Gericht | OLG Brandenburg 4. Zivilsenat | Entscheidungsdatum | 30.09.2022 | |
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Aktenzeichen | 4 U 203/21 | ECLI | ECLI:DE:OLGBB:2022:0930.4U203.21.00 | |
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen |
1. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Landgerichts Cottbus vom 17.09.2021, Az. 4 O 53/21, wird zurückgewiesen.
Auf die Anschlussberufung der Beklagten wird das Urteil des Landgerichts Cottbus vom 17.09.2021, Az. 4 O 53/21, abgeändert und die Klage insgesamt abgewiesen.
2. Die Klägerin hat die Kosten des Rechtsstreits erster und zweiter Instanz zu tragen.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
4. Der Streitwert wird auf bis zu 5.000 € festgesetzt.
I.
Die Klägerin nimmt die beklagte Fahrzeugherstellerin aus vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung wegen einer unzulässigen Abschalteinrichtung in Anspruch.
Die Klägerin erwarb mit Kaufvertrag vom 02.06.2015 den streitgegenständlichen (gebrauchten) VW Golf Comfortline mit einem Kilometerstand von 137.039 km zu einem Kaufpreis von 10.490 €. In dem Fahrzeug ist ein von der Beklagten hergestellter und entwickelter Dieselmotor des Typs EA 189 mit der Schadstoffklasse Euro 5 verbaut, der über eine geregelte Abgasrückführung verfügt.
In dem Fahrzeug war eine Software implementiert, die erkannte, ob sich das Fahrzeug auf einem Abgasprüfstand befand oder im normalen Straßenverkehr. Abhängig davon wurde die Abgasrückführung entweder aktiviert - um auf dem Prüfstand die NOx-Grenzwerte einhalten zu können – (Abgasrückführungsmodus 1) oder erheblich reduziert bis zur vollständigen Inaktivierung der Abgasrückführung (Abgasrückführungsmodus 0). Im September 2015 räumte die Beklagte öffentlich das Verwenden einer entsprechenden Software ein. Am 15.10.2015 erging gegen sie ein bestandskräftiger Bescheid des Kraftfahrt-Bundesamtes (KBA) mit einer nachträglichen Nebenbestimmung zur Typengenehmigung. Das KBA ging von einer unzulässigen Abschalteinrichtung aus und gab der Beklagten auf, diese – unter Einhaltung der maßgeblichen Grenzwerte – zu beseitigen. Das entsprechende Software-Update wurde auch an dem streitgegenständlichen Fahrzeug am 21.01.2017 durchgeführt.
Im Dezember 2018 hat die Klägerin sich zur Musterfeststellungsklage an- und am 30.09.2019 wieder abgemeldet.
Der Kilometerstand des Fahrzeugs am 27.08.2021 betrug 263.843 km.
Mit der Klage hat die Klägerin in der Hauptsache zunächst die Rückzahlung des Kaufpreises abzüglich Nutzungsentschädigung geltend gemacht, Zug um Zug gegen Rückgabe des Fahrzeugs.
Das Landgericht hat die Beklagte lediglich verurteilt, das Fahrzeug zurückzunehmen. Ein Zahlungsanspruch stehe der Klägerin nicht zu, weil die unter Zugrundelegung einer Gesamtlaufleistung von 250.000 km anzusetzende Nutzungsentschädigung den Kaufpreis übersteige. Zudem hat das Landgericht den Annahmeverzug der Beklagten festgestellt und die Beklagte zur Zahlung eines Teils der vorgerichtlichen Anwaltskosten verurteilt. Wegen der weiteren tatsächlichen Feststellungen wird auf das angefochtene Urteil Bezug genommen, § 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO.
Mit der Berufung verfolgt die Klägerin ihre erstinstanzlichen Anträge weiter und macht zudem hilfsweise einen Betrag von 20 % des Kaufpreises als sogenannten „kleinen Schadenersatz“ geltend. Hierzu wiederholt sie ihre erstinstanzliche Argumentation und tritt insbesondere der vom Landgericht angesetzten Gesamtlaufleistung entgegen, die nach Auffassung der Klägerin mit mindestens 350.000 km anzusetzen sei.
