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Entscheidung 4 U 103/21


Metadaten

Gericht OLG Brandenburg 4. Zivilsenat Entscheidungsdatum 20.07.2022
Aktenzeichen 4 U 103/21 ECLI ECLI:DE:OLGBB:2022:0720.4U103.21.00
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen

Tenor

1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Landgerichts Cottbus vom 30.03.2021,  Az. 6 O 203/19, wird zurückgewiesen.

2. Der Kläger hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Das in Ziffer 1 genannte Urteil des Landgerichts Cottbus ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.

4. Der Streitwert für die Berufungsinstanz wird auf bis zu 19.000 € festgesetzt.

Gründe

I.

Der Kläger nimmt die beklagte Fahrzeugherstellerin aus vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung wegen einer unzulässigen Abschalteinrichtung in Anspruch.

Der Kläger erwarb mit Kaufvertrag vom …2017 von der … GmbH & Co KG in … den streitgegenständlichen VW Touran 1.6 TDI als Gebrauchtwagen mit einer Laufleistung von 44.300 km zu einem Kaufpreis von 17.300,00 € brutto. Die Erstzulassung datiert vom 06.05.2015. In dem Fahrzeug ist ein von der Beklagten hergestellter und entwickelter Dieselmotor des Typs EA 189 mit der Schadstoffklasse Euro 5 verbaut, der über eine geregelte Abgasrückführung verfügt.

In dem Fahrzeug war eine Software implementiert, die erkannte, ob sich das Fahrzeug auf einem Abgasprüfstand befand oder im normalen Straßenverkehr. Abhängig davon wurde die Abgasrückführung entweder aktiviert - um auf dem Prüfstand die NOx-Grenzwerte einhalten zu können – (Abgasrückführungsmodus 1) oder erheblich reduziert bis zur vollständigen Inaktivierung der Abgasrückführung (Abgasrückführungsmodus 0).

Die Beklagte hatte bereits am 22. September 2015 eine Ad-hoc-Mitteilung und eine gleichlautende Pressemitteilung herausgegeben, in der sie "Unregelmäßigkeiten" in Bezug auf die verwendete Software bei Dieselmotoren vom Typ EA189 einräumte, die in weltweit mehr als elf Millionen Fahrzeugen verbaut seien. Sie sprach in der Mitteilung von einer "auffälligen Abweichung" zwischen Prüfstandswerten und realem Fahrbetrieb sowie davon, an der Beseitigung dieser Abweichungen mit technischen Maßnahmen zu arbeiten und hierzu im Kontakt mit den zuständigen Behörden und dem Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) zu stehen. Die Beklagte arbeitete mit dem KBA in der Folgezeit zusammen. Am 15.10.2015 erging gegen sie ein bestandskräftiger Bescheid des KBA mit einer nachträglichen Nebenbestimmung zur Typengenehmigung. Das KBA ging von einer unzulässigen Abschalteinrichtung aus und gab der Beklagten auf, diese – unter Einhaltung der maßgeblichen Grenzwerte – zu beseitigen. Die Beklagte schaltete auf ihrer Website einen Link zu einer Suchmaschine frei, mit deren Hilfe durch Eingabe der Fahrzeugidentifizierungsnummer (FIN) festgestellt werden konnte, ob ein konkretes Fahrzeug mit der beanstandeten Motorsteuerungssoftware ausgestattet war. Sie informierte ihre Servicepartner und Vertragshändler über die Verwendung der Umschaltlogik. Sie stellte ein Software-Update bereit, um den rechtswidrigen Zustand zu beseitigen. Die Halter der betroffenen Fahrzeuge wurden aufgefordert, diese zum Aufspielen des Software-Updates in die Werkstätten zu bringen. Das entsprechende Software-Update wurde auch an dem streitgegenständlichen Fahrzeug durchgeführt.

Der Kläger hat die Ansicht vertreten, die Beklagte hafte wegen sittenwidriger Schädigung aus § 826 BGB sowie aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 263 StGB sowie i.V.m. §§ 4, 6 EG-FGV. Er hat die Feststellung zur Verpflichtung von Schadenersatz verlangt. Er ließ sich in dieser Sache zunächst am 18.12.2018 in das Klageregister für die Musterfeststellungsklage eintragen und nahm am 14.06.2019 die Anmeldung wieder zurück.

