerechtfertigten Besserstellung gegenüber arbeitsfähigen und arbeitsleistenden Arbeitnehmern führen. Deshalb hätten die Tarifvertragsparteien in § 41 Abs. 1 und Abs. 6 FGr 1-TV bewusst zwischen arbeitsunfähigen Arbeitnehmern mit und ohne Entgeltfortzahlungsanspruch differenziert. Die Reduzierung des individuellen Jahresarbeitszeit-Solls für Arbeitnehmer ohne Entgeltfortzahlungsanspruch gemäß § 41 Abs. 6 FGr 1-TV sei erfolgt, um eine Pflicht dieser Arbeitnehmer zur Nacharbeit zu vermeiden. Da der Kläger ein vollzeitig beschäftigter Arbeitnehmer sei, sei für die streitgegenständliche Frage allein relevant, ob Arbeitsunfähigkeitszeiten von mehr als sechs Wochen bei der Soll-Arbeitszeit zu berücksichtigen seien. Dies sei nach dem Willen der Tarifvertragsparteien nicht der Fall, da bei einer über sechs Wochen hinausgehenden Arbeitsunfähigkeit das Arbeitsunfähigkeitsrisiko auch nach den gesetzlichen Regelungen der Arbeitnehmer zu tragen habe. Die Frage, ob ein teilzeitbeschäftigter Arbeitnehmer durch die tarifliche Regelung benachteiligt werden könnte, sei für den Rechtsstreit irrelevant, da der Kläger eine vollzeitige Beschäftigung vereinbart habe.
Das Arbeitsgericht hat die Klage mit der Begründung abgewiesen, der Kläger habe weder einen tarifvertraglichen Anspruch auf eine weitere Überzeitzulage noch verstießen die tariflichen Regelungen gegen höherrangiges Recht. Nach den tariflichen Regelungen in §§ 38, 39 und 41 FGr 1-TV (vom Arbeitsgericht unzutreffend als Basis-TV bezeichnet) sei für die Überzeit das individuelle regelmäßige Jahresarbeitszeit-Soll maßgeblich, das auf die vereinbarte Jahresarbeitszeit und nicht die aufgrund von Sonderumständen reduzierte Jahresarbeitszeit bezogen sei. Zuschlagspflichtig sei nach der klaren Regelung in § 38 Abs. 1 FGr 1-TV nur die Überzeit, die über die individuelle regelmäßige Jahresarbeitszeit abzüglich des Vortrags nach § 39 Abs. 5 FGr 1-TV angeordnet und geleistet werde. Die Zeiten einer Arbeitsunfähigkeit ohne Anspruch auf Entgeltfortzahlung führten nach § 41 Abs. 6 FGr 1-TV zur Reduzierung des individuellen Jahresarbeitszeit-Solls, um keine nachzuholende Arbeitszeitschuld wegen der Arbeitsunfähigkeit aufzubauen, und werde, anders als Arbeitsunfähigkeitszeiten mit Entgeltfortzahlungsanspruch, deshalb nicht als Arbeitszeit bewertet. Die tarifliche Regelung verstoße nicht gegen höherrangiges Recht. Insbesondere liege im Falle des Klägers kein Verstoß gegen § 4 Abs. 1 S. 1 TzBfG vor, da der Kläger nicht teilzeitbeschäftigt, sondern vollzeitbeschäftigt sei. Der Anwendungsbereich des § 4 Abs. 1 S. 1 TzBfG sei deshalb nicht eröffnet. Es liege auch kein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz vor. Die Tarifvertragsparteien seien nicht verpflichtet, differenzierende Regelungen für arbeitsunfähige Arbeitnehmer mit und ohne Entgeltfortzahlungsanspruch betreffend die Überzeitzulage zu schaffen. Die von den Tarifvertragsparteien getroffene Regelung, wonach eine Zulagepflicht bei Überzeit erst bei der Überschreitung des individuellen regelmäßigen Jahresarbeitszeit-Solls abzüglich des Vortrags aus dem Vorjahr entstehe, sei grundsätzlich sachlich vertretbar und nicht zu beanstanden. Es gebe keine Verpflichtung, eine Sonderregelung für Mehrarbeit in Fällen langer Phasen von Nichtarbeit wegen Arbeitsunfähigkeit zu treffen. Die Tarifvertragsparteien hätten die Grenzen ihrer tariflichen Regelungsmacht nicht überschritten, indem sie das individuelle regelmäßige Jahresarbeitszeit-Soll als Bezugspunkt für die Überzeitzulage festgelegt hätten. Die damit verbundene Folge, dass bei einer Arbeitsunfähigkeit von mehr als sechs Wochen eine Minderung des Arbeitsentgelts für den Arbeitnehmer eintrete, sei nicht unzulässig, da die Entgeltfortzahlungspflicht nur für sechs Wochen gesetzlich vorgesehen sei mit dem Ziel, eine Mehrbelastung des Arbeitgebers bei Arbeitsunfähigkeit über sechs Wochen hinaus zu vermeiden. Dies sei zumindest als sachlich vertretbarer Grund zu beurteilen, der sich auch auf die Reduzierung der Überzeitzulage auswirke.
Gegen dieses dem Kläger am 31.05.2021 zugestellte Urteil wendet er sich mit der am 29.06.2021 beim Landesarbeitsgericht eingegangen Berufung, die er – nach Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis zum 31.08.2021 – mit einem am 31.08.2021 beim Landesarbeitsgericht eingegangenen Schriftsatz begründet hat.
Der Kläger trägt vor, der Anwendungsbereich des § 4 TzBfG sei auch in seinem Fall eröffnet, obwohl er nicht teilzeitbeschäftigt sei, weil die Regelung in § 38 Abs. 1 FGr 1-TV grundsätzlich gegen § 4 Abs. 1 S. 1 TzBfG verstoße und daher wegen des Gesetzesverstoßes insgesamt gemäß § 134 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) nichtig sei. Die unwirksame Regelung sei auch nicht auf den Kläger anzuwenden mit der Folge seines Zulagenanspruchs für sämtliche über das verringerte individuelle Jahresarbeitszeit-Soll hinaus geleisteten Stunden. Der allgemeine Gleichheitssatz sei durch die tarifliche Regelung verletzt, weil kein sachlich vertretbarer Grund dafür vorliege, von langfristig erkrankten Arbeitnehmern außerhalb der Entgeltfortzahlung geleistete Überstunden nicht mit einer Zulage zu vergüten. Die Berücksichtigung sämtlicher über das individuelle Jahresarbeitszeit-Soll hinaus geleisteter Stunden für die Zulage führe nicht zu einer stärkeren Belastung der Beklagten als Arbeitgeberin, sondern zu einer gleichen Belastung betreffend erkrankte und nicht erkrankte Arbeitnehmer. Die bestehende tarifliche Regelung führe dagegen zu einer ungerechtfertigten Entlastung der Beklagten bei langzeiterkrankten Arbeitnehmern, ohne dass dies sachlich gerechtfertigt sei. Der allgemeine Gleichheitsgrundsatz nach Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) müsse von den Tarifvertragsparteien ebenso wie die Diskriminierungsverbote nach Art. 3 Abs. 2 und Abs. 3 GG beachtet werden. Im Übrigen führe auch die Anwendung der tariflichen Regelungen nicht zu einem Wegfall des Anspruchs auf Überzeitzulage für den Kläger für die geltend gemachten Stunden, da nach Maßgabe des § 41 Abs. 4 FGr 1-TV auch Arbeitsunfähigkeitszeiten ohne Entgeltfortzahlungsanspruch nicht als versäumte Arbeitszeit i. S. d. § 41 Abs. 6 FGr 1-TV zu bewerten seien, sondern als Arbeitszeit. Der Wortlaut des § 41 Abs. 4 FGr 1-TV beziehe sich auf jeden Tag der Arbeitsunfähigkeit ohne Differenzierung nach dem Bestehen eines Entgeltfortzahlungsanspruchs. Deshalb betreffe die Regelung in § 41 Abs. 6 FGr 1-TV ausschließlich alle anderen Fälle der Arbeitszeitversäumnis ohne Entgeltanspruch, z. B. die Elternzeit. Im Hinblick darauf habe sich bereits das individuelle Jahresarbeitszeit-Soll des Klägers nicht wie von der Beklagten angenommen verringert.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Arbeitsgerichts Cottbus vom 22.04.2021 – 3 Ca 876/20 – abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger Überzeitzuschläge für das Jahr 2018 in Höhe von 1.416,38 EUR brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz hieraus seit dem 01.01.20219 zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigt das angegriffene Urteil. Die Auslegung der §§ 18 Abs. 1, 38 Abs. 1 FGr 1-TV ergebe, dass maßgeblich für den Anspruch auf Überzeitzulage nicht das Überschreiten des individuellen Jahresarbeitszeit-Solls, sondern das Überschreiten des individuellen regelmäßigen Jahresarbeitszeit-Solls sei. Dabei könne das individuelle Jahresarbeitszeit-Soll durch besondere Umstände, z. B. die lange Arbeitsunfähigkeitszeit ohne Entgeltfortzahlungsanspruch, verringert werden, während das individuelle regelmäßige Jahresarbeitszeit-Soll entsprechend der Vereinbarung der Parteien stets gleichbleibe. Die Verringerung des individuellen Jahresarbeitszeit-Solls gemäß § 41 Abs. 6 FGr 1-TV für Zeiten des Krankengeldbezugs diene dem Zweck, den Aufbau von Arbeitszeitschulden wegen der Arbeitsunfähigkeitszeiten zu verhindern. Dies sei sachlich gerechtfertigt. Die eine Benachteiligung von Teilzeitbeschäftigten betreffende Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 19.12.2018 (10 AZR 231/18) könne für den vorliegenden Rechtsstreit nicht herangezogen werden, weil der Kläger weder teilzeitbeschäftigt noch einem teilzeitbeschäftigten Arbeitnehmer vergleichbar sei und durch die tarifliche Regelung nicht in seinem Freizeitbereich betroffen werde. Das Bundesarbeitsgericht habe in dieser Entscheidung den Eingriff in den geschützten Freizeitbereich gerade für Teilzeitarbeitnehmer für maßgeblich erachtet. Da der Anwendungsbereich des § 4 Abs. 1 TzBfG für den Kläger nicht eröffnet sei, seien diese Erwägungen nicht auf ihn übertragbar. Ein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz liege nicht vor, sondern der weite Gestaltungsspielraum der Tarifvertragsparteien aus Art. 9 Abs. 3 GG decke die tarifliche Regelung ab, da für differenzierende Regelungen ein sachlich vertretbarer Grund genüge. Vorliegend sei die Festlegung des Anspruchs auf Überzeitzulage nur bei Überschreiten der vereinbarten Arbeitszeit auch für langfristig erkrankte Arbeitnehmer sachlich vertretbar, da der Gesetzgeber bei Arbeitsunfähigkeitszeiten von mehr als sechs Wochen ebenfalls Regelungen getroffen habe, nach denen der Arbeitgeber außerhalb des Entgeltfortzahlungszeitraums von sechs Wochen nicht mehr belastet werden solle. Im Hinblick darauf könnten die Tarifvertragsparteien Arbeitsunfähigkeitszeiten von mehr als sechs Wochen auch bei der Überzeitzulage unberücksichtigt lassen.
Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Parteien im Berufungsverfahren wird auf den Schriftsatz des Klägers vom 31.08.2021 (Bl. 138 ff. d. A.) und dem Schriftsatz der Beklagten vom 05.11.2021 (Bl. 153 ff. d. A.) Bezug genommen.
I.
Die gemäß §§ 8 Abs. 2, 64 Abs. 1 und 2 Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG) statthafte Berufung des Klägers ist form- und fristgerecht gemäß §§ 64 Abs. 6 S. 1, 66 Abs. 1 S. 1 und 2 ArbGG, 519, 520 Zivilprozessordnung (ZPO) eingelegt und begründet worden. Sie ist damit zulässig.
II.
Die Berufung ist auch begründet. Nach §§ 18 Abs. 1, 38 Abs. 1 FGr 1-TV ist eine Überzeitzulage in den Fällen nicht vorgesehen, in denen das individuelle regelmäßige Jahresarbeitszeit-Soll abzüglich des Vortrags nach § 39 Abs. 5 FGr 1-TV und einschließlich der zu verrechnenden und anzurechnenden Zeiten nicht überschritten wird. Der Kläger hat nach dem Wortlaut der Regelungen in § 41 FGr 1-TV nicht die Voraussetzungen des § 38 Abs. 1 FGr 1-TV mit weiteren 342,95 Stunden erfüllt. Eine generelle Unwirksamkeit des § 38 Abs. 1 FGr 1-TV mit Auswirkung auf das Arbeitsverhältnis des Klägers liegt weder im Hinblick darauf vor, dass die Regelung gegen das Benachteiligungsverbot für Teilzeitkräfte gemäß § 4 Abs. 1 TzBfG verstoßen könnte, noch liegt ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 2 oder 3 GG vor. Der FGr 1-TV kann auch nicht dahin ausgelegt werden, dass sich ein Anspruch auf die begehrte Überzeitzulage in der vorliegenden Konstellation ergäbe, da die Voraussetzungen für eine solche ergänzende Tarifvertragsauslegung nicht erfüllt sind. Die tariflichen Regelungen in §§ 18 Abs. 1, 38 Abs. 1, 41 Abs. 6 FGr 1-TV verstoßen jedoch ohne einen dies rechtfertigenden sachlichen Grund gegen das Gleichbehandlungsgebot des Art. 3 Abs. 1 GG mit der Folge, dass für den Kläger betreffend die Überzeitzulage im Wege der „Anpassung nach oben“ eine Anrechnung seiner gesamten krankheitsbedingten Abwesenheitszeit vorzunehmen ist und er daher mit sämtlichen angeordneten Mehrarbeitsstunden die Überzeitschwelle des § 38 Abs. 1 FGr 1-TV überschritten hat. Anderenfalls führte die – aus anderen Gründen nachvollziehbare – tarifliche Regelung der §§ 38 Abs. 1, 41 Abs. 6 FGr 1-TV zu einem Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG als höherrangiges Recht und zu einer ungerechtfertigten Benachteiligung der Gruppe der vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmer mit unfreiwillig reduziertem individuellem Jahresarbeitszeit-Soll gegenüber der Gruppe der vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmer ohne eine solche nicht zu beeinflussende Reduzierung. Im Ergebnis sind daher Überzeitzuschläge in Höhe der Klageforderung für weitere 342,95 Stunden zu zahlen, deren Leistung die Beklagte angeordnet hat.
1. Nach §§ 18 Abs. 1, 38 Abs. 1, 41 Abs. 6 FGr 1-TV ist ein Anspruch des Klägers auf weitere Überzeitzulage nicht gegeben. Danach ist eine Überzeitzulage (nur) dann zu beanspruchen, wenn das individuelle regelmäßige Jahresarbeitszeit-Soll abzüglich des Vortrags aus dem Vorjahr nach § 39 Abs. 5 FGr 1-TV und unter Berücksichtigung anzurechnender bzw. zu verrechnender Zeiten auf Anordnung der Beklagten überschritten wird. Damit haben die Tarifvertragsparteien eine Regelung zur Überschreitung des gemäß § 39 Abs. 5 letzter Satz FGr 1-TV reduzierten individuellen Jahresarbeitszeit-Solls in § 38 Abs. 1 FGr 1-TV getroffen und diese Überschreitung als Überzeit definiert. Eine Anrechnung bzw. Verrechnung von Zeiten der Arbeitsunfähigkeit ohne Entgeltfortzahlungsanspruch erfolgt nach § 41 Abs. 6 FGr 1-TV, anders als bei Arbeitsunfähigkeit mit Entgeltfortzahlungsanspruch nach § 41 Abs. 1 FGr 1-TV, nicht. Dies ergibt die Auslegung der tariflichen Regelungen.
1.1. Das individuelle regelmäßige Jahresarbeitszeit-Soll des Klägers beträgt 2.036 Stunden. Die Tarifvertragsparteien haben das individuelle regelmäßige Jahresarbeitszeit-Soll in § 37 Abs. 1 FGr 1-TV mit einem vereinbarten Jahresarbeitszeit-Umfang definiert, wobei ein Umfang von 1.827 bis 2.036 Stunden als Vollzeitarbeit gilt. Regelmäßig ist ein Jahresarbeitszeit-Soll danach für Vollzeitbeschäftigte vereinbart, wenn individuell eine Vereinbarung über eine Jahresarbeitszeit zwischen 1.827 und 2.036 Stunden getroffen wird, die – bei rechnerisch stets gleicher Wochenarbeitszeit – einer Wochenarbeitszeit von 35 Stunden (1.827 h : 261 Tage x 5 Tage) bis 39 Stunden (2.036 h : 261 Tage x 5 Tage) entspricht. Daneben sieht § 37 Abs. 1 S. 2 FGr 1-TV die Möglichkeit der Vereinbarung eines individuellen regelmäßigen Jahresarbeitszeit-Solls von weniger als 1.827 Stunden vor, das als Teilzeitarbeit gilt. Maßgeblich ist, dass ein regelmäßiger Umfang des Jahresarbeitszeit-Solls individuell vereinbart wird. Eine solche Vereinbarung, bezogen auf 2.036 Stunden jährlich, haben die Parteien getroffen.
Der FGr 1-TV enthält keine Definition des individuellen Jahresarbeitszeit-Solls in Abgrenzung zum individuellen regelmäßigen Jahresarbeitszeit-Soll. Nach § 37 Abs. 4 FGr 1-TV erhöht sich das individuelle Jahresarbeitszeit-Soll im Folgejahr im Fall von Minderzeiten. Gemäß § 39 Abs. 5 letzter Satz FGr 1-TV führt der Vortrag von Überschreitungen des individuellen Jahresarbeitszeit-Solls in das Arbeitszeitkonto zu einer Reduzierung des individuellen Jahresarbeitszeit-Solls im Folgejahr. Nach § 41 Abs. 6 FGr 1-TV reduziert sich das individuelle Jahresarbeitszeit-Soll bei einer (unfreiwilligen) Versäumnis von Arbeitszeit ohne Entgeltfortzahlungsanspruch im Falle längerer Arbeitsunfähigkeit und bei (vereinbarter) Arbeitsbefreiung ohne Fortzahlung des Entgelts im laufenden Jahr. Danach handelt es sich bei dem individuellen Jahresarbeitszeit-Soll um – positive oder negative – Abweichungen vom vereinbarten individuellen regelmäßigen Jahresarbeitszeit-Soll im laufenden Jahr oder im Folgejahr, die für die individuell im Jahr geschuldete Arbeitsleistung maßgeblich sind. Mit Ausnahme der Reduzierung des individuellen Jahresarbeitszeit-Solls wegen längerer Arbeitsunfähigkeit ohne Anspruch auf Entgeltfortzahlung handelt es sich um Abweichungen, die der Arbeitnehmer selbst beeinflussen und steuern kann.
1.2. Der Kläger hatte im Jahr 2017 sein individuelles Jahresarbeitszeit-Soll um 106,23 Stunden überschritten. Deshalb sind gemäß § 39 Abs. 5 S. 1 FGr 1-TV 53,11 Stunden (50 %) auf das Jahr 2018 als folgendem Abrechnungszeitraum vorgetragen worden. Gemäß § 39 Abs. 5 letzter Satz FGr 1-TV führte dieser Vortrag zur Reduzierung seines individuellen Jahresarbeitszeit-Solls im Jahr 2018 auf 1.982,89 Stunden. Auf diesen Umfang war gemäß § 38 Abs. 1 FGr 1-TV die Überzeit-Schwelle festgelegt, wobei Zeiten einzuschließen waren, die nach den tarifvertraglichen und gesetzlichen Bestimmungen zu verrechnen bzw. anzurechnen waren. Eine Verrechnungsregelung enthält § 41 Abs. 1 FGr 1-TV, jedoch nicht § 41 Abs. 6 FGr 1-TV. Nach der Arbeitsunfähigkeitszeit ohne Entgeltfortzahlungsanspruch reduzierte die Beklagte das individuelle Jahresarbeitszeit-Soll – rechnerisch von beiden Parteien für zutreffend erachtet – um weitere 342,95 Stunden bezogen auf diesen Zeitraum ohne Entgeltfortzahlung auf insgesamt 1.639,94 Stunden. Diese Differenzzeit führt, sofern sie nicht als anzurechnende Arbeitszeit i. S. v. § 38 Abs. 1 FGr 1-TV berücksichtigt wird, nicht zu einer Überschreitung der Überzeitschwelle.
1.3. Etwas anderes ergibt sich nicht bei einer Auslegung der tariflichen Vorschriften über ihren Wortlaut hinaus. Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrags folgt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Auszugehen ist zunächst vom Tarifwortlaut. Zu erforschen ist der maßgebliche Sinn der Erklärung, ohne am Buchstaben zu haften. Dabei sind der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien und damit der von ihnen beabsichtigte Sinn und Zweck der Tarifnorm mit zu berücksichtigen, soweit sie in den tariflichen Normen ihren Niederschlag gefunden haben. Auch auf den tariflichen Gesamtzusammenhang ist abzustellen. Verbleiben noch Zweifel, können weitere Kriterien berücksichtigt werden. Im Zweifel ist die Tarifauslegung zu wählen, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Lösung führt (st. Rspr., zB BAG 11. November 2020 – 4 AZR 210/20 –, Rn. 20; 12. Dezember 2018 - 4 AZR 147/17 - Rn. 35 mwN).
Vorliegend ergibt sich unter Berücksichtigung dieser Auslegungskriterien keine feststellbare Abweichung vom Wortlaut der Regelungen. Die Tarifvertragsparteien wollten das vereinbarte individuelle regelmäßige Jahresarbeitszeit-Soll der Vollzeitbeschäftigten zur Grundlage der Bestimmung nehmen, ob Überzeit angefallen und mit einer Zulage zu vergüten ist. Sie haben über die Regelung in § 38 Abs. 1 FGr 1-TV zum Abzug der gemäß § 39 Abs. 5 FGr 1-TV vorgetragenen Zeiten für die Überzeit-Schwelle nicht auf das vereinbarte individuelle regelmäßige Jahresarbeitszeit-Soll, sondern auf das gemäß § 39 Abs. 5 letzter Satz FGr 1-TV bestimmte reduzierte individuelle Jahresarbeitszeit-Soll abgestellt und honorieren damit im Ergebnis die hälftige Überschreitung des vereinbarten Jahresarbeitszeit-Solls aus dem Vorjahr doppelt. Mit dem Zusatz in § 38 Abs. 1 FGr 1-TV zum Einschluss der Zeiten, die nach tarifvertraglichen und gesetzlichen Bestimmungen zu verrechnen bzw. anzurechnen sind, haben sie klargestellt, dass nicht ausschließlich tatsächlich geleistete Arbeitszeit, sondern auch die Arbeitszeit für das Erreichen der Schwelle maßgeblich ist, die nicht aufgrund geleisteter Arbeit, sondern aufgrund einer Bestimmung zur Anrechnung oder Verrechnung von Arbeitszeit anstelle tatsächlich geleisteter Arbeit zu berücksichtigen ist. Dabei haben die Tarifvertragsparteien die vereinbarte Mindestarbeitszeit für Vollzeitbeschäftigte von 1.827 Stunden jährlich als individuelles regelmäßiges Jahresarbeitszeit-Soll als zusätzliche Untergrenze eingezogen und damit ihrem Willen Ausdruck verliehen, eine Überzeitzulage grundsätzlich nur bei Überschreiten der für Vollzeitbeschäftigte maßgeblichen Jahresarbeitszeit zu gewähren. Eine ausdrückliche Regelung zur Überzeit betreffend vollzeitbeschäftigte Arbeitnehmer, deren individuelles Jahresarbeitszeit-Soll wegen längerer Arbeitsunfähigkeit gemäß § 41 Abs. 6 FGr 1-TV reduziert wird, haben die Tarifvertragsparteien nicht getroffen. Aus der Differenzierung bei der Anrechnung von Arbeitszeiten, die aufgrund krankheitsbedingten Ausfalls nicht geleistet werden, ergibt sich jedoch der Wille der Tarifvertragsparteien, eine positive Regelung mit Auswirkung auch auf den Anspruch auf Überzeitzulage nur insoweit zu treffen.
1.4. Die Regelung in § 38 Abs. 1 FGr 1-TV kann unter Berücksichtigung des Gleichbehandlungsgebots des Art. 3 Abs. 1 GG nicht ergänzend dahin ausgelegt werden, dass bei einer von beiden Parteien nicht zu beeinflussenden Reduzierung des individuellen Jahresarbeitszeit-Solls gemäß § 41 Abs. 6 FGr 1-TV wegen lang andauernder Arbeitsunfähigkeit ohne Entgeltfortzahlung eine Anrechnung der reduzierten Arbeitszeit zu erfolgen hat. Eine unbewusste Regelungslücke, die durch eine ergänzende Tarifvertragsauslegung nur auf diese Weise geschlossen werden könnte, liegt nicht vor.
1.4.1. Tarifvertragliche Regelungen sind einer ergänzenden Auslegung grundsätzlich nur dann zugänglich, wenn damit kein Eingriff in die durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Tarifautonomie verbunden ist. Die ergänzende Auslegung eines Tarifvertrags scheidet daher aus, wenn die Tarifvertragsparteien eine regelungsbedürftige Frage bewusst ungeregelt lassen und diese Entscheidung höherrangigem Recht nicht widerspricht. Voraussetzung für eine ergänzende Auslegung ist, dass entweder eine unbewusste Regelungslücke besteht oder eine Regelung nachträglich lückenhaft geworden ist (BAG 26. Januar 2017 – 6 AZR 450/15 – Rn. 24; 23. April 2013 – 3 AZR 23/11 – Rn. 29 mwN). In einem solchen Fall haben die Gerichte für Arbeitssachen grundsätzlich die Möglichkeit und die Pflicht, eine Tariflücke zu schließen, wenn sich unter Berücksichtigung von Treu und Glauben ausreichende Anhaltspunkte für den mutmaßlichen Willen der Tarifvertragsparteien ergeben. Allerdings haben die Tarifvertragsparteien in eigener Verantwortung darüber zu befinden, ob sie eine von ihnen geschaffene Ordnung beibehalten oder ändern. Solange sie daran festhalten, hat sich eine ergänzende Auslegung an dem bestehenden System und dessen Konzeption zu orientieren. Eine ergänzende Tarifauslegung scheidet aus, wenn den Tarifvertragsparteien ein Spielraum dafür bleibt, die Lücke zu schließen, und es ihnen wegen der verfassungsrechtlich geschützten Tarifautonomie überlassen bleiben muss, die von ihnen für angemessen gehaltene Regelung selbst zu finden (BAG 9. Dezember 2020 – 10 AZR 334/20 – Rn. 85).
1.4.2. Vorliegend ist bereits fraglich, ob eine Regelungslücke besteht. Durch die Differenzierung bei der Anrechnung ausgefallener Arbeitszeiten wegen Arbeitsunfähigkeit mit und ohne Entgeltfortzahlungsanspruch haben die Tarifvertragsparteien eine Regelung getroffen, die sich auf die Bestimmung der Überzeitzulage nach § 38 Abs. 1 FGr 1 TV auswirkt. Zwar fehlt eine ausdrückliche Regelung dazu, dass im Falle der Reduzierung des individuellen Jahresarbeitszeit-Solls eine solche Zulage tatsächlich nur im Ausnahmefall besonders umfangreicher angeordneter Mehrarbeit noch erreicht werden kann. Dies entsprach jedoch der jahrelangen Handhabung der Tarifvertragsparteien, sodass nicht davon ausgegangen werden kann, dass sie selbst eine Regelungslücke erkannt hätten.
Eine unbewusste Regelungslücke könnte im Hinblick darauf bestehen, dass der Sinn und Zweck der Regelung in § 41 Abs. 6 FGr 1 TV auf die Vermeidung von Nacharbeit gerichtet war und die Auswirkungen dieser Regel auf die Vergütung dennoch überobligatorisch auf Anordnung geleisteter Arbeit mit Zulagen unbewusst unberücksichtigt geblieben sein können. Bei Annahme dieser Konstellation fehlen jedoch ausreichende Anhaltspunkte für einen mutmaßlichen Willen der Tarifvertragsparteien, entgegen der jahrelang geübten Tarifpraxis für die Berechnung der Überzeit-Schwelle eine Anrechnung auch der Arbeitszeiten vorzunehmen, die zu einer Reduzierung des individuellen Jahresarbeitszeit-Solls gemäß § 41 Abs. 6 FGr 1 TV geführt haben. Im Hinblick auf den Gestaltungsspielraum der Tarifvertragsparteien auf der Grundlage von Art. 9 Abs. 3 GG fehlen Anhaltspunkte dafür, wie sie eine unterstellte unbewusste Regelungslücke hätten schließen wollen. Deshalb kann vorliegend eine ergänzende Tarifvertragsauslegung unter Schließung der
- von der Kammer angenommenen - Regelungslücke nicht erfolgen.
2. Ein unmittelbarer tariflicher Anspruch auf Anrechnung der auf die wegen Arbeitsunfähigkeit von mehr als 6 Wochen (ohne Entgeltfortzahlungsanspruch) entfallenden Arbeitszeit ergibt sich entgegen der Einschätzung des Klägers nicht aus § 41 Abs. 4 FGr 1-TV. Mit dieser Regelung wird ausschließlich die Bewertung und nicht die Anrechnung von Arbeitsunfähigkeitszeiten geregelt.
Bei der Überzeit ist nach Maßgabe von § 38 Abs. 1 FGr 1-TV die Zeit zu berücksichtigen, die nach den tarifvertraglichen und gesetzlichen Bestimmungen zu verrechnen bzw. anzurechnen ist. Im Falle der Arbeitsunfähigkeit ist gemäß § 41 Abs. 1 FGr 1-TV jeder Tag einer Arbeitsbefreiung mit Fortzahlung des Entgelts nach gesetzlichen oder tariflichen Bestimmungen im Arbeitszeitkonto mit der geplanten Arbeitszeit zu verrechnen, während gemäß § 41 Abs. 6 FGr 1-TV bei Arbeitsunfähigkeitszeiten ohne Entgeltfortzahlung nach dem Wortlaut der Regelung keine Verrechnung oder Anrechnung erfolgt, sondern sich das individuelle Jahresarbeitszeit-Soll entsprechend verringert. Dabei ist sowohl bei der Verrechnung als auch bei der Verringerung nach den Absätzen 1 und 6 gemäß § 41 Abs. 4 FGr 1-TV jeder Tag der Arbeitsverhinderung wegen Arbeitsunfähigkeit mit der Dauer der für diesen Tag geplanten Arbeitszeit zu bewerten und ist ein Durchschnittswert anzusetzen, sofern keine geplante Arbeitszeit für diesen Tag bestimmt ist. Die Regelung in § 41 Abs. 4 FGr 1-TV zur Bewertung der Tage der Arbeitsunfähigkeit betrifft sowohl Arbeitsunfähigkeit mit als auch ohne Entgeltfortzahlungsanspruch. Damit wird jedoch lediglich geregelt, mit welcher Anzahl von Stunden ein solcher Tag rechnerisch bewertet wird. Eine Regelung, wie Arbeitsunfähigkeitstage mit und ohne Entgeltfortzahlungsanspruch arbeitszeitlich berücksichtigt werden, findet sich dagegen in § 41 Abs. 1 und Abs. 6 FGr 1-TV und beinhaltet eine klare Differenzierung. Aus § 41 Abs. 4 FGr 1-TV ergibt sich daher keine Gleichstellung beider Fälle für die Anrechnung der tatsächlich nicht gearbeiteten Zeiten.
3. Die Regelung in § 38 Abs. 1 FGr 1-TV ist nicht per se gemäß § 134 BGB wegen Gesetzesverstoßes nichtig, weil sie Teilzeitbeschäftigte entgegen § 4 Abs. 1 TzBfG benachteiligen könnte. Sofern eine Benachteiligung für Teilzeitbeschäftigte durch die tarifliche Regelung eintritt, führt dies ausschließlich für Teilzeitbeschäftigte und das auf sie bezogene Benachteiligungsverbot zu einem Anwendungsverbot. Der Kläger ist jedoch nicht teilzeitbeschäftigt, sondern hat mit der Beklagten seine Vollzeitbeschäftigung vereinbart. Durch die faktisch nur während 10 von 12 Monaten des Jahres 2018 ausgeübte Arbeitstätigkeit mit Entgelt bzw. Entgeltfortzahlung ist keine Teilzeitvereinbarung zwischen den Parteien getroffen worden. Eine faktische Teilzeit ohne entsprechende Vereinbarung führt nicht dazu, dass der Kläger Teilzeitbeschäftigter i. S. d. FGr 1-TV oder des TzBfG wäre. Der Anwendungsbereich des Teilzeit- und Befristungsgesetzes ist deshalb für den Kläger nicht eröffnet, und es kann vorliegend dahinstehen, ob durch die Regelung in § 38 Abs. 1 FGr 1-TV ein Teilzeitbeschäftigter wegen seiner Teilzeitarbeit ohne dies rechtfertigenden sachlichen Grund schlechter als ein vergleichbarer vollzeitbeschäftigter behandelt wird.
4. Soweit der Kläger zuletzt ausgeführt hat, die tarifliche Regelung in § 38 Abs. 1 FGr 1-TV verstoße gegen Art. 3 Abs. 2 und Art. 3 Abs. 3 GG, ist dies nicht nachvollziehbar. Der Kläger hat weder einen Anhaltspunkt dafür vorgetragen noch ist ein solcher Anhaltspunkt sonst ersichtlich, dass die Regelung zu einem Verstoß gegen das Gebot der Gleichberechtigung von Männern und Frauen (Abs. 2) oder zu einer Diskriminierung wegen des Geschlechts, der Abstammung, der Rasse, der Sprache, der Heimat und Herkunft, des Glaubens, der religiösen oder politischen Anschauungen oder einer Behinderung (Abs. 3) vorläge.
5. Die tarifliche Regelung in §§ 18 Abs. 1, 38 Abs. 1, 41 Abs. 1 und 6 FGr 1 TV verstößt jedoch gegen das höherrangige Recht des allgemeinen Gleichheitsgrundrechts oder Gleichheitssatzes des Art. 3 Abs. 1 GG mit der Folge einer vorzunehmenden „Anpassung nach oben“ in der Weise, dass auch die Zeiten der Arbeitsunfähigkeit ohne Entgeltfortzahlungsanspruch bei der Ermittlung der Überzeit-Schwelle des § 38 Abs. 1 FGr 1 TV anzurechnen sind. Der Kläger hat daher Anspruch auf die mit der Klage geltend gemachten 1.416,38 EUR brutto für weitere 342,95 Stunden, um die die für ihn maßgebliche Überzeit-Schwelle von 1.982,89 Stunden im Jahr 2018 – zusätzlich zu den bereits berücksichtigten 95,38 Stunden - überschritten worden ist.
5.1. Die Tarifvertragsparteien sind nicht unmittelbar an Grundrechte gebunden, wenn sie tarifliche Normen setzen. Tarifnormen sind im Ausgangspunkt dennoch uneingeschränkt am allgemeinen Gleichheitssatz zu messen. Das allgemeine Gleichheitsgrundrecht des Art. 3 Abs. 1 GG bildet als grundlegende Gerechtigkeitsnorm in seiner Ausstrahlungswirkung als verfassungsrechtliche Wertentscheidung oder auch „Richtlinie“ eine ungeschriebene Grenze der Tarifautonomie. Diese Grenze ist zu beachten, obwohl Tarifnormen nicht selten Ergebnisse tarifpolitischer Kompromisse sind. Die Tarifvertragsparteien können durch die Ausstrahlungswirkung von Art. 3 Abs. 1 GG darin beschränkt sein, ihre Tarifautonomie als kollektivierte, von Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Privatautonomie auszuüben (BAG 19. November 2020 - 6 AZR 449/19 - Rn. 21). Nach Art. 3 Abs. 1 GG sind alle Menschen vor dem Gesetz gleich.
Das daraus folgende Gebot, wesentlich Gleiches gleich- und wesentlich Ungleiches ungleichzubehandeln, gilt für ungleiche Belastungen und ungleiche Begünstigungen. Verboten ist auch ein gleichheitswidriger Begünstigungsausschluss, bei dem die Begünstigung einem Personenkreis gewährt und einem anderen Personenkreis vorenthalten wird. Differenzierungen sind nicht untersagt. Sie müssen jedoch durch Sachgründe gerechtfertigt sein, die dem Ziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen sind (BVerfG 26. Mai 2020 - 1 BvL 5/18 - Rn. 94; BAG 9. Dezember 2020 – 10 AZR 334/20 – Rn. 26 ff., 33). Bei der Überprüfung von Tarifnormen am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG haben die Arbeitsgerichte die in Art. 9 Abs. 3 GG ebenfalls verfassungsrechtlich verbürgte kollektive Koalitionsfreiheit angemessen zur Geltung zu bringen (BAG 2. September 2020 - 5 AZR 168/19 - Rn. 22; 9. Dezember 2020 – 10 AZR 334/20 – Rn. 39 ff. mwN).
5.2. Vorliegend sind die Voraussetzungen für eine „Anpassung nach oben“ erfüllt. Die Gruppe der unfreiwillig aufgrund längerer Arbeitsunfähigkeit mit einem reduzierten individuellen Jahresarbeitszeit-Soll versehenen Arbeitnehmer ist hinsichtlich der Überzeitzulagen mit der Gruppe der nicht unfreiwillig an der Arbeitsleistung verhinderten Arbeitnehmer gleichzubehandeln, weil ein sachlicher Differenzierungsgrund für eine Ungleichbehandlung hinsichtlich der Vergütung von Überzeit fehlt. Deshalb sind die reduzierten Stunden des individuellen Jahresarbeitszeit-Solls bei Arbeitsunfähigkeit ohne Entgeltfortzahlungsanspruch als anzurechnende Arbeitszeit i. S. v.
§ 38 Abs. 1 FGr 1-TV zu behandeln. Dadurch erfolgt die gebotene „Anpassung nach oben“, da auf andere Weise für die Vergangenheit kein Ausgleich geschaffen werden kann.
Die Gruppe der vollzeitig beschäftigten Arbeitnehmer, die ohne Möglichkeit der Einflussnahme für beide Parteien wegen einer längeren Arbeitsunfähigkeit über den Zeitraum der Entgeltfortzahlung hinaus zeitweise keine Arbeit leisten kann, wird gegenüber der Gruppe der vollzeitig beschäftigten Arbeitnehmer, die keinen Ausfall der Entgeltfortzahlung aufgrund von Arbeitsunfähigkeit hat, ohne sachlichen Grund benachteiligt, wenn beide Gruppen in gleichem Umfang zu von der Beklagten angeordneter Arbeitsleistung über ihr individuelles Jahresarbeitszeit-Soll hinaus herangezogen werden und nur die zweite Gruppe ohne Einschränkung dafür eine Überzeitzulage erhält. Bei der ersten Gruppe handelt es sich nicht lediglich um wenige Einzelfälle, die im Rahmen der tarifvertraglichen Regelungen vernachlässigt werden könnten. Arbeitsunfähigkeitszeiten, die über den Zeitraum der Entgeltfortzahlung von sechs Wochen hinaus andauern, kommen regelmäßig vor und sind nicht auf Einzelfälle beschränkt. Davon geht die Kammer grundsätzlich aus, und dies hat die Beklagte auf Nachfrage im Kammertermin des Berufungsverfahrens für ihren Betrieb bestätigt.
Der nachvollziehbare sachliche Grund für die Reduzierung des individuellen Jahresarbeitszeit-Solls in § 41 Abs. 6 FGr 1-TV hat den Zweck der Vermeidung von Nacharbeit und steht im Einklang mit dem aus § 39 Abs. 3 FGr 1-TV ersichtlichen Ziel der Tarifvertragsparteien, einen ausgeglichenen Stand des Arbeitszeitkontos zu erreichen und damit Mehr- oder Minderarbeit zu vermeiden. Damit ist jedoch kein sachlicher Grund für die unterschiedliche Vergütung von angeordneter Mehrarbeit verbunden, die in keinem Zusammenhang damit steht. Die Beklagte erreicht trotz der gemäß § 39 Abs. 3 FGr 1-TV und § 41 Abs. 6 FGr 1-TV zu vermeidenden Nacharbeit durch die Anordnung von Mehrarbeit gerade diese Nacharbeit. Die Gruppe der zeitweilig aufgrund von krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit an der Arbeitsleistung gehinderten Arbeitnehmer wird während der Aktiv-Phase des Arbeitsverhältnisses, im Falle des Klägers in 10 von 12 Monaten, in gleicher Weise zu Mehrarbeit herangezogen wie die Gruppe derjenigen Arbeitnehmer, die nicht mehr als sechs Wochen lang krankheitsbedingt ausfallen. Beide Gruppen haben dieselbe Einbuße bei der Gestaltung und der Reduzierung ihrer Freizeit hinzunehmen (vgl. zur gleichen Einschränkung der Dispositionsmöglichkeit über die eigene Freizeit für Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigte: BAG 19. Dezember 2018 – 10 AZR 231/18 – Rn. 43). Davon sind ausweislich des § 39 Abs. 3 FGr 1-TV auch die Tarifvertragsparteien ausgegangen, indem sie ein ausgeglichenes Arbeitszeitkonto am Jahresende als dem Abrechnungszeitraum als Ziel für den Einsatz der Arbeitnehmer vorgegeben haben, denn zu einem solchen Ausgleich kommt es dann, wenn weder Minder- noch Mehrarbeit über den Abrechnungszeitraum geleistet wird. Soweit die Beklagte eingewandt hat, das Bundesarbeitsgericht habe in seiner vorgenannten Entscheidung vom 19.12.2018 ausschließlich einen Eingriff in den geschützten Freizeitbereich gerade für Teilzeitarbeitnehmer für maßgeblich erachtet, trifft dies im Hinblick darauf zu, dass das Bundesarbeitsgericht über eine Differenzierung bei Überzeitzulagen zwischen Teilzeitarbeitnehmer und Vollzeitarbeitnehmern zu entscheiden hatte. Maßgeblich für die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts war insoweit jedoch die Feststellung, dass die Einschränkung der Dispositionsmöglichkeit über die eigene Freizeit Vollzeit- und Teilzeitkräfte in gleicher Weise trifft, da die geschützte Freizeit immer bereits dann betroffen ist, wenn mehr als die an sich vertraglich geschuldete Arbeitsleistung erbracht wird. Soweit die Einbuße an Freizeit belohnt und Eingriffe in den Freizeitbereich vermieden werden sollten, könne dies nur erreicht werden, wenn jegliche Mehrarbeit den Zuschlag auslöse. Danach gelte dasselbe Maß für sämtliche Arbeitnehmer, unabhängig vom Umfang ihrer regelmäßig vereinbarten Arbeitspflicht (vgl. BAG 19. Dezember 2018 a.a.O.). Dasselbe muss für die beiden Gruppen der vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmer mit oder ohne Entgeltfortzahlungsanspruch im Falle der Arbeitsunfähigkeit gelten, die dieselbe Einbuße an Freizeit trifft.