Die Klägerin beantragt, unter Abänderung des Urteils des Landgerichts Cottbus vom 17.09.2021, Az. 4 O 53/21,
1. die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 4.243,91 €, abzüglich einer im Berufungstermin ggf. abschließend und weiter zu bestimmenden Nutzungsentschädigung, nebst Zinsen in Höhe von 9 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 09.03.2019 zu zahlen, Zug um Zug gegen Übergabe und Rückübereignung des Fahrzeugs VW Golf W…;
2. festzustellen, dass sich die Beklagte mit der Rücknahme des im Klageantrag zu 1. genannten Pkw im Annahmeverzug befindet;
3. hilfsweise die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin einen in das Ermessen des Gerichts gestellten Betrages, mindestens 2.098,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen;
4. die Beklagte zu verurteilen, die Klägerin von außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten von 1.461,32 € freizustellen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Im Rahmen einer Anschlussberufung beantragt die Beklagte,
das angefochtene Urteil abzuändern und die Klage insgesamt abzuweisen.
Die Beklagte hält den geltend gemachten Anspruch schon dem Grunde nach nicht für gegeben und verteidigt die Klageabweisung. Soweit das Landgericht der Klage teilweise stattgegeben habe, sei dies rechtsfehlerhaft.
Die Klägerin beantragt,
die Anschlussberufung zurückzuweisen.
II.
Die zulässige Berufung ist unbegründet; die zulässige Anschlussberufung führt zur vollständigen Abweisung der Klage.
1.
Im Ansatz zutreffend ist das Landgericht davon ausgegangen, dass der Klägerin dem Grunde nach ein Anspruch aus § 826 BGB gegen die Beklagte zusteht. Dabei ist es unerheblich, ob die Klägerin den „großen“ oder den „kleinen“ Schadenersatz geltend macht. Auch für den „kleinen“ Schadenersatz gilt dem Grunde nach nichts anderes, als in den EA 189-Fällen, in denen der „große“ Schadenersatz geltend gemacht wird. Durch das Inverkehrbringen des mit dem Motor EA 189 versehenen Fahrzeugs, bei dem die sog. Umschaltlogik aktiviert war, schädigte die Beklagte den Kläger in sittenwidriger Weise. Wegen der Begründung im Einzelnen wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf die insoweit ergangene Rechtsprechung Bezug genommen (vgl. BGH, Urteil vom 25.05.2020, VI ZR 252/19.
Der Anspruch aus § 826 BGB erfasst auch den Betrag, um den er den Kaufgegenstand - gemessen an dem objektiven Wert von Leistung und Gegenleistung - zu teuer erworben hat (sogenannter kleinen Schadenersatz, vgl. BGH, Urteil vom 06.07.2021, VI ZR 40/20).
2.
Der Schadenersatzanspruch der Klägerin reduziert sich hier indes der Höhe nach wegen der vorzunehmenden Vorteilsanrechnung auf null.
Denn die Beklagte hat den von der Klägerin erlangten Kaufpreis nur insoweit herauszugeben, als diese sich darauf nicht durch die Vollziehung des Kaufvertrages erlangte Vorteile anrechnen lassen muss. Bei der Vorteilsanrechnung sind die durch die Nutzung des Fahrzeugs erlangten Nutzungsvorteile zu berücksichtigen; beim „kleinen“ Schadenersatz ist darüber hinaus noch der Restwert des Fahrzeugs zu berücksichtigen (vgl. OLG Köln, Urteil vom 17.08.2022, I 22 U 30/22; OLG München, Urteil vom 19.05.2022, 24 U 4614/21, juris Rn. 18, 21). Allerdings sind Nutzungsvorteile (und ggf. der Restwert des Fahrzeugs) erst dann und nur insoweit schadensmindernd anzurechnen, als sie den tatsächlichen Wert des Fahrzeugs bei Abschluss des Kaufvertrags übersteigen (BGH, Urteil vom 24.01.2022, VIa ZR 100/21, Rn. 22, juris). Maßgeblicher Zeitpunkt zur Berechnung des Nutzungsvorteils ist derjenige der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz (BGH a.a.O. Rn. 23, juris).
Der durch die Nutzung des Fahrzeugs erlangte Vorteil wird mit der Formel (Bruttokaufpreis x seit Erwerb gefahrene Kilometer/erwartete Restlaufleistung im Erwerbszeitpunkt) berechnet (vgl. BGH, Urteil vom 30.07.2020, VI ZR 354/19, Rn. 12, juris). Dabei ist hier von einer erwarteten Gesamtlaufleistung von 250.000 km auszugehen (vgl. BGH a.a.O. Rn. 15, juris; Saarländisches OLG, Urteil vom 26.01.2022, 2 U 139/21, Rn. 26, juris). Bei der Ausübung des Schätzungsermessens in Bezug auf die erwartete Restlaufleistung ist zu berücksichtigen, dass die tatsächliche Lebensdauer eines Fahrzeugmotors angesichts der mit zunehmender Nutzungsdauer steigenden Reparaturanfälligkeit zahlreicher Bauteile erfahrungsgemäß oftmals nicht ausgeschöpft wird und nicht der Gesamtnutzungsdauer des Fahrzeugs entspricht (Saarländisches OLG a.a.O.; BGH, Urteil vom 29.09.2021, VIII ZR 111/20, Rn. 58, juris). Dass im Einzelfall entsprechende Fahrzeuge auch über eine Gesamtlaufleistung von 250.000 km hinaus genutzt werden und mit Laufleistungen von sogar deutlich über 250.000 km auf dem Gebrauchtwagenmarkt veräußert werden, steht dem nicht entgegen. Denn es kommt insoweit auf die unter gewöhnlichen Umständen zu erzielende (durchschnittliche) Gesamtfahrleistung des Fahrzeugs an und nicht darauf, welche Gesamtlaufleistung das Fahrzeug unter günstigen Bedingungen im äußersten Fall erreichen kann oder in bestimmten Einzelfällen erreicht hat (vgl. BGH, Urteil vom 29.09.2021, VIII ZR 111/20). Der für die Nutzung des Fahrzeugs anzusetzende Nutzungsvorteil beträgt demnach hier mindestens 10.490 € x (263.843 km - 137.039 km) / (250.000 km - 137.039 km) = 11.775,15 €. Dieser Wert übersteigt den Kaufpreis und somit den vom Kläger behaupteten tatsächlichen Wert deutlich. Damit übersteigt der anzurechnende Vorteil in jedem Fall sowohl den von der Klägerin als „großen“ Schadenersatz angesetzten Betrag wie auch die von ihr hilfsweise geltend gemachte Minderung. In einem solchen Fall führt dies dazu, dass ein Schadensersatzanspruch vollständig aufgezehrt wird (Saarländisches OLG a.a.O. Rn. 25; OLG Nürnberg, Urteil vom 13.10.2021, 12 U 3012/19).
3.
Die Anschlussberufung führt zur Abänderung des angefochtenen Urteils und zur vollständigen Abweisung der Klage.
Die ausgesprochene Verurteilung auf Rücknahme des Fahrzeugs hatte die Klägerin lediglich im Rahmen eines Zug-um-Zug-Antrags verlangt, d.h. nur für den Fall der Verurteilung der Beklagten zur Zahlung. Mit der (isolierten) Verurteilung der Beklagten zur Rücknahme des Fahrzeugs hat das Landgericht entgegen § 308 ZPO etwas zugesprochen, was nicht beantragt worden war. Auch materiell-rechtlich steht der Klägerin ein solcher (isolierter) Anspruch auf Rücknahme des Fahrzeugs gegen die Beklagte nicht zu.
Mangels Bestehens eines Hauptanspruchs geht der Antrag auf Feststellung des Annahmeverzugs ins Leere.
Ein Anspruch auf Erstattung außergerichtlicher Anwaltskosten besteht nicht, nachdem der Klägerin in der Hauptsache schon kein Zahlungsanspruch zusteht.
5.
Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 91, 97 Abs. 1, 708 Nr. 10, 713 ZPO.
Das Verfahren war nicht auszusetzen, da es schon an der Entscheidungserheblichkeit der angeführten Rechtsfragen mangelt. Insbesondere ist es hier nicht entscheidungserheblich, ob - neben dem Anspruch aus § 826 BGB - als weitere Anspruchsgrundlage § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit möglichen Schutzgesetzen in Betracht kommt, da insofern für den Vorteilsausgleich nichts anderes gilt.
Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich.