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Entscheidung 1 Ws 92/22 (S)


Metadaten

Gericht OLG Brandenburg 1. Strafsenat Entscheidungsdatum 16.11.2022
Aktenzeichen 1 Ws 92/22 (S) ECLI ECLI:DE:OLGBB:2022:1116.1WS92.22.00
Dokumententyp Beschluss Verfahrensgang -
Normen

Tenor

Die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Neuruppin gegen den Beschluss der 1. großen Strafkammer des Landgerichts Neuruppin vom 29. Juni 2022 wird als unbegründet verworfen.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die insoweit entstandenen notwendigen Auslagen der Angeklagten fallen der Landeskasse zur Last.

Gründe

I.

Die Staatsanwaltschaft Neuruppin hat unter dem 12. Juni 2021 gegen die Angeklagte Anklage vor der 1. großen Strafkammer des Landgerichts Neuruppin erhoben. Sie wirft der Angeklagten vor, zwischen dem 04. November 2019 und dem 01. September 2020 im Zustand der verminderten Schuldfähigkeit vier Fälle des tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte, einen Fall des Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte, drei Fälle der Körperverletzung, drei Fälle des Hausfriedensbruchs, 24 Fälle der Sachbeschädigung, zwei Fälle des Diebstahls geringwertiger Sachen, einen Fall der Nötigung, zwei Fälle des Missbrauchs von Notrufen, einen Fall der versuchten Körperverletzung, fünf Fälle der tätlichen Beleidigung, davon in einem Fall in Tateinheit mit einer weiteren versuchten Körperverletzung, begangen zu haben (§§ 113 Abs. 1, 114 Abs. 1, 123, 145 Abs. 1, 185, 194, 223 Abs. 1, Abs. 2, 240, 242, 248a, 303, 303c, 21, 22, 52, 53. StGB). Wegen der einzelnen Tathandlungen wird auf die Anklageschrift verwiesen. Hauptsächliches Ziel der Staatsanwaltschaft ist es, eine Unterbringung der seit 1997 an paranoider Schizophrenie erkrankten und unter staatlicher Betreuung stehenden Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB zu erreichen.

Die 1. große Strafkammer des Landgerichts hat mit Beschluss vom 29. Juni 2022 die Anklageschrift zur Hauptverhandlung zugelassen und das Verfahren mit leichten zeitlichen Modifikationen vor dem Amtsgericht - Strafrichter - eröffnet.

Gegen diesen Beschluss hat die Staatsanwaltschaft unter dem 11. Juli 2022 sofortige Beschwerde eingelegt.

Die Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg ist mit Verfügung vom 25. Juli 2022 der sofortigen Beschwerde der Staatsanwaltschaft Neuruppin beigetreten.

II.

Die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Neuruppin ist zulässig (§ 210 Abs. 2 StPO), jedoch nicht begründet.

Die Strafkammer hat zu Recht und mit zutreffender sowie ausgesprochen sorgfältiger Begründung ihre zwingende Zuständigkeit verneint, weil eine Unterbringung der Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB nicht zu erwarten ist. Der Senat nimmt insofern vollinhaltlich auf die Gründe der angefochtenen Entscheidung Bezug.

Hat jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20) oder der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21) begangen, so ordnet das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, wenn die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, dass von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist. Handelt es sich bei der begangenen rechtswidrigen Tat nicht um eine im Sinne von Satz 1 erhebliche Tat, so trifft das Gericht eine solche Anordnung nur, wenn besondere Umstände die Erwartung rechtfertigen, dass der Täter infolge seines Zustandes derartige erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird (§ 63 StGB in der Fassung vom 8. Juli 2016).

Das Vorliegen dieser Voraussetzungen ergibt sich weder aus der Anklageschrift noch aus dem Beschwerdevorbringen.

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs darf die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nur angeordnet werden, wenn eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades besteht, der Täter werde infolge seines fortdauernden Zustands in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen; die zu erwartenden Taten müssen schwere Störungen des Rechtsfriedens besorgen lassen.

Gemessen an diesem von der Strafkammer des Landgerichts Neuruppin ihrer Entscheidung zutreffend zugrunde gelegten Maßstab ist eine Unterbringung der Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB nicht zu erwarten. Eine Unterbringung der Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus wäre unverhältnismäßig.

Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist mit Verfassungsrang ausgestattet. In § 62 StGB hat ihn der Gesetzgeber ausdrücklich nochmals einfachgesetzlich geregelt, um seine Bedeutung bei der Anordnung von Maßregeln der Besserung und Sicherung hervorzuheben (vgl. BT-Drucks. V/4094 S. 17). Er beherrscht auch die Anordnung und Fortdauer der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus und gebietet, dass die Freiheit der Person nur beschränkt werden darf, soweit dies im öffentlichen Interesse unerlässlich ist (BVerfG, Beschluss vom 5. Juli 2013 – 2 BvR 789/13). Die Unterbringung darf nicht angeordnet werden, wenn die wegen ihrer unbestimmten Dauer sehr belastende Maßnahme außer Verhältnis zu der Bedeutung der begangenen und zu erwartenden Taten stehen würde (BGH, Beschluss vom 26. Juni 2007 – 5 StR 215/07, NStZ-RR 2007, 300, 301). So liegt der Fall hier. Der Senat folgt der Einschätzung der Kammer. Auch das Beschwerdevorbringen rechtfertigt keine abweichende Entscheidung.

Soweit die Staatsanwaltschaft die Verhältnismäßigkeit der Unterbringung der Angeklagten vorrangig damit begründet, dass die Unterbringung eine Behandlung der Angeklagten überhaupt erst ermögliche und erforderlich sei, weil mildere Mittel nicht ersichtlich seien, kann sie damit nicht gehört werden. Die Unterbringung nach § 63 StGB dient zwar regelmäßig auch dazu, den Täter von seiner psychischen Störung möglichst so weit zu heilen, dass von ihm aufgrund dieses Zustands keine unvertretbaren Gefahren für fremde Rechtsgüter mehr ausgehen. Aber die bloße Behandlungsbedürftigkeit des Täters kann gerade keine Unterbringung nach § 63 StGB rechtfertigen, ebenso wenig wie umgekehrt fehlende Heilungsaussichten eine solche Unterbringung ausschließen (vgl. Fischer, StGB, 69. Auflage 2022, § 63 Rn. 2 mit weiteren Nachweisen).

Ergibt sich die Gefährlichkeit eines Täters nicht aus dem Charakter der Anlasstaten, wovon vorliegend auszugehen ist, weil keine der angeklagten Taten die Eingangskriterien des § 63 StGB erfüllt, kommt es nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs auf die zu befürchtende konkrete Ausgestaltung der künftig zu erwartenden Taten an (BGH, Urteil vom 12.06.2008 - 4 StR 140/08 -, NStZ 2008, 563:, Beschluss vom 22.02.2011 - 4 StR 635/10 -, NStZ-RR 2011, 202). Hiernach liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass von der Angeklagten zukünftig Gewalt- und Aggressionsdelikte zu erwarten sind, die ihre Unterbringung rechtfertigten. Seit dem Bekanntwerden ihrer Erkrankung im Jahr 1997, mithin seit mehr als 25 Jahren, ist es infolge ihres Zustandes nicht zu erheblichen rechtswidrigen Taten gekommen, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet wurden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wurde. Zwar ist eine Progredienz ihrer Erkrankung gegeben, die Gefahr einer Steigerung ihrer Kriminalität ist indes nicht erkennbar. Auch die nach Anklageerhebung von der Angeklagten vermeintlich begangenen Taten weisen einen ähnlich Schweregrad auf wie die verfahrensgegenständlichen Taten.

Soweit die Staatsanwaltschaft darauf abstellt, dass die Rückfallfrequenz und die Häufigkeit der von der Angeklagten zu erwartenden Straftaten ihre Gefährlichkeit ergäben, lässt sie unberücksichtigt, dass sich die einzelnen von der Angeklagten begangenen und zu erwartenden Taten jeweils gegen unterschiedliche Geschädigte richteten (anders bei BGH, Beschluss vom 23. Mai 2018 - 2 StR 121/18 -), mithin vorliegend der Aspekt der Tatserie nicht dazu führt, dass angenommen werden kann, dass durch die Taten bei den Opfern ein Gefühl der Macht- und Ausweglosigkeit bewirkt werde. Die von der Angeklagten zu erwartenden Taten erscheinen mithin nicht geeignet, das Sicherheitsgefühl der Opfer nachhaltig und massiv zu beeinträchtigen und somit den Rechtsfrieden schwer zu stören (vgl. BGH, a.a.O.).

Wenn die Staatsanwaltschaft in ihrer Beschwerde weiter ausführt, der Angeklagten sei es bei der Vielzahl von Sachbeschädigungen augenscheinlich nicht nur auf die einzelnen Substanzverletzungen angekommen, sondern gleichzeitig darauf, die anschließend durch die Geschädigten herbeigerufenen Polizeibeamten durch Schläge, Tritte und Spucken zu attackieren und anzugreifen, kann der Senat nicht erkennen, aus welchen konkreten Tatsachen dieser Schluss folgen soll. Darüber hinaus verkennt die Annahme einer solchen subjektiven Tatseite die jedenfalls krankheitsbedingt angenommene nur eingeschränkte Schuldfähigkeit der Angeklagten, und auch die Anklageschrift wirft der Angeklagten ein solches zielgerichtetes Handeln nicht vor.

III.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 473 Abs. 1 und 2 StPO.