Gericht | FG Berlin-Brandenburg 7. Senat | Entscheidungsdatum | 24.08.2022 | |
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Aktenzeichen | 7 K 7045/20 | ECLI | ECLI:DE:FGBEBB:2022:0824.7K7045.20.00 | |
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen |
Abweichend vom Einkommensteuerbescheid 2017 vom 03.03.2020 wird die Einkommensteuer unter Berücksichtigung von weiteren Werbungskosten bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit in Höhe von
3.943,00 € festzusetzen. Die Berechnung der Steuer wird gemäß § 100 Abs. 2 Satz 3 Finanzgerichtsordnung -FGO- dem Beklagten übertragen.
Die Kosten des Verfahrens werden zu 10 % der Klägerin und
zu 90 % dem Beklagten auferlegt.
Die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten zum Vorverfahren war notwendig.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des Kostenerstattungsanspruchs der Klägerin abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.
Die Revision zum Bundesfinanzhof wird zugelassen.
Die Beteiligten streiten darum, ob die Klägerin die Einspruchsfrist nach dem Einkommensteuerbescheid 2017 vom 15.06.2018 gewahrt hat.
Die Klägerin erzielte im Streitjahr Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit als sog. Continuity bei einer Filmproduktionsgesellschaft. Sie war bereits im Jahre 2018 unter der aus dem Rubrum ersichtlichen Anschrift wohnhaft.
Die Klägerin fertigte ihre Einkommensteuererklärung 2017 nach Aktenlage ohne Hilfe eines Angehörigen der steuerberatenden Berufe an und erteilte keine Empfangsvollmacht für den Einkommensteuerbescheid. In ihrer Einkommensteuererklärung machte sie diverse Werbungskosten aus Fahrt- und Reisekosten bei den von ihr erzielten Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit geltend.
Unter dem Freitag, dem 15.06.2018 erließ der Beklagte einen Einkommensteuerbescheid 2017, mit dem er die Einkommensteuer auf 9.214,00 € festsetzte, wobei er bei den Einkünften der Klägerin aus nichtselbständiger Arbeit nur Werbungskosten in Höhe des Arbeitnehmer-Pauschbetrages berücksichtigte. Den Bescheid übersandte er unmittelbar an die Klägerin. Diese war vom 02.05.2018 bis 19.06.2018 (Tag der Rückkehr an den Wohnort) beruflich in B… tätig.
Den Bescheid vom 15.06.2018 übersandte die Klägerin am Dienstag, dem 19.06.2018 gegen 11:40 Uhr per Telefax einer Steuerberatungsgesellschaft, die im weiteren Verlauf für die Klägerin auftrat. Die Bevollmächtigte legte am 19.07.2018 namens der Klägerin gegen diesen Bescheid Einspruch ein und beantragte die Änderung nach § 129 Abgabenordnung –AO–. Dabei gab die Bevollmächtigte an, dass der Bescheid am 19.06.2018 eingegangen sei. In der Sache begehrte sie die Berücksichtigung von Verpflegungsmehraufwand (auch mit dem Antrag nach § 129 AO) und von Fahrtkosten (nur mit dem Einspruch).
Der Beklagte hielt den Einspruch für verspätet und lehnte den Antrag auf Änderung nach
§ 129 AO ab, wogegen die Klägerin ebenfalls Einspruch einlegte.
Den Einspruch gegen den Einkommensteuerbescheid vom 15.06.2018 verwarf der Beklagte mit Einspruchsentscheidung vom 24.02.2020 als unzulässig. Der angefochtene Bescheid sei am Freitag, dem 15.06.2018 im Wege des Zentralversands dem Postdienstleister übergegen worden. Die Zugangsvermutung gemäß § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO werde durch den Vortrag der Klägerin nicht erschüttert. Aus dem Tag der Faxübermittlung an die Steuerberatungsgesellschaft lasse sich nicht auf den Tag des Posteingangs bei der Klägerin schließen. Im Übrigen nimmt das Gericht Bezug auf die Gründe der Einspruchsentscheidung. Dem Einspruch betreffend den Antrag nach § 129 AO half der Beklagte mit einem geänderten Einkommensteuerbescheid 2017 vom 03.03.2020 ab, indem er weitere Werbungskosten in Höhe von 1.576,00 € für Verpflegungsmehraufwand berücksichtigte.
Darauf hat die Klägerin am 23.03.2020 Klage erhoben. Sie sei am Morgen des Dienstags, des 19.06.2018 per Auto von einem beruflichen Aufenthalt in B… nach Hause zurückgekehrt, habe unmittelbar danach den Briefkasten geleert und den dabei vorgefundenen Einkommensteuerbescheid 2017 vom 15.06.2018 an die Steuerberatungsgesellschaft per Telefax übermittelt. Während ihres Aufenthalts in B… habe abwechselnd eine Freundin oder ihre Mutter den Briefkasten geleert. Wer an den Tagen vor ihrer Rückkehr den Briefkasten geleert habe, wisse sie heute nicht mehr. Anlass für die Übermittlung des Bescheids an die Steuerberatungsgesellschaft sei gewesen, dass die im Bescheid ausgewiesene Erstattung deutlich geringer als erwartet ausgefallen sei. Zweifel an dem gesetzlich vermuteten Zugang des Bescheids ergäben sich daraus, dass im Büro ihrer Bevollmächtigten unter Mitwirkung der für die Postzustellung des streitbefangenen Bescheids zuständigen C… AG oder anderer privater Postdienstleister übermittelte Post regelmäßig erst nach Ablauf der in § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO genannten 3-Tages-Frist eingegangen sei, ferner daraus, dass bei Internetrecherchen eine erhebliche Zahl von Bewertungen aufzufinden seien, in denen die Pünktlichkeit der Zustellung durch die C… AG bemängelt werde. Den Umschlag zum Bescheid vom 15.06.2018 könne die Klägerin nicht mehr vorlegen, weil dieser nach dem Öffnen als Altpapier entsorgt worden sei. Weder für die Klägerin, noch für ihre Bevollmächtigte habe seinerzeit ein Anlass bestanden, den Umschlag aufzuheben bzw. seine Archivierung zu veranlassen. Der Umstand, dass bei der Klägerin am Samstag, dem 16.06.2018 keine Zustellung erfolgt sei, spreche dafür, dass aufgrund erhöhter Postmengen am Montag, dem 18.06.2018 eine verzögerte Zustellung erfolgt sei. Unklar sei, auf welcher Grundlage der Zeuge J… seine Angaben zu den Zustellzeiten gemacht habe.
In der Sache seien weitere Fahrtkosten (nach Abzug der erhaltenen Erstattungen) in Höhe von 3.943,00 € als weitere Werbungskosten zu berücksichtigen.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
abweichend vom Einkommensteuerbescheid 2017 vom 03.03.2020 die Einkommensteuer unter Berücksichtigung von weiteren Werbungskosten bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit in Höhe von 3.943,00 € festzusetzen,
die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten zum Vorverfahren für notwendig zu erklären,
hilfsweise die Revision zuzulassen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er hält die Klage für unbegründet. Er wiederholt die Erwägungen aus der Einspruchsentscheidung und ergänzt sie dahingehend, dass der Druck der von der Steuerverwaltung des Landes D… erstellten Steuerbescheide durch das Druckzentrum beim Technischen Finanzamt in E… erfolge. Um den rechtzeitigen Postversand sicherzustellen, drucke und kuvertiere dieses die Bescheide immer einige Tage vor dem Absendedatum. Im Streitfall sei der Bescheid am 08.06.2018 gedruckt, am 12.06.2018 kuvertiert und am 15.06.2018 dem Postverteilzentrum der C… AG in D… übergeben worden. Die Transporte erfolgten durch Fahrer der C… AG, die die Bescheide montags bis freitags gegen 18:00 Uhr vom Technischen Finanzamt in E… übergeben bekämen und die Sendungen spätestens bis 22:00 Uhr im Briefverteilzentrum in D… ablieferten. Wegen der weiteren Einzelheiten nimmt das Gericht Bezug auf die dem Beklagten erteilte Auskunft der Senatsverwaltung für Finanzen vom 24.02.2021 (Bl. 126 Gerichtsakte –GA–) und die dem Technischen Finanzamt D… erteilte Auskunft des Technischen Finanzamts E… vom 25.02.2021 (Bl. 127 GA). Die C… AG unterliege der Postuniversaldienstleistungsverordnung –PUDLV–, nach deren § 2 Nr. 3 80 % der Briefe im Jahresdurchschnitt einen Tag nach der Einlieferung und 95 % der Briefe zwei Tage nach der Einlieferung zuzustellen seien. Es hätten sich bei einer Nachfrage bei der C… AG keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass im Zeitraum vom 15.06.2018 bis 18.06.2018 von der Zustellnorm abgewichen worden sei (vgl. die Email der C… AG vom 03.03.2021, Bl. 128 GA). Die C… AG habe eine 6-Tage-Zustellwoche, so dass Sendungen an Privatpersonen auch samstags zugestellt würden. Ausnahmen würden insoweit nur bei größeren Unternehmen und Behörden gelten. Auch die Aussagen der Zeugen J… und G… gäben keinen Anlass, an der Zustellung bis zum 18.06.2018 zu zweifeln. Denn der Zeuge G… habe bekundet, dass die am Samstag angelieferte, jedoch nicht ausgetragene Post am folgenden Montag ausgetragen werde. Dementsprechend sei zu vermuten, dass der angefochtene Bescheid am Montag, dem 18.06.2018 zugestellt worden sei. Für die Anwendung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO sei es unerheblich, wie viele zustellungsfreie Tage innerhalb der 3-Tages-Frist lägen, solange nicht der letzte Tag der Frist zustellungsfrei sei. Ferner sei zu berücksichtigen, dass die Bevollmächtigte der Klägerin nicht im Zustellgebiet der C… AG ansässig sei, so dass ein weiteres Postdienstleistungsunternehmen hinzugezogen worden sei. Unter diesen Umständen seien die Postlaufzeiten mit solchen bei in D… ansässigen Empfängern nicht vergleichbar. Die von der Klägerin erwähnten schlechten Bewertungen bezögen sich überwiegend auf Warensendungen und stünden in Widerspruch zu den Ergebnissen einer in 2018 durchgeführten Kundenumfrage der C… AG. Dass die Klägerin parallel ein Verfahren nach § 129 AO betrieben und bei ihrer Bevollmächtigten das Zugangsdatum im Büro statt – korrekt – das Bescheiddatum aufgezeichnet worden sei, deute darauf hin, dass die Klägerin eine Schutzbehauptung aufstelle. Da die Klägerin erst am Dienstag, dem 19.06.2018 von ihrer beruflich bedingten Reise nach B… zurückgekehrt sei, könne sie nicht ausschließen, dass der Bescheid vom 15.06.2018 bereits zuvor zugestellt worden war. Gegen die Berücksichtigung von weiteren Werbungskosten bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit in Höhe von 3.943,00 € bestünden in der Sache keine Einwände.
Darauf hat die Klägerin erwidert, dass § 2 Nr. 3 PUDLV für die streitbefangenen Postsendungen nicht anwendbar sei, da die dort aufgestellten Anforderungen nicht Sendungen beträfen, die eine Mindesteinlieferungsmenge von 50 Stück je Einlieferungsvorgang voraussetzten, was bei der geschilderten Verfahrensweise für die Einlieferungen durch den Beklagten anzunehmen sei. Ferner sei hervorzuheben, dass im Streitfall mit dem Samstag und dem Sonntag zwei Tage der in § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO genannten 3-Tages-Frist zustellungsfrei gewesen seien. Sie habe das Verfahren nach § 129 AO vorsorglich betrieben, weil die Anwendung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO streitbefangen sei. Aus der Art und Weise, wie der angefochtene Bescheid bei ihrer Bevollmächtigten datumsmäßig erfasst worden sei, könne nicht auf die streiterheblichen Verhältnisse beim Beklagten bzw. bei der C… AG geschlossen werden.
Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung schriftlicher Auskünfte des Zeugen
J… der C… AG vom 06.06.2022, 29.07.2022 und 11.08.2022. Wegen der weiteren Einzelheiten nimmt das Gericht auf die Verfügungen des Vorsitzenden vom 08.03.2022, 21.06.2022 und 08.08.2022 sowie die Schriftsätze des Zeugen vom 06.06.2022, 29.07.2022 und 11.08.2022 Bezug. Ferner hat das Gericht Beweis erhoben durch die Vernehmung der Zeugin H… (ehemals I…, frühere Zustellerin der C… AG). Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Sitzungsprotokoll Bezug genommen.
Das Gericht hat eine auszugsweise Abschrift des Sitzungsprotokolls des Verfahrens 7 K 7236/16 vom 30.08.2018 mit dem Protokoll der Vernehmung eines Zustellers der C… AG zu den hiesigen Akten genommen (Bl. 114 GA), auf die Bezug genommen wird.
Dem Gericht hat ein Band der vom Beklagten für die Klägerin unter der Steuer-Nr. … geführten Einkommensteuerakten vorgelegen.
I. Das Gericht war an einer Verhandlung und Entscheidung in der Sache nicht gehindert, obwohl für die Klägerin niemand in der mündlichen Verhandlung erschienen ist. Denn die Beteiligten sind darauf gemäß § 91 Abs. 2 FGO in den ordnungsgemäß zugestellten Ladungen hingewiesen worden.
II. Die Klage ist begründet.
Die Klägerin wird i.S. des § 100 Abs. 1 und 2 FGO durch den angefochtenen Bescheid in ihren Rechten verletzt.
1. Einem Erfolg der Klage steht nicht schon die Bestandskraft des ursprünglichen Einkommensteuerbescheids vom 15.06.2018 gemäß § 42 FGO i.V. mit § 351 Abs. 1 AO entgegen. Der Einspruch vom 19.06.2018 hat die Einspruchsfrist gemäß § 355 Abs. 1 Satz 1 AO gewahrt. Danach ist der Einspruch innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Verwaltungsakts einzulegen.
a) Die Einspruchsfrist begann im Streitfall am 20.06.2018. Wegen der für die Fristberechnung maßgeblichen Vorschriften nimmt das Gericht Bezug auf die Gründe der Einspruchsentscheidung, denen es insoweit folgt (§ 105 Abs. 5 FGO). Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht nicht fest, dass der Einkommensteuerbescheid vom 15.06.2018 der Klägerin vor dem 19.06.2018 bekanntgegeben wurde.
aa) Nach § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO gilt ein schriftlicher Verwaltungsakt, der durch die Post übermittelt wird, als bekannt gegeben bei einer Übermittlung im Inland am dritten Tage nach der Aufgabe zur Post, außer wenn er nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist; im Zweifel hat die Behörde den Zugang des Verwaltungsakts und den Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen.
Dass der angefochtene Bescheid durch einfachen Brief übermittelt wurde, ist zwischen den Beteiligten zu Recht unstreitig.
bb) Zur Überzeugung des erkennenden Gerichts steht fest, dass der Bescheid am 15.06.2018 zur Post aufgegeben wurde. Aufgabe zur Post bedeutet Einwerfen in einen Postbriefkasten oder Einlieferung (Übergabe) bei der Post (Bundesfinanzhof –BFH–, Beschluss vom 26.05.2010 – VIII B 228/09, BFH/NV 2010, 2080, 2. b cc der Gründe m. w. N.). Die Behörde hat den Zeitpunkt der Aufgabe zur Post des Verwaltungsakts nachzuweisen (Klein/Ratschow, AO, 15. Aufl. 2020, § 122 Rn. 54 f. m.w.N.). Für den Beginn der Frist von drei Tagen kommt es danach auf die Aufgabe des Verwaltungsakts zur Post und nicht auf das aufgedruckte Bescheiddatum an. Das Bescheiddatum hat lediglich die Funktion, die Steuerfestsetzung zeitlich zu fixieren und in diesem Sinne den Bescheid zu kennzeichnen. Um den Tag der Aufgabe eines Verwaltungsakts zur Post feststellen zu können, bedarf es nicht unbedingt eines Absendevermerks der Poststelle. Bei Fehlen eines solchen Vermerks kann die Behörde vielmehr darlegen, wie der Ablauf der Postversendung gestaltet war und welche Maßnahmen ergriffen worden waren, um die Gewähr für die Übereinstimmung von Bescheiddatum und tatsächlichem Aufgabetag zu bieten (BFH, Urteil vom 09.12.2009 – II R 62/07, BFH/NV 2010, 824, 2. b aa der Gründe m. w. N.). Solche Darlegungen hat der Beklagte mit seinem Schriftsatz vom 09.03.2021 und durch den mit Schriftsatz vom 12.07.2022 vorgelegten Schriftverkehr vorgetragen, indem er dargelegt hat, dass durch besondere organisatorische Maßnahmen (Vorproduktion in einer automatisiert arbeitenden Druck- und Kuvertieranlage; Bereitstellung in gesonderten, terminbezogenen Lagerbereichen, standardisierte Abläufe beim Technischen Finanzamt in E… und beim Postdienstleister) sichergestellt war, dass das Bescheiddatum mit dem Aufgabevermerk übereinstimmt. Auch die Klägerin hat nicht in Frage gestellt, dass der Vortrag des Beklagten den Tatsachen entspricht, so dass das Gericht keinen Anlass sieht, insoweit Zweifel zu hegen und weitere Ermittlungen anzustellen.
cc) Das vom Land D… beauftragte private Postdienstleistungsunternehmen C… AG war im Streitfall jedoch keine Post i.S. des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO bzw. die besonderen Verhältnisse bei der C… AG geben Anlass, die in § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO statuierte Zugangsvermutung im Streitfall nicht anzuwenden.
(1) Post i.S. des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO sind grundsätzlich auch private Postdienstleistungsunternehmen (vgl. z.B. BFH, Urteil vom 18.04.2013 – X B 47/12, BFH/NV 2013, 1218; Beschluss vom 07.05.2019 – III B 59/18, BFH/NV 2019, 897). Allerdings besteht beim Einsatz von Subunternehmern eine besondere Ermittlungspflicht des Finanzgerichts –FG– (BFH, Urteil vom 14.06.2018 – III R 27/17, Bundessteuerblatt –BStBl.– II 2019, 6; nachgehend: FG Münster, Urteil vom 15.05.2019 – 13 K 3280/18 Kg, Entscheidungen der Finanzgerichte –EFG– 2019, 1156; Beschluss vom 07.05.2019 – III B 59/18, BFH/NV 2019, 897). Denn der BFH verneint, dass die Zugangsvermutung Anwendung findet, wenn die Post im Laufe des Beförderungsprozesses vom zunächst befassten Beförderungsunternehmen an ein anderes übergeben wird (BFH, Beschlüsse vom 07.05.2019 – III B 59/18, BFH/NV 2019, 897; vom 02.07.2021 – XI R 22/19, Deutsches Steuerrecht –DStR– 2021, 2584). Dafür bestehen im Streitfall keine Anhaltspunkte. Denn nach Aktenlage erfolgte der Brieftransport im Streitfall ausschließlich mit Fahrzeugen und Mitarbeitern der C… AG.
(2) Im Streitfall findet die Zugangsvermutung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO aber deshalb keine Anwendung, weil an der Wohnung der Klägerin innerhalb der 3-Tages-Frist nach dem 15.06.2018 regelmäßig nicht an allen Werktagen vom Postdienstleistungsunternehmen C… AG Post zugestellt worden ist.
Die Zugangsvermutung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO ist zu einer Zeit kodifiziert worden (als § 122 Abs. 2 der AO vom 16.03.1976, Bundesgesetzblatt I 1976, 613), als ausschließlich die Deutsche Bundespost Briefpost in der Bundesrepublik Deutschland beförderte und zustellte und das regelmäßig an 6 Tagen in der Woche. Auch wenn – wie dargestellt – dem Grunde nach bei Befassung privater (also nicht mit der Deutschen Post AG identischer) Postdienstleister die Zugangsvermutung gilt, muss dennoch deren Arbeitsweise in den wesentlichen Zügen mit denen der Deutschen Bundespost bei Kodifizierung der Zugangsvermutung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO übereinstimmen, wie sich aus der „Subunternehmer-Rechtsprechung“ des BFH (Beschluss vom 07.05.2019 – III B 59/18, BFH/NV 2019, 897) ergibt. Zwar findet die Zugangsvermutung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO auch Anwendung, wenn – z.B. wegen mehrerer arbeitsfreier Tage oder Personalausfall – innerhalb der 3-Tages-Frist an zwei Tagen keine Zustellung stattfindet (z.B. wird bei Aufgabe zur Post am Freitag, dem 30. April trotz des Feiertags am 1. Mai der Zugang am Montag, dem 3. Mai grundsätzlich vermutet). Insoweit handelt es sich jedoch um Sonderkonstellationen, die die grundsätzliche Anwendung der Zugangsvermutung nicht in Frage stellen können. Dies stellt sich jedenfalls dann anders dar, wenn innerhalb der 3-Tages-Frist – wie im Streitfall –planmäßig an zwei aufeinanderfolgenden Tagen keine Zustellung erfolgte. Der Beklagte hat zwar zunächst vorgetragen, die C… AG stelle an 6 Tagen in der Woche zu, jedoch steht dies im Gegensatz zur Einlassung der Zeugen J… und H… im hiesigen Verfahren. Der Zeuge J… hat bekundet, im Jahre 2018 habe in der Straße, in der die Klägerin wohnhaft war und ist, samstags grundsätzlich keine Postzustellung stattgefunden. Die Zeugin H…, die bis zum 14.03.2021 nahezu 20 Jahre lang in verschiedensten Zustellgebieten der C… AG in D… tätig war, hat bekundet, dass während ihrer gesamten Dienstzeit von der C… AG nur an 5 Tagen der Woche Post zugestellt worden sei, je nach den örtlichen Verhältnissen (Anteil von Firmen an den potentiellen Empfängern im Zustellgebiet des einzelnen Zustellers) entweder von Dienstag bis Samstag oder von Montag bis Freitag (sog. Firmentouren). Im Verfahren 7 K 7236/16 hat auch der jedenfalls seit Ende 2014 für die C… AG tätige Zeuge G… am 30.08.2018 bekundet, dass an einem Werktag (in der Regel am Montag, ggf. am Samstag) keine Postzustellung stattfindet. Nachdem das Gericht dem Beklagten die Aussage der Zeugen vorgehalten hat, hat er seine Behauptung, die C… AG stelle an 6 Tagen in der Woche zu, nicht mehr wiederholt.
Bezogen auf den Streitfall bedeutet dies: Nach der glaubhaften Aussage der Zeugin H… wurde am Samstag, dem 16.06.2018 und dann erst wieder am Dienstag, dem 19.06.2018 zu verteilende Post im Zustellzentrum angeliefert. Am Montag, dem 18.06.2018 wurde bei den sog. Firmentouren die am Samstag, dem 16.06.2018 angelieferte und an diesem Tag nicht zugestellte Post ausgetragen. Die Zustellung durch die C… AG wäre der Zugangsvermutung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO daher nur dann gerecht geworden, wenn der angefochtene Bescheid am Samstag, dem 16.06.2018, als an dem auf die Aufgabe zur Post folgenden Tag, im für die Wohnung der Klägerin zuständigen Zustellzentrum der C… AG angeliefert und daraufhin am Montag, dem 18.06.2018 in den Briefkasten der Klägerin eingeworfen worden wäre. Angesichts der Tatsachen, dass nach § 2 Nr. 3 PUDLV im Jahresdurchschnitt nur 80 % der Briefe am Tag nach der Einlieferung zuzustellen sind und dass weniger als 12 Stunden zwischen Einlieferung im Verteilzentrum (geschätzt mindestens 1,5 Fahrzeit für ca. 140 km von E… nach D…, also frühestens 19:30 Uhr) und Anlieferung im Zustellzentrum (vor 07:00 Uhr, regelmäßiger Arbeitsbeginn des Zeugen G… im Verfahren 7 K 7236/18) lagen, erscheinen insoweit Verzögerungen (z.B. wegen Personalausfällen oder überdurchschnittlichem Sendungsaufkommens) ohne weiteres denkbar. Die vom Beklagten vorgelegten Auskünfte der C… AG lassen nicht erkennen, dass am Morgen des 16.06.2018 im Verteilzentrum der C… AG in D… keine zu verteilenden Postsendungen mehr vorhanden waren.
(3) Zu Lasten der Klägerin ergibt sich nichts daraus, dass sie den Briefumschlag, in dem ihr der angefochtene Bescheid übersandt wurde, nicht vorgelegt hat. Die Klägerin hat zwar grundsätzlich eine Pflicht zur Mitwirkung an der Aufklärung des Sachverhalts, indem sie den Briefumschlag, in dem ihm der angefochtene Bescheid übersandt wurde, vorlegt (BFH, Beschluss vom 21.12.2001 – VIII B 132/00 BFH/NV 2002, 661; Urteil vom 27.11.2002 – X R 17/01, BFH/NV 2003, 586, jeweils zu Sachverhalten, in denen der Zeitpunkt der Aufgabe zur Post streitig war; in diesem Sinne wohl auch BFH, Urteil vom 23.11.2016 – IX B 54/16, BFH/NV 2017, 264). Dies gilt jedoch nicht uneingeschränkt, z.B. dann nicht, wenn sich auch aus dem übrigen Vortrag des Steuerpflichtigen Zweifel am Zugang innerhalb der 3-Tages-Frist ergeben (BFH, Urteil vom 22.05.2019 – X B 109/18, BFH/NV 2019, 900; gegen eine derartige Beweisvorsorgepflicht generell: Klein/Ratschow, AO, 15. Aufl. 2020, § 122 Rn. 59a). Auch im „Subunternehmer-Urteil“ hat der BFH (Urteil vom 14.06.2018 – III R 27/17, BStBl. II 2019, 6) der von der Vorinstanz (FG Münster, Urteil vom 30.03.2017 – 13 K 3907/15 Kg, juris) festgestellten Tatsache, dass der Briefumschlag nicht vorgelegt wurde, keine Bedeutung zugemessen. Jedenfalls betonen auch Entscheidungen, die grundsätzlich von einer derartigen Beweisvorsorgepflicht ausgehen, dass das FG den Zeitpunkt der Aufgabe zur Post in freier Beweiswürdigung ermitteln muss (BFH, Urteil vom 27.11.2002 – X R 17/01, BFH/NV 2003, 586; Beschluss vom 16.05.2007 – V B 169/06, BFH/NV 2007, 1454). Schließlich versteht das Gericht die höchstrichterliche Rechtsprechung dahingehend, dass etwaige Mängel bei der Substantiierung des Bestreitens unerheblich sind, wenn – wie im Streitfall – die Zugangsvermutung nicht eingreift (vgl. BFH, Beschluss vom 26.02.2021 – X B 108/20, BFH/NV 2021, 929).
Bezogen auf den Streitfall folgt daraus: Der Umstand, dass die Klägerin den Briefumschlag, in dem ihr der Einkommensteuerbescheid vom 15.06.2018 übersandt wurde, nicht mehr vorlegen kann, ist nicht streiterheblich. Wenn entgegen der Auffassung des erkennenden Gerichts die Zugangsvermutung eingreifen sollte, könnte die Klägerin den Zugang am 18.06.2018 nicht substantiiert bestreiten. Ob ein Brief, den die Klägerin am Morgen/Vormittag des 19.06.2018 in ihrem Briefkasten vorgefunden hat, am selben Tag oder am Vortag dort eingeworfen wurde, kann sie nicht wissen. Dass die Klägerin bereits vorher in ihrer Wohnung eingetroffen ist und erst bei einem zweiten Öffnen des Briefkastens den Brief vorgefunden hat, hat die Klägerin trotz eingehender Befragung mit Verfügung vom 14.12.2021 in ihrem Schriftsatz vom 24.01.2022 nicht vorgetragen, ebenso wenig, dass ihre Freundin oder Mutter am späten Nachmittag oder am Abend des 18.06.2018 den Briefkasten geleert hatten, ohne den Bescheid vorzufinden. Bei einer zweitägigen Zustellungspause erscheint es – wie unter II. 1. a cc (2) ausgeführt – ohne weiteres möglich, dass auch bei Aufgabe am 15.06.2018 (mehr dürfte aus einem Briefumschlag auch nicht erkennbar sein) eine Zustellung erst zwei weitere Zustelltage später erfolgt ist.
(4) Umgekehrt haben sich keine Anhaltspunkte ergeben, die zwingend dafür sprechen, dass der Bescheid bereits am 18.06.2018 in den Briefkasten der Klägerin eingeworfen worden war. Nach der Auskunft des Zeugen J… und den Angaben der Klägerin in ihrem Schriftsatz vom 24.01.2022 ist es ohne weiteres möglich, dass die Zustellerin den Brief am Dienstag, dem 19.06.2018 zwischen 10:15 Uhr und 10:45 Uhr in den Briefkasten der Klägerin eingeworfen hat, die Klägerin zwischen 10:45 Uhr und 11:30 Uhr zu Hause eingetroffen ist, beim Betreten des Hauses den Briefkasten geleert, vom Inhalt des Briefes des Beklagten Kenntnis genommen und gegen 11:40 Uhr die Faxübersendung an ihre Bevollmächtigte vorgenommen hat. Es bleibt zwar unklar, auf welcher Grundlage der Zeuge seine Angaben gemacht hat, jedoch hat die Vernehmung der Zeugin H… insoweit keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass die Angaben falsch sind. Die Zeugin konnte sich zwar nicht erinnern, ob und wann sie an der Wohnanschrift der Klägerin Post zugestellt hat. Es erscheint jedoch nachvollziehbar, dass der Zeuge J… Zugriff auf Dienst- und Tourenpläne hat, aus denen er ersehen konnte, dass die Zeugin am 18.09.2018 und 19.08.2018 Post an der Wohnanschrift der Klägerin zugestellt hat. Entgegenstehende Anhaltspunkte haben sich aus der Vernehmung der Zeugin nicht ergeben. Ferner hat die Zeugin vermutet, dass sie regelmäßig zwischen 09:00 Uhr und 09:30 Uhr mit der Zustellung begonnen hat. Die Wohnanschrift der Klägerin liegt ca. 700 m vom Zustellzentrum der C… AG entfernt, so dass die Zeugin die Wohnanschrift der Klägerin ohne weiteres bis 10:15 Uhr erreichen konnte. Die Klägerin hat zwar nicht erläutert, wie der Kontakt zur Bevollmächtigten zustande kam. Da die vorliegende Steuerakte nur den Streitzeitraum umfasst, kann es schon vorherige Kontakte gegeben haben. Es erscheint auch glaubhaft, dass die Klägerin – ggf. aufgrund von Erfahrungen in Vorjahren – eine grobe Vorstellung hatte, in welcher Höhe mit Erstattungen zu rechnen war. Immerhin sind bereits durch den Bescheid vom 03.03.2020 weitere ca. 630,00 € erstattet worden. Der noch streitige Betrag dürfte einem potentiellen Erstattungsbetrag von ca. 1.400,00 € entsprechen (vgl. Bl. 83 GA). Die verbleibenden Unsicherheiten, u.a. daraus, dass die Zeugin sich nicht mehr erinnern konnte, in welcher Reihenfolge sie am 19.06.2018 ihre Zustelltour gefahren war, gehen zu Lasten des Beklagten, der die Feststellungslast für den Zeitpunkt der Bekanntgabe des von ihm erlassenen Bescheids trägt und der sich nach Auffassung des erkennenden Senats nicht auf die Zugangsvermutung i.S. des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO berufen kann.
b) Ausgehend von der Bekanntgabe des angefochtenen Einkommensteuerbescheids vom 15.06.2018 am 19.06.2018 endete die Einspruchsfrist am Donnerstag, dem 19.07.2018. Wegen der für die Fristberechnung maßgeblichen Vorschriften nimmt das Gericht Bezug auf die Gründe der Einspruchsentscheidung, denen es insoweit folgt (§ 105 Abs. 5 FGO). Der an diesem Tag beim Beklagten eingegangene Einspruch war daher rechtzeitig.
2. Da der Einspruch rechtzeitig eingelegt wurde und sowohl nach Aktenlage als auch nach Auffassung der Beteiligten keine Zweifel daran bestehen, dass der Klägerin materiell-rechtlich weitere Werbungskosten gemäß § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4a Einkommensteuergesetz in Höhe von 3.943,00 € zustehen, ist dem Klageantrag vollständig stattzugeben.
III. Die Kostenentscheidungen beruhen auf §§ 135 Abs. 1, 139 Abs. 3 Satz 3 FGO. Soweit die Klägerin ihr Begehren eingeschränkt hat, trägt sie die Kosten in entsprechender Anwendung des § 136 Abs. 2 FGO.
IV. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 151 Abs. 3, 155 Satz 1 FGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 10, 711 Zivilprozessordnung - ZPO - analog.
V. Die Zulassung der Revision beruht auf § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO, da es das Gericht für höchstrichterlich klärungsbedürftig hält, ob die Zugangsvermutung gemäß § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO entfällt, wenn innerhalb der dort genannten 3-Tages-Frist an einem Werktag regelmäßig keine Postzustellung stattfindet.