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Entscheidung OVG 6 S 61/22


Metadaten

Gericht OVG Berlin-Brandenburg 6. Senat Entscheidungsdatum 09.11.2022
Aktenzeichen OVG 6 S 61/22 ECLI ECLI:DE:OVGBEBB:2022:1109.OVG6S61.22.00
Dokumententyp Beschluss Verfahrensgang -
Normen § 16 Abs 2 SGB 8, § 24 Abs 2 SGB 8

Leitsatz

Zur Verpflichtung einer Wohnortgemeinde, einen bei ihr eingegangenen Antrag auf Betreuung in einer Kindertagesbetreuungseinrichtung an den zuständigen örtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe weiterzuleiten.

Tenor

Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Potsdam vom 10. Oktober 2022 wird geändert.

Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller bis zur Entscheidung in der Hauptsache einen wohnortnahen Betreuungsplatz im Umfang des von der Antragsgegnerin mit Bescheid vom 9. November 2021 festgestellten Bedarfs in einer Tageseinrichtung oder einer Kindertagespflege binnen drei Wochen nach Zugang dieses Beschlusses nachzuweisen.

Die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge trägt die Antragsgegnerin.

Gründe

Die zulässige Beschwerde ist begründet.

Der im August 2020 geborene Antragsteller hat einen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.

1. Der Anordnungsanspruch folgt aus dem Rechtsanspruch auf frühkindliche Förderung nach § 24 Abs. 2 SGB VIII. Dieser Anspruch richtet sich gegen die Antragsgegnerin als örtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe. Die im erstinstanzlichen Verfahren geltend gemachten Einwände der Antragsgegnerin, wonach sie nur eine übergeordnete Planungsverantwortung ausübe und über keine eigenen Betreuungsplätze verfüge, weshalb sie keine Verpflichtung zur Verfügungstellung eines Betreuungsplatzes treffe, verkennen die der Antragsgegnerin bekannte Rechtslage (vgl. Beschluss des Senats vom 8. Dezember 2021 – OVG 6 S 36/21 – BA S. 3 f.). Der Träger der öffentlichen Jugendhilfe ist verpflichtet zu gewährleisten, dass ein dem Bedarf in qualitativer und quantitativer Hinsicht gerecht werdendes Angebot an Fördermöglichkeiten in Tageseinrichtungen und in der Kindertagespflege vorgehalten wird. Er hat gegebenenfalls die vorhandenen Kapazitäten so zu erweitern, dass sämtlichen anspruchsberechtigten Kindern ein ihrem Bedarf entsprechender Betreuungsplatz nachgewiesen werden kann (BVerwG, Urteil vom 26. Oktober 2017 - 5 C 19/16 - juris Rn. 34 f.). Die Amtspflicht, einen Betreuungsplatz zur Verfügung zu stellen, besteht nicht nur im Rahmen der vorhandenen Kapazität. Den gesamtverantwortlichen Jugendhilfeträger trifft vielmehr die unbedingte Pflicht, eine ausreichende Zahl von Betreuungsplätzen selbst zu schaffen oder durch geeignete Dritte – freie Träger der Jugendhilfe, Kommunen oder Tagespflegepersonen – bereitzustellen (vgl. BVerfG, Urteil vom 21. November 2017 - 2 BvR 2177/16 - juris Rn. 134; Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 27. April 2018 - OVG 6 S 15.18 - juris Rn. 7; ferner Beschlüsse vom 22. März 2018 - OVG 6 S 2.18 und OVG 6 S 6.18 - juris). Die Antragsgegnerin kann ihre Verpflichtung aus § 24 Abs. 2 SGB VIII sowohl durch Nachweis eines bedarfsgerechten Betreuungsplatzes in einer Tageseinrichtung als auch in Kindertagespflege erfüllen (Beschluss des Senats vom 22. März 2018 - OVG 6 A 6.18 - juris Rn. 12; ferner Beschluss vom 27. April 2018 - OVG 6 S 15.18 - juris Rn. 9).

Dem Anspruch nach § 24 Abs. 2 SGB VIII ist genügt, wenn in zeitlicher Hinsicht der bescheinigte Betreuungsbedarf abgedeckt wird – hier der mit Bescheid der Antragsgegnerin vom 9. November 2021 (VV Bl. 9) bescheinigte Betreuungsbedarf von 45 Stunden wöchentlich – und er in räumlicher Hinsicht in zumutbarer Entfernung zum Wohnort des Kindes bzw. seiner Eltern liegt (Beschluss des Senats vom 4. Februar 2021 - 6 S 58/20 - juris). In zumutbarer Entfernung liegen nur Betreuungsplätze in Wohnortnähe (vgl. dazu Beschluss des Senats vom 12. Dezember 2018 - OVG 6 S 55.18 - juris Rn. 6).

Entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts haben die Eltern des Antragstellers rechtzeitig bei ihrer Wohnortgemeinde einen Antrag auf Betreuung des Antragstellers gestellt (vgl. Schreiben der Wohnortgemeinde vom 25. März 2021, erstinstanzlich vorgelegt als Anlage zur Antragsschrift, Bl. 4 d.A.). Zwar weist die Antragsgegnerin zutreffend darauf hin, dass sie – der im vorliegenden Fall zuständige Träger der öffentlichen Jugendhilfe (vgl. hierzu bereits oben) – erst mit Zustellung der Antragsschrift am 5. September 2022 über den Bedarf in Kenntnis gesetzt worden sei. Dies ist jedoch unbeachtlich, da die – ausweislich des erstinstanzlichen Beschluss aufgrund eines Vertrages zwischen der Wohnortgemeinde und der Antragsgegnerin nach § 12 KitaG bis zum 31. Dezember 2020 zuständige (BA S. 3) – Wohnortgemeinde des Antragstellers gemäß § 16 Abs. 2 Satz 1 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch – SGB I – verpflichtet gewesen ist, das Leistungsbegehren an die Antragsgegnerin unverzüglich weiterzuleiten (vgl. VG Mainz, Beschluss vom 9. März 2020 – 1 L 76/20.MZ – juris Rn. 10 unter Hinweis auf SächsOVG, Urteil vom 14. März 2017 – 4 A 280/16 – juris Rn. 36). Dass eine solche Weiterleistung im vorliegenden Fall nicht erfolgt ist, ist unerheblich; denn es ist gerade Sinn und Zweck des § 16 SGB I, den Antragsteller davor zu bewahren, mit seinem Begehren nach Sozialleistungen an den Zuständigkeitsabgrenzungen innerhalb der gegliederten Sozialverwaltung zu scheitern. Dieser Zweck würde aber unterlaufen, wenn es die Stelle, bei der der Antrag gestellt wurde, in der Hand hätte, durch eine unterlassene Weiterleitung des Antrags die Leistungsgewährung zu vereiteln (vgl. SächsOVG, Urteil vom 14. März 2017, a.a.O., unter Bezugnahme auf LSG NW, Urteil vom 25. August 2014 – L 20 SO 411/12 – juris Rn. 37.). Soweit das Verwaltungsgericht auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 30. Juni 2011 – 3 C 36.10 – (juris Rn. 13) Bezug nimmt, wonach die in § 16 Abs. 2 Satz 2 SGB I normierte Zugangsfiktion voraussetze, dass der fragliche Antrag dem zuständigen Leistungsträger auch tatsächlich zugegangen sei, was vorliegend mangels Weiterleitung nicht geschehen sei, lässt es unberücksichtigt, dass auch das Bundesverwaltungsgericht einen Korrekturbedarf gesehen und dem dortigen Kläger die Gewährung der geltend gemachten Leistungen im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs zuerkannt hat (juris Rn. 15 ff.).

2. Der Anordnungsgrund ergibt sich aus dem drohenden Rechtsverlust. Die frühkindliche Förderung entgeht dem Antragsteller für den abgelaufenen Zeitraum endgültig, wenn ihm der gesetzlich feststehende Anspruch vorenthalten wird. Einen Anordnungsgrund zu verneinen wäre daher mit dem Grundsatz effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG nicht vereinbar (vgl. Beschluss des Senats vom 8. Oktober 2018 - OVG 6 S 52.18/OVG 6 M 55.18 - juris Rn. 2 f.).

Der Senat hält es in Ausübung des ihm nach § 123 Abs. 3 VwGO in Verbindung mit § 938 Abs. 1 ZPO eingeräumten Ermessens angesichts der bereits verstrichenen Zeit und dem Umstand, dass die Antragsgegnerin bereits seit dem 5. September 2022 Kenntnis von dem angemeldeten Betreuungsbedarf hat, für erforderlich, eine Umsetzungsfrist von nur drei Wochen einzuräumen.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 188 VwGO.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).