Erstinstanzlich hat der Kläger beantragt,

1. festzustellen, dass die Beklagtenpartei verpflichtet ist der Klägerpartei Schadenersatz zu leisten, für Schäden, die aus der Manipulation des Fahrzeugs VW Touran (Fahrzeugidentifikationsnummer: …) durch die Beklagtenpartei resultieren,

2. die Beklagte zu verurteilen, die Klagepartei von den durch die Beauftragung der Prozessbevollmächtigten der Klagepartei entstandenen vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten in Höhe von 1.059,10 € freizustellen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat die Ansicht vertreten, dass das Fahrzeug nach dem Software-Update keine unzulässige Abschalteinrichtung mehr aufweise. Die behaupteten Beeinträchtigungen verschiedener Bauteile und drohende Langzeitschäden aufgrund des Software-Updates hätten sich in der Praxis nicht verwirklicht und die Lebensdauer sei nicht negativ beeinträchtigt.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen und es dabei dahinstehen lassen, ob die Feststellungsklage überhaupt zulässig sei. Jedenfalls sei die Klage unbegründet, da sich das Verhalten der Beklagten nach öffentlichem Eingeständnis der Beklagten im Jahr 2015 gegenüber dem Kläger nicht mehr als sittenwidrig darstelle. Der Kläger habe das Fahrzeug deutlich nach Bekanntwerden des Abgasskandals erworben. Allein das Thermofenster begründe keine Haftung aus § 826 BGB, da sich das Handeln der für die Beklagte tätig gewordenen Personen insoweit nicht als sittenwidrig darstelle.

Mit der Berufung hat der Kläger seinen ursprünglichen Feststellungsantrag zunächst weiterverfolgt, ergänzt um einen bezifferten Hilfsantrag; er wiederholt und vertieft seine erstinstanzliche Argumentation. Der Kläger steht auf dem Standpunkt, dass sich ein Anspruch aus § 826 BGB aus der Vornahme des Software-Updates ergebe, weil durch das Software-Update mit dem Thermofenster erneut eine unzulässige Abschalteinrichtung implementiert worden sei. Die NOx-Grenzwerte würden nicht eingehalten; insofern komme es nicht auf die Prüfstandswerte, sondern auf den Realbetrieb an. Dieser Umstand sei in dem Urteil des BGH vom 30.07.2020 nicht hinreichend gewürdigt worden. Das Software-Update habe auch einen Mehrverbrauch an Kraftstoff und eine höhere Belastung des Partikelfilters zur Folge gehabt. Zudem seien die in dem Fahrzeug verbauten Teile derart ungeeignet und billig, dass die Abgasreinigung nur für die Dauer des Prüfstandsmodus gut funktionierte, nicht dagegen im Normalbetrieb. Weiterhin bestehe ein Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. §§ 4, 6, 25 EG-FGV. Die der EG-FGV zugrunde liegende Richtlinie Nr. 2077/46/EG entfalte drittschützende Wirkung.

Den ursprünglichen Feststellungsantrag hat der Kläger in der Berufungsinstanz fallen lassen. Er beantragt nunmehr, unter Abänderung des Urteils des Landgerichts Cottbus vom 30.03.2021, 6 O 203/19,

1. die Beklagte zu verurteilen, an die Klagepartei 17.300 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu bezahlen, abzüglich einer in das Ermessen des Gerichts gestellten Entschädigung für die Nutzung des Fahrzeugs VW Touran (Fahrzeugidentifikationsnummer: …) und Zug um Zug gegen Übereignung und Herausgabe des Fahrzeugs Touran (Fahrzeugidentifikationsnummer: …);

2. festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerpartei Schadenersatz zu bezahlen für weitere Schäden, die daraus resultieren, dass die Beklagtenpartei in den Motor, Typ EA 189, des Fahrzeugs VW Touran (Fahrzeugidentifikationsnummer: …) mindestens eine unzulässige Abschalteinrichtung in der Form einer Software eingebaut hat, die bei Erkennung standardisierter Prüfstandssituationen (NEFZ) die Abgasaufbereitung so optimiert, dass möglichst wenige Stickoxide (NOx) entstehen und Stickstoffemissionswerte reduziert werden, und die im Normalbetrieb Teile der Abgaskontrollanlage außer Betrieb setzt, so dass es zu einem höheren NOx-Ausstoß führt, bzw. in Gestalt einer Funktion, die durch Bestimmung der Außentemperatur die Parameter der Abgasbehandlung so verändert, dass die Abgasnachbehandlung außerhalb eines Temperaturfensters von 17°C bis 33°C reduziert wird (sog. Thermofenster);

3. die Beklagtenpartei zu verurteilen, die Klägerpartei von den durch die Beauftragung der Prozessbevollmächtigten der Klägerpartei entstandenen vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten in Höhe von 1.059,10 € freizustellen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt das angefochtene Urteil, indem sie ihre erstinstanzliche Argumentation wiederholt und vertieft. Da der Kläger das Fahrzeug deutlich nach Aufdeckung des Abgasskandals erworben habe, könne das Verhalten der Beklagten gegenüber dem Kläger nicht als sittenwidrig qualifiziert werden. Das Thermofenster sei keine unzulässige Abschalteinrichtung, jedenfalls sei deren Implementierung nicht als sittenwidrig zu qualifizieren.

II.

Die zulässige Berufung ist unbegründet.

1.

Die Änderung des Klageantrages in der Berufungsinstanz ist zulässig. Es handelt sich bei der Umstellung eines Feststellungsantrages auf einen Leistungsantrag um eine Erweiterung der Klage im Sinne des § 264 Nr. 2 ZPO, für die die besonderen Voraussetzungen des § 533 ZPO nicht gelten.

2.

Dem Kläger stehen gegen die Beklagte die geltend gemachten Schadensersatzansprüche aus keinem rechtlichen Gesichtspunkt (§ 826 BGB, § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV oder Art. 5 der VO (EG) Nr. 715/2007 BGB) zu. Mangels eines Vertragsverhältnisses oder einer vertragsähnlichen Beziehung zwischen den Parteien kommen vertragliche Ansprüche von vornherein nicht in Betracht. Doch auch die Voraussetzungen für eine deliktische Haftung der Beklagten sind nicht erfüllt. Infolgedessen ist der geltend gemachte Feststellungsanspruch ebenso unbegründet wie der Anspruch auf Freistellung von außergerichtlichen Anwaltskosten.

a)

Ein Anspruch des Klägers aus § 826 BGB besteht nicht, da das Verhalten der Beklagten zum hier maßgeblichen Zeitpunkt des Fahrzeugkaufs durch den Kläger in der vorzunehmenden Gesamtschau nicht (mehr) als sittenwidrig zu qualifizieren ist (aa). Auch die Implementierung eines Thermofensters im Rahmen des Software-Updates stellt kein sittenwidriges Verhalten dar (bb).

aa)

Sittenwidrig ist ein Verhalten, das nach seinem Gesamtcharakter, der durch umfassende Würdigung von Inhalt, Beweggrund und Zweck zu ermitteln ist, gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt. Dafür genügt es im Allgemeinen nicht, dass der Handelnde eine Pflicht verletzt und einen Vermögensschaden hervorruft. Vielmehr muss eine besondere Verwerflichkeit seines Verhaltens hinzutreten, die sich aus dem verfolgten Ziel, den eingesetzten Mitteln, der zutage getretenen Gesinnung oder den eingetretenen Folgen ergeben kann. Schon zur Feststellung der Sittenwidrigkeit kann es daher auf Kenntnisse, Absichten und Beweggründe des Handelnden ankommen, die die Bewertung seines Verhaltens als verwerflich rechtfertigen. Die Verwerflichkeit kann sich auch aus einer bewussten Täuschung ergeben. Insbesondere bei mittelbaren Schädigungen kommt es ferner darauf an, dass den Schädiger das Unwerturteil, sittenwidrig gehandelt zu haben, gerade auch in Bezug auf die Schäden desjenigen trifft, der Ansprüche aus § 826 BGB geltend macht (vgl. BGH, Urteil vom 30.07.2020, VI ZR 5/20, Rn. 29 m.w.N., juris).

Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung einer etwaigen Sittenwidrigkeit nach § 826 BGB ist derjenige des Eintritts des Schadens beim konkreten Geschädigten (der ggf. in einem Vertragsabschluss liegen kann), weil der haftungsbegründende Tatbestand des § 826 BGB die Zufügung eines Schadens zwingend voraussetzt. Deshalb kann im Rahmen des § 826 BGB ein Verhalten, das sich gegenüber zunächst betroffenen (anderen) Geschädigten als sittenwidrig darstellte, aufgrund einer Verhaltensänderung des Schädigers vor Eintritt des Schadens bei dem konkreten Geschädigten diesem gegenüber nicht mehr als sittenwidrig zu werten sein. Eine solche Verhaltensänderung kann somit bereits der Bewertung seines Gesamtverhaltens als sittenwidrig - gerade in Bezug auf den geltend gemachten, erst später eingetretenen Schaden und gerade im Verhältnis zu dem erst später Geschädigten - entgegenstehen und ist nicht erst im Rahmen der Kausalität abhängig von den Vorstellungen des jeweiligen Geschädigten zu berücksichtigen (vgl. BGH, Urteil vom 30.07.2020, VI ZR 5/20, Rn. 31, juris).

Diese Sichtweise führt hier dazu, dass für die Beurteilung der Sittenwidrigkeit auch das Verhalten der Beklagten in die Gesamtschau mit einzubeziehen ist, das zwischen dem Bekanntwerden des Abgasskandals und dem hier zu beurteilenden Kaufvertragsschluss liegt. Zwar stellt das Inverkehrbringen eines mit einer Prüfstandserkennung und einer daran gekoppelten Umschaltlogik für die Abgasrückführung ausgestatteten Motors, mit dem Ziel die Genehmigungsbehörde über die Einhaltung der NOx-Grenzwerte zu täuschen, eine sittenwidrige Schädigung von Fahrzeugerwerbern dar, weil ein Widerruf der Typzulassung droht (vgl. BGH, Urteil vom 25.05.2020, VI ZR 252/19). Es ist auch zutreffend, dass in dem hier streitgegenständlichen Fahrzeug ein Motor des Typs EA 189 eingebaut ist, der zum Zeitpunkt seiner Inverkehrbringung mit einer solchen Umschaltlogik ausgestattet war. Ausgehend von den Feststellungen zum Verhalten der Beklagten ab dem 22.09.2015, war dieses objektiv geeignet, das Vertrauen potenzieller Käufer von Gebrauchtwagen mit VW-Dieselmotoren in eine vorschriftsgemäße Abgastechnik zu zerstören, diesbezügliche Arglosigkeit also zu beseitigen. Aufgrund der Verlautbarung und ihrer als sicher vorherzusehenden medialen Verbreitung war typischerweise nicht mehr damit zu rechnen, dass Käufer von gebrauchten VW-Fahrzeugen mit Dieselmotoren die Erfüllung der hier maßgeblichen gesetzlichen Vorgaben noch als selbstverständlich voraussetzen würden. Für die Ausnutzung einer diesbezüglichen Arglosigkeit war damit kein Raum mehr; hierauf konnte das geänderte Verhalten der Beklagten nicht mehr gerichtet sein (vgl. im Einzelnen: BGH, Urteil vom 30.07.2020, VI ZR 5/20, Rn. 37, juris).

Bei der gebotenen Gesamtbetrachtung kann das Verhalten der Beklagten bis zum Abschluss des streitgegenständlichen Kaufvertrages im November 2017 einer Täuschung nicht mehr gleichgesetzt werden. Wesentliche Umstände, aufgrund derer ihr Verhalten gegenüber früheren Käufern als verwerflich zu werten war, sind bereits im Herbst 2015 entfallen. Dass die Beklagte die Abschalteinrichtung nicht selbst als illegal gebrandmarkt hat, sondern im Gegenteil dieser Bewertung in der Folgezeit entgegengetreten ist, dass sie eine bewusste Manipulation geleugnet hat und dass sie möglicherweise weitere Schritte zur umfassenden Aufklärung hätte unternehmen können, reicht für die Begründung des gravierenden Vorwurfs der sittenwidrigen Schädigung gegenüber dem Kläger nicht aus. Käufern, die sich, wie der Kläger, erst für einen Kauf entschieden haben, nachdem diese ihr Verhalten, wie beschrieben, geändert hatte, wurde - unabhängig von ihren Kenntnissen vom "Dieselskandal" im Allgemeinen und ihren Vorstellungen von der Betroffenheit des Fahrzeugs im Besonderen - nicht sittenwidrig ein Schaden zugefügt (vgl. BGH, Urteil vom 30.07.2020, VI ZR 5/20, Rn. 38 m.w.N.).

bb)

Die Bewertung als nicht (mehr) sittenwidrig, ändert sich auch nicht deshalb, weil die Abgasrückführung in dem streitgegenständlichen Fahrzeug temperaturgesteuert ist (Thermofenster). Zwar kann es sich bei einem Thermofenster um eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne von Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 handeln (EuGH, Urteil vom 14.07.2022, C-145/20). Der darin liegende Gesetzesverstoß reicht aber nicht aus, um das Gesamtverhalten der Beklagten als sittenwidrig zu qualifizieren. Die Applikation einer temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems ist nicht mit der Verwendung der Prüfstandserkennungssoftware zu vergleichen, die die Beklagte zunächst zum Einsatz gebracht hatte (vgl. BGH, Beschluss vom 09.03.2021, VI ZR 889/20, Rn. 27, juris). Bei dieser Sachlage hätte sich die Verwerflichkeit des Verhaltens der Beklagten durch die Implementierung des Thermofensters nur dann fortgesetzt, wenn zu dem Verstoß gegen Art. 5 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 im Zusammenhang mit der Entwicklung und Genehmigung des Software-Updates weitere Umstände hinzuträten, die das Verhalten der für sie handelnden Personen als besonders verwerflich erscheinen ließen. Dies setzt jedenfalls voraus, dass diese Personen bei der Entwicklung und/oder Applikation der temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems in dem Bewusstsein handelten, eine (weitere) unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden, und den darin liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf nahmen. Fehlt es hieran, ist der objektive Tatbestand der Sittenwidrigkeit nicht erfüllt.

cc)

Die Behauptung des Klägers, die Beklagte habe bewusst völlig ungeeignet und billig Teile verbaut, so dass die Abgasreinigung nur für die Dauer des Prüfstandsmodus gut funktionierte, ist als ins Blaue hinein zu qualifizieren und damit unbeachtlich. Für seine Behauptung hat der Kläger keinerlei greifbare Anhaltspunkte aufgezeigt. Insbesondere wäre, nachdem das Software-Update bereits vor mehreren Jahren auf eine Vielzahl von Fahrzeugen aufgespielt worden war, eine erhöhte Reparaturanfälligkeit zu erwarten, wenn der Vortrag zuträfe. Derartiges trägt aber der Kläger nicht vor, der das streitgegenständliche Fahrzeug seit mehreren Jahren nutzt. Entsprechendes gilt für die Behauptung, das Software-Update habe einen Mehrverbrauch an Kraftstoff und eine höhere Belastung des Partikelfilters zur Folge gehabt. Auch für diese Behauptung fehlen greifbare Anhaltspunkte.

dd)

Schließlich fehlt es an dem erforderlichen Schädigungsvorsatz zum hier relevanten Zeitpunkt des Fahrzeugkaufs. Ebenso wie die Sittenwidrigkeit kann ein zum Zeitpunkt des Inverkehrbringens noch vorhandener Schädigungsvorsatz aufgrund einer Verhaltensänderung des Schädigers vor Eintritt des Schadens bei dem konkreten Geschädigten diesem gegenüber entfallen. Wie bereits ausgeführt, war das öffentliche Eingeständnis der Beklagten im Jahr 2015 geeignet, eine Arglosigkeit von Käufern betroffener Fahrzeuge im Hinblick auf die Einhaltung der relevanten Abgasnormen zu beseitigen, so dass typischerweise nicht mehr damit zu rechnen war, dass Käufer von gebrauchten VW-Fahrzeugen mit Dieselmotoren die Erfüllung der hier maßgeblichen gesetzlichen Vorgaben noch als selbstverständlich voraussetzen würden. Damit entfällt auch ein etwaig früher vorhandener Schädigungsvorsatz.

Auch im Hinblick auf ein nach dem Software-Update noch vorhandenes Thermofenster fehlt es am Vorsatz für eine sittenwidrige Schädigung. Der Handelnde muss die Schädigung des Anspruchstellers gekannt beziehungsweise vorausgesehen und in seinen Willen aufgenommen, jedenfalls aber für möglich gehalten und billigend in Kauf genommen haben. Es genügt nicht, wenn die relevanten Tatumstände lediglich objektiv erkennbar waren und der Handelnde sie hätte kennen können oder kennen müssen oder sie sich ihm sogar hätten aufdrängen müssen; in einer solchen Situation ist lediglich ein Fahrlässigkeitsvorwurf gerechtfertigt (BGH, Beschluss vom 15. September 2021, VII ZR 2/21). Aus einer rechtlichen Unzulässigkeit der Abschalteinrichtung in Form des Thermofensters folgt kein Vorsatz hinsichtlich der Schädigung der Fahrzeugkäufer. Daher liegt es fern zunehmen, den für die Beklagte tätigen Personen hätte sich die Gefahr einer Schädigung der Klägerin aufdrängen müssen.

b)

Ansprüche aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 263 StGB kommen hier schon mangels Schädigungsvorsatzes bzw. Bereicherungsabsicht zum Zeitpunkt des Fahrzeugkaufs nicht in Betracht.

c)

Ansprüche aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV oder Art. 5 der VO (EG) Nr. 715/2007 bestehen mangels rechtlicher Qualifikation als Schutzgesetz im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB nicht. Wie der Bundesgerichtshof überzeugend und wiederholt entschieden hat, liegt das Interesse, nicht zur Eingehung einer ungewollten Verbindlichkeit veranlasst zu werden, weder im Aufgabenbereich des § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV noch im Aufgabenbereich des Art. 5 VO 715/2007/EG (BGH, Urteil vom 30.07.2020, VI ZR 5/20, Rn. 11 ff., juris) – auch nicht unter dem Gesichtspunkt des Gebots einer möglichst wirksamen Anwendung des Gemeinschaftsrechts (effet utile; BGH a.a.O. Rn. 14). Daran hat der Bundesgerichtshof auch angesichts des Verfahrens vor dem Europäischen Gerichtshof (C-100/21) ausdrücklich festgehalten (BGH, Beschluss vom 04.05.2022, VII ZR 656/21).

Die Schlussanträge des Generalanwalts vom 02.06.2022 bieten keine Veranlassung, von der gefestigten Rechtsprechung zum Vorliegen eines „acte clair“ in Bezug auf das Nichtvorliegen eines auf Rückabwicklung des Kaufvertrags gerichteten Schadenersatzanspruchs abzuweichen oder nunmehr eine Vorlage an den EuGH bzw. eine Aussetzung gemäß § 148 ZPO in Erwägung zu ziehen. Der Verordnung (EG) Nr. 715/2007, die unmittelbar anwendbar ist, misst der Generalanwalt selbst keine Schutzwirkung zugunsten von Vermögensinteressen von Fahrzeugerwerbern zu (vgl. OLG Stuttgart, Urteil vom 28.06.2022, 24 U 115/22, BeckRS 2022, 16112, Rn. 78). Lediglich die – nicht unmittelbar anwendbare – Richtlinie 2007/46/EG schützt nach Ansicht des Generalanwalts (auch) das Interesse des individuellen Erwerbers eines Kraftfahrzeugs, kein Fahrzeug zu erwerben, das mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet ist. Dies gilt jedoch nicht bezogen auf die §§ 6, 27 EG-FGV (vgl. OLG Stuttgart a.a.O. Rn. 80 ff). Einer Einordnung der §§ 6, 27 EG-FGV als Schutzgesetze des § 823 Abs. 2 BGB bedarf es im Hinblick auf das Gebot des effet utile nicht, weil bereits das bestehende nationale Recht zahlreiche - abgestufte - Instrumente bereit hält, die das Interesse des Erwerbers schützen, z.B. das Gewährleistungsrecht mit der Möglichkeit des Rückgriffs auf den Hersteller gemäß § 445a BGB, deliktische Ansprüche aus § 826 BGB sowie die Schutz- und Bußgeldvorschriften in §§ 25, 37 EG-FGV (vgl. OLG Stuttgart a.a.O. Rn. 86 ff.). Selbst nach den Schlussanträgen des Generalanwalts stünde es den Mitgliedsstaaten weiterhin frei, einen Anspruch auf Rückabwicklung des Kaufvertrages wegen der Verletzung des wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts zu verneinen (vgl. OLG München, Beschluss vom 01.07.2022, 8 U 1671/22). Ein solcher Anspruch ist aber hier Gegenstand des Verfahrens.

d)

Ein Anspruch auf Freistellung von den geltend gemachten Kosten für die außergerichtliche Inanspruchnahme eines Rechtsanwalts besteht mangels einer Hauptforderung nicht.

e)

Schließlich ist auch der Feststellungsantrag aus den oben genannten Gründen unbegründet.

3.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.

Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich.