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Entscheidung S 26 AS 725/20


Metadaten

Gericht SG Neuruppin 26. Kammer Entscheidungsdatum 25.10.2022
Aktenzeichen S 26 AS 725/20 ECLI ECLI:DE:SGNEURU:2022:1025.S26AS725.20.00
Dokumententyp Gerichtsbescheid Verfahrensgang -
Normen

Tenor

Die Klagen werden abgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Bewilligung von Einstiegsgeld für die Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung.

Die im März 1964 geborene Klägerin, die seit geraumer Zeit zusammen mit ihrem Ehemann und ihrem Sohn passive Grundsicherungsleistungen nach den Bestimmungen des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch bezog, teilte dem beklagten Jobcenter am 19. Februar 2019 telefonisch mit, mit Wirkung ab dem 01. März 2019 eine sozialversicherungspflichtige Teilzeitbeschäftigung als Pflegehelferin aufzunehmen, beantragte hierfür die Gewährung von Einstiegsgeld und schloss am 21. Februar 2019 einen entsprechenden – zunächst befristeten – Arbeitsvertrag (25 Stunden je Woche, monatlicher Bruttolohn 1.169,04 Euro) als Betreuungsassistentin.

Mit sozialverwaltungsbehördlicher Verfügung vom 05. März 2020 lehnte der Beklagte den Antrag der Klägerin ab. Die Voraussetzungen des § 16b Abs 1 SGB II in Verbindung mit der Einstiegsgeld-Verordnung lägen nicht vor. Die Gesamtumstände in der Prognose und zum Zeitpunkt der Entscheidung würden zeigen, dass die Klägerin und die Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft auch in der fortlaufenden Zeit nach Aufnahme der Beschäftigung – trotz Ausübung dieser ohnehin zunächst nur befristeten Beschäftigung – weiter hilfebedürftig blieben. Im Rahmen des eingeräumten Ermessens führe die Abwägung zwischen dem Interesse am Erhalt entsprechender Sozialleistungen und dem öffentlichen Interesse, Sozialleistungen lediglich im erforderlichen Umfang und zweckgerichtet zu gewähren, zu dem Ergebnis, dass eine Bewilligung nicht gerechtfertigt sei. Den hiergegen mit Schreiben vom 01. April 2020 erhobenen Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 01. Juli 2020 als unbegründet zurück. Die Tatbestandsvoraussetzung der Erforderlichkeit läge nicht vor. Maßstab der Erforderlichkeitsprüfung sei die Aussicht auf Eingliederung in den ersten Arbeitsmarkt. Dies setze eine gewisse Dauerhaftigkeit der Arbeitsaufnahme voraus, die angesichts des zum Zeitpunkt der Antragstellung lediglich befristeten Beschäftigungsverhältnisses nicht gegeben gewesen sei. Außerdem bewege sich das Einkommen aus der Erwerbstätigkeit in der absehbaren Zukunft auf so niedrigem Niveau, dass Hilfebedürftigkeit nicht beseitigt werden könne.

Hiergegen hat die anwaltlich vertretene Klägerin mit bei dem Sozialgericht Neuruppin am 30. Juli 2020 eingegangenem Schriftsatz vom 29. Juli 2020 Klage erhoben, mit der sie ihr auf Gewährung von Einstiegsgeld gerichtetes Begehren weiterverfolgt. Die Voraussetzungen für die Gewährung von Einstiegsgeld seien gegeben, weil aufgrund der Beschäftigung der Bezug von Leistungen nach dem SGB II der Klägerin und den anderen Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft zumindest bereits reduziert worden sei. Es sei auch nicht auszuschließen, dass die arbeitsvertraglich vereinbarte Stundenanzahl noch aufgestockt würde.

Die Klägerin beantragt,

den Beklagten unter Aufhebung der mit dem Bescheid des Beklagten vom 05. März 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01. Juli 2020 verlautbarten sozialverwaltungsbehördlichen Ablehnungsverfügung zu verpflichten, über ihren Antrag auf Gewährung von Einstiegsgeld vom 19. Februar 2019 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung seines Antrages verweist er auf die Begründungen in den angefochtenen sozialverwaltungsbehördlichen Entscheidungen. Ergänzend hebt er hervor, die Klägerin habe erst im Anschluss an die Durchführung des Bewerbungsgespräches die Gewährung von Einstiegsgeld beantragt, weshalb erkennbar sei, dass die Eingliederung in den Arbeitsmarkt auch ohne Förderung erfolgt sei.

Nachdem das Gericht die Klägerin im Rahmen eines Termins zur Erörterung des Sachverhaltes am 02. September 2022 persönlich angehört hatte, hat es die Beteiligten mit Verfügungen vom 08. September 2022 zu der beabsichtigten Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört.

Wegen des Inhaltes der persönlichen Anhörung wird auf Seite 7 und auf Seite 8 des Protokolls des Termins zur Erörterung des Sachverhaltes vom 02. September 2022 und wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes auf den Inhalt der Prozess- und der die Klägerin betreffenden Verwaltungsakten des Beklagten Bezug genommen. Die entsprechenden Inhalte haben vorgelegen und waren Gegenstand der Entscheidungsfindung.

Entscheidungsgründe

Die Klagen haben keinen Erfolg.

1. Über die Klagen konnte das Gericht gemäß § 105 Abs 1 S 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) durch Gerichtsbescheid entscheiden, weil die Sache keine besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten aufweist, der Sachverhalt geklärt ist, die Beteiligten gemäß § 105 Abs 1 S 2 SGG zuvor mit gerichtlichen Verfügungen vom 08. September 2022 zu dieser beabsichtigten Entscheidungsform ordnungsgemäß angehört worden sind, eine ausdrückliche Zustimmung der Beteiligten hierzu nicht erforderlich ist und weil das Gericht vor seiner Entscheidung – ebenso wie im Rahmen der mündlichen Verhandlung – weder zur vorherigen Darstellung seiner Rechtsansicht (vgl Bundessozialgericht, Beschluss vom 03. April 2014 – B 2 U 308/13 B, RdNr 8 mwN) noch zu einem vorherigen umfassenden Rechtsgespräch verpflichtet ist (vgl Bundessozialgericht, Urteil vom 30. Oktober 2014 – B 5 R 8/14 R, RdNr 23).

2. a) Streitgegenstand des sozialgerichtlichen Klageverfahrens ist die Bewilligung von Einstiegsgeld, die der Beklagte dem Grunde nach durch die mit dem Bescheid vom 05. März 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01. Juli 2020 verlautbarte sozialverwaltungsbehördliche Verfügung abgelehnt hatte, weshalb diese Verfügung auch Gegenstand des Klageverfahrens ist.

b) Die Klägerin macht ihr Begehren – interessengerecht ausgelegt (§ 123 SGG) – angesichts der in das pflichtgemäße Ermessen des Beklagten (vgl § 39 Abs 1 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch – Allgemeiner Teil – (SGB I)> gestellten Gewährung von Einstiegsgeld nach Maßgabe des § 16b Abs 1 S 1 SGB des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) – in der Fassung, die die genannte Vorschrift zum Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Verfügung hatte, weil insoweit das zu diesem Zeitpunkt geltende Recht anzuwenden ist (sog Geltungszeitraumprinzip, vgl dazu nur Bundessozialgericht, Urteil vom 19. Oktober 2016 – B 14 AS 53/15 R –, RdNr 14f mwN), was auch für die weiteren zitierten Vorschriften gilt – zutreffend mit einer Kombination aus Anfechtungs- und Verpflichtungsklage im Sinne des § 54 Abs 1 S 1 Regelung 1 SGG iVm § 54 Abs 1 S 1 Regelung 3 SGG iVm § 54 Abs 2 S 2 SGG und § 56 SGG geltend. Sie ist auf die Aufhebung der ablehnenden sozialverwaltungsbehördlichen Verfügung des Beklagten und auf die Neubescheidung im Sinne der Erbringung von Einstiegsgeld – unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts – in einer von dem Beklagten noch zu bemessenden Höhe gerichtet (vgl dazu Bundessozialgericht, Urteil vom 05. August 2015 – B 4 AS 46/14 R, RdNr 11 mwN).

c) Die so verstandene statthafte Kombination aus Anfechtungs- und Verpflichtungsklage ist auch im Übrigen zulässig.

3. Die zulässigen Klagen sind indes unbegründet.

a) Die Anfechtungsklage ist im Sinne der Regelung des § 54 Abs 1 S 1 Regelung 1 SGG unbegründet, denn die mit dem angegriffenen Bescheid des Beklagten vom 05. März 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01. Juli 2020 verlautbarte sozialverwaltungsbehördliche Ablehnungsentscheidung ist rechtmäßig und beschwert die Klägerin nicht in ihren subjektiv-öffentlichen Rechten (vgl § 54 Abs 2 S 1 SGG). Für die begehrte Neubescheidungsverpflichtung des Beklagten mangelt es bereits an einem Anspruch der Klägerin auf die Erbringung des Einstiegsgeldes dem Grunde nach.

aa) Rechtsgrundlage für die Gewährung von Einstiegsgeld ist § 16b Abs 1 S 1 SGB II in der Fassung, die die genannte Vorschrift zum Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Verfügung hatte, weil insoweit das zu diesem Zeitpunkt geltende Recht anzuwenden ist (sog Geltungszeitraumprinzip, vgl dazu nur Bundessozialgericht, Urteil vom 19. Oktober 2016 – B 14 AS 53/15 R –, RdNr 14f mwN), was auch für die weiteren zitierten Vorschriften gilt. Die Regelung des § 16b Abs 1 S 1 SGB II sieht vor, dass erwerbsfähigen Hilfebedürftigen zur Überwindung von Hilfebedürftigkeit bei Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen oder selbstständigen Erwerbstätigkeit ein Einstiegsgeld erbracht werden kann, wenn dies zur Eingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt erforderlich ist.

bb) Die Förderung der Klägerin ist unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe jedenfalls nicht erforderlich gewesen, worauf auch der Beklagte zuletzt zu Recht hingewiesen hat. Im Rahmen dieses gerichtlich voll überprüfbaren unbestimmten Rechtsbegriffs ist von Bedeutung, ob die Eingliederung die Erbringung des Einstiegsgeldes – als ultima ratio – bei der Aufnahme der Tätigkeit erfordert. Sie dient der Prüfung, ob die Eingliederung nur durch das Einstiegsgeld gewährleistet werden kann oder ob hierzu Alternativen bestehen. Bezugspunkt für diese Prognose ist die letzte Verwaltungsentscheidung (Bundessozialgericht, Urteil vom 04. März 2021 – B 4 AS 59/20 R, RdNr 20 mwN). Zum hier maßgeblichen Zeitpunkt des Widerspruchsbescheides vom 01. Juli 2020 hatte die Klägerin die Beschäftigung aber bereits angetreten, weshalb die Eingliederung die Erbringung des Einstiegsgeldes offenkundig bei der Aufnahme der Tätigkeit nicht erforderte.

Weil der Antrag auf Gewährung von Einstiegsgeld darüber hinaus nur wenige Tage vor der Unterzeichnung des Arbeitsvertrages und nur wenige Tage vor der Arbeitsaufnahme gestellt wurde und auch das Bewerbungsgespräch selbst nach den eigenen Angaben der Klägerin im Termin zur Erörterung des Sachverhaltes, die ihr Ehemann bestätigt hat, vor der Beantragung auf Gewährung von Einstiegsgeld stattgefunden hat, ist nichts dafür ersichtlich, dass der zwischen der Förderung und der Eingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt erforderliche kausale Zusammenhang bestehen könnte. Das Bundessozialgericht hat bereits zum Eingliederungszuschuss nach § 217 des Dritten Buches Sozialgesetzbuch – Arbeitsförderung – (SGB III) entschieden, dass ein kausaler Zusammenhang nicht besteht, wenn der Antragsteller auch ohne Förderung eingestellt worden und somit die Eingliederung auch ohne Förderung erfolgt wäre. Diese Rechtsprechung ist auf die Prüfung der Voraussetzungen des Einstiegsgeldes zu übertragen (Bundessozialgericht, Urteil vom 04. März 2021 – B 4 AS 59/20 R, RdNr 21 unter Hinweis auf Bundessozialgericht, Urteil vom 06. April 2006 – B 7a AL 20/05 R, RdNr 21). Wäre die Förderung aus der Sicht der Klägerin unabdingbare Voraussetzung für die Aufnahme der Tätigkeit gewesen, hätte es nahegelegen, den Antrag frühzeitiger zu stellen.

cc) Liegen deshalb jedenfalls die Voraussetzungen der „Erforderlichkeit des Einstiegsgeldes zur Eingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt“, die nach dem Aufbau der Vorschrift des § 16b SGB II nicht erst im Rahmen des Entschließungsermessens, sondern auf Tatbestandsseite von dem Beklagten zu berücksichtigen sind (vgl dazu Bundessozialgericht, Urteil vom 05. August 2015 – B 4 AS 46/14 R, RdNr 18 mwN), nicht vor, kommt es auf die Frage, ob der Beklagte auf der Rechtsfolgenseite sein Ermessen (vgl erneut § 39 Abs 1 SGB I) pflichtgemäß ausgeübt hat oder nicht, nicht mehr entscheidungserheblich an, weil es bei dieser Sachlage einer Ermessensausübung nicht bedurfte.

dd) Weil auch andere zu Gunsten der Klägerin streitende Anspruchsgrundlagen nicht ersichtlich sind, muss der Anfechtungsklage insgesamt der Erfolg versagt bleiben.

b) Wenn sich danach die auf Aufhebung der dem Begehren der Klägerin entgegen stehenden ablehnenden sozialverwaltungsbehördlichen Verfügung des Beklagten gerichtete Anfechtungsklage im Sinne des § 54 Abs 1 S 1 Regelung 1 SGG als unbegründet erweist, ist auch die auf die Verpflichtung des Beklagten zur Neubescheidung gerichtete Verpflichtungsklage im Sinne des § 54 Abs 1 S 1 Regelung 3 SGG iVm § 56 SGG unbegründet, weil diese aufgrund des der Kombination immanenten Stufenverhältnisses ihrerseits eine zulässige und begründete Anfechtungsklage voraussetzt und weil der Klägerin – wie dargelegt – ein entsprechender Anspruch gegen den Beklagten nicht zusteht.

4. a) Die Kostenentscheidung folgt aus § 105 Abs 1 S 3 SGG iVm § 193 Abs 1 S 1 SGG. Es entsprach dabei der Billigkeit, dass die Beteiligten einander keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten haben, weil die Klägerin mit ihrem Begehren vollumfänglich unterlag.

b) Die Aufwendungen des Beklagten sind schon von Gesetzes wegen nicht erstattungsfähig (vgl § 105 Abs 1 S 3 SGG iVm § 193 Abs 4 SGG iVm § 184 Abs 1 SGG).

5. Gerichtskosten werden in Verfahren der vorliegenden Art nicht erhoben (§ 105 Abs 1 S 3 SGG iVm § 183 S 1 SGG).