Durch die Reduzierung des individuellen Jahresarbeitszeit-Solls bei längerer Arbeitsunfähigkeit ohne Entgeltfortzahlung gemäß § 41 Abs. 6 FGr 1-TV wird zwar – im Einklang mit § 39 Abs. 3 FGr 1-TV – das beabsichtigte Ziel der Vermeidung von Nacharbeit für die Zeit, in der unabhängig vom Willen beider Parteien keine Arbeitsleistung erbracht werden konnte, verfolgt. Die mit dieser nachvollziehbaren Regelung verbundene erhebliche Beschränkung des Anspruchs auf Überzeitzulagen bei dennoch angeordneter Mehrarbeit nach der Regelung in § 38 Abs. 1 FGr 1-TV stellt jedoch einen sachlich nicht gerechtfertigten Nachteil dar.
Deshalb ist im Wege der „Anpassung nach oben“ die Zeit der Reduzierung des individuellen Jahresarbeitszeit-Solls gemäß § 41 Abs. 6 FGr 1-TV bei der Ermittlung der Überzeit-Schwelle gemäß § 38 Abs. 1 FGr 1-TV in gleicher Weise wie die Zeit der krankheitsbedingten Arbeitsversäumnis gemäß § 41 Abs. 1 FGr 1-TV anzurechnen. Im Ergebnis dieser Anrechnung hat der Kläger über die für ihn nach § 38 Abs. 1 FGr 1-TV maßgebliche Überzeitschwelle von 1.982,89 Stunden hinaus auf Anordnung der Beklagten weiterer 438,33 Stunden Arbeit geleistet, für die er eine Überzeitzulage von 4,13 EUR brutto pro Stunde beanspruchen kann. Abzüglich der bereits geleisteten Zulage für 95,38 Stunden verbleibt der mit der Klage geltend gemachten Zahlungsanspruch von 1.416,38 EUR brutto für weitere 342,95 Stunden.
5.3. Damit ist weder eine unangemessene Begünstigung der unter die Regelung des § 41 Abs. 6 FGr 1-TV fallenden länger erkrankten Arbeitnehmer verbunden noch ergibt sich ein sachlicher Grund für die Differenzierung zwischen beiden genannten Gruppen aus einer gewollten und zulässigen Risikoverlagerung zum Arbeitnehmer bei einer Arbeitsunfähigkeit von mehr als sechs Wochen. Es trifft zu, dass nach der gesetzlichen Regelung in § 3 Abs. 1 Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG) hinsichtlich der Vergütung während einer Arbeitsunfähigkeit das Risiko in den ersten sechs Wochen den Arbeitgeber und nachfolgend den Arbeitnehmer trifft. Dies gilt auch im Anwendungsbereich des FGr 1-TV, obwohl die Risikoverlagerung auf die Arbeitnehmer durch die Regelung zum Krankengeldzuschuss in erheblichem Umfang gemäß § 11 FGr 1-TV abgemildert wird, denn es verbleibt eine finanzielle Einbuße des Arbeitnehmers nach Ablauf des 6-Wochen-Zeitraums.
Die Differenzierung bei der Überzeitzulage steht jedoch in keinem Zusammenhang mit der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit und der während dieses Zeitraums zu beanspruchenden Vergütung. Der Kläger leistet nicht während oder wegen der Arbeitsunfähigkeit zulagepflichtige Überstunden, sondern im Gegenteil leistet er diese zusätzliche Arbeit trotz des krankheitsbedingten Ausfalls mit einer Verhinderung der Arbeitsleistung während der Arbeitsunfähigkeit. Im Falle des Klägers ist dies besonders plakativ. Denn die Beklagte hat ihn in 10 von 12 Monaten zu 438,33 Arbeitsstunden über sein gemäß § 41 Abs. 6 FGr 1-TV reduziertes individuelles Jahresarbeitszeit-Soll von 1.639,94 Stunden hinaus herangezogen und hat diese angeordnet. Dies entspricht einer durchschnittlichen monatlichen Mehrbelastung von annähernd 44 Stunden und umgerechnet einer durchschnittlichen wöchentlichen Mehrbelastung von etwa 10 Stunden bei einer vereinbarten durchschnittlichen wöchentlichen Arbeitszeit von 39 Stunden (2.036 Stunden jährlich). Tatsächlich ist der Kläger ausweislich der im Verfahren vorgelegten Arbeitszeitübersichten für die Monate Januar und Dezember 2018 (Anlagen B2 und B3, Bl. 91 f. d.A.) regelmäßig an 10 Stunden arbeitstäglich sowie zusätzlich regelmäßig an Samstagen zur Arbeit herangezogen worden. Bei dieser erheblichen Einschränkung seiner Dispositionsmöglichkeit an Freizeit ist nicht ersichtlich, wie sich die Situation von derjenigen eines nicht außerhalb der Entgeltfortzahlung erkrankten vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmers unterscheiden sollte. Während der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit – mit und ohne Entgeltfortzahlung – hat der Kläger keinen Ausgleich oder Zugewinn an Freizeit erhalten, denn er war unfreiwillig an der Arbeitsleistung verhindert und im Normalfall, von dem die Kammer ausgeht, gleichermaßen unfreiwillig an der Disposition über seine Freizeit während der längeren Erkrankung gehindert.
6. Der Anspruch des Klägers ist nicht verfallen. Gemäß § 28 Abs. 1 des auf das Arbeitsverhältnis anzuwendenden Basistarifvertrags zu den Funktionsgruppenspezifischen Tarifverträgen und Funktionsspezifischen Tarifverträgen verschiedener Unternehmen des DB Konzerns vom 12.12.2016 (Basis-TV) verfallen Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis, wenn sie nicht binnen sechs Monaten nach Fälligkeit schriftlich geltend gemacht werden. Diese Frist hat der Kläger für die am 31.12.2018 fällige Überzeitzulage mit seinem Geltendmachungsschreiben vom 23.03.2019 gewahrt.
7. Der Zinsanspruch des Klägers ab dem 01.01.2019 folgt aus §§ 286 Abs. 1, 288 BGB (Verzugszinsen), da die Überzeitzulage am Jahresende 2018 zur Zahlung fällig war.
III.
Die Beklagte hat als unterliegende Partei gemäß § 91 Abs. 1 ZPO die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
IV.
Die Revision war für die Beklagte wegen grundsätzlicher Bedeutung der entscheidungserheblichen Rechtsfrage zuzulassen (§ 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG).