Gericht | OLG Brandenburg 2. Strafsenat | Entscheidungsdatum | 01.12.2022 | |
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Aktenzeichen | 2 AR 39/22 (S), 2 AR 39/22 | ECLI | ECLI:DE:OLGBB:2022:1201.2AR39.22.00 | |
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen |
1. Die Auslieferung der Verfolgten nach Ungarn zum Zwecke der Strafverfolgung wegen der im Europäischen Haftbefehl des Zentralen Bezirksgerichts Buda vom 8. August 2022 (Az.: 18.Bny.2862(2022/2) näher bezeichneten Taten wird für zulässig erklärt.
2. Die beabsichtigte Bewilligung der Auslieferung der Verfolgten an die ungarischen Justizbehörden wird unter dem Vorbehalt der Beachtung des Spezialitätsgrundsatzes sowie unter der Bedingung, dass der Verfolgten, sollte sie wegen der in dem vorbezeichneten Europäischen Haftbefehl näher bezeichneten Taten rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe oder anderen strafrechtlichen Sanktionen verurteilt werden, angeboten wird, sie auf ihren Wunsch zur Strafvollstreckung nach Deutschland zurück zu überstellen, gerichtlich bestätigt.
3. Die Fortdauer der Auslieferungshaft wird angeordnet.
4. Die Anordnung der Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg vom 29. November 2022 bezüglich der Verfolgten alle Einschränkungen des Post-, Telefon- und Besuchsverkehrs sowie ihrer gesonderten Unterbringung aufzuheben, wird gerichtlich bestätigt.
I.
Die ungarischen Behörden ersuchen auf der Grundlage des Europäischen Haftbefehls des Zentralen Bezirksgerichts in Buda vom 8. August 2022 (Az.: 18.Bny.2862/22/2) um Auslieferung der am 21. September 2022 in ihrer Wohnung in B... festgenommenen Verfolgten zum Zwecke der Strafverfolgung wegen „Menschenhandels und Zwangsarbeit zwecks Durchführung von sexuellen Handlungen“ gemäß §§ 3, 12, 192 des ungarischen Strafgesetzbuchs Btk.. Ihr wird zur Last gelegt, in der Zeit von Mitte 2017 bis Mitte 2021 ihrem Lebensgefährten, dem als Haupttäter ebenfalls Verfolgten Z... L..., im Rahmen dessen Tätigkeit als Zuhälter auf dem Berliner Straßenstrich Hilfe geleistet zu haben; konkret soll die Verfolgte die Opfer des Menschenhandels in Berlin in Empfang genommen und in die Prostitutionstätigkeit eingewiesen, auf Geheiß des L... Mindestpreise sowie Arbeitsorte festgelegt und als (einzige) Kontaktperson für die von L... als deren Zuhälter ausgebeuteten Prostituierten, denen der Besitz eines eigenen Mobiltelefons verboten gewesen sei, fungiert haben. In mindestens einem Fall soll sie ein Opfer des Menschenhandels, das sich geweigert habe, der Prostitutionstätigkeit (weiter) nachzugehen und das daraufhin von dem Z... L... eingesperrt worden sei, bewacht und beaufsichtigt haben.
Der Senat hat gegen die Verfolgte mit Beschluss vom 6. Oktober 2022 - unter Zurückweisung ihrer dagegen erhobenen Einwendungen - die vorläufige und mit weiterem Beschluss vom 20. Oktober 2022 die förmliche Auslieferungshaft angeordnet. Wegen der Begründungen im Einzelnen wird auf die beiden vorgenannten Beschlüsse Bezug genommen. Am 14. November 2022 hat die Verfolgte im Rahmen ihrer richterlichen Anhörung zur Vorbereitung der Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung erklärt, mit der vereinfachen Auslieferung nicht einverstanden zu sein. Der Beistand der Verfolgten hat dem entgegen mit Schriftsatz vom 16. November 2022 mitgeteilt, diese sei „nunmehr doch mit der vereinfachten Auslieferung einverstanden“. Dies wird durch ein an die Generalstaatsanwaltschaft bzw. den Senat adressiertes Schreiben der Verfolgten, mit dem sie ausdrücklich ihr Einverständnis mit der vereinfachten Auslieferung erklärt und ihre „schnellstmögliche“ Überstellung beantragt, bestätigt. Auf die Einhaltung des Grundsatzes der Spezialität hat die Verfolgte weiterhin nicht verzichtet.
Der Verfolgten ist anlässlich ihrer richterlichen Anhörung im Beisein ihres Beistandes am 14. November 2022 mitgeteilt worden, dass die Generalstaatsanwaltschaft hinsichtlich des Auslieferungsersuchens nicht beabsichtige, Bewilligungshindernisse nach § 83b IRG geltend zu machen; mit Blick auf ihren Aufenthalt in Deutschland komme im Falle ihrer Verurteilung in Ungarn zu einer Freiheitsstrafe ein die Auslieferungsbewilligung nicht entgegenstehender Vorbehalt der Rücküberstellung nach Deutschland in Betracht.
Die Generalstaatsanwaltschaft beantragt, die Auslieferung der Verfolgten nach Ungarn zur Strafverfolgung wegen der im Europäischen Haftbefehl des Zentralen Bezirksgerichts Buda vom 8. August 2022 näher bezeichneten Taten für zulässig zu erklären; ferner, der beabsichtigten Bewilligung der Auslieferung der Verfolgten unter Spezialvorbehalt sowie unter der Bedingung, dass sie, sollte sie zu einer Freiheitsstrafe verurteilt werden und deren Vollstreckung in Deutschland wünschen, zur Strafvollstreckung nach Deutschland zurück überstellt wird, zuzustimmen; und gegen die Verfolgte die Fortdauer der Auslieferungshaft anzuordnen.
II.
Der Senat entscheidet gemäß dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft.
1. Die Auslieferung der Verfolgten nach Ungarn ist zulässig.
Seit dem Inkrafttreten des Europäischen Haftbefehlsgesetzes - EuHbG - vom 20. Juli 2006 (BGBl. I. S. 1721) am 2. August 2006 richtet sich die Auslieferung nach Ungarn als einem Mitgliedstaat der Europäischen Union gemäß § 1 Abs. 4, 78 IRG nach den §§ 80 ff IRG, mit denen der Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABIEG Nr. L 190 v. 18. Juli 2002 S. I - RbEuHb) umgesetzt worden ist.
Gründe, die einer Auslieferungsfähigkeit entgegenstehen könnten, sind nicht ersichtlich.
Die Auslieferungsfähigkeit ist nach §§ 3, 81 Nr. 1 IRG gegeben. Die dem Ersuchen zugrunde liegenden Taten sind sowohl nach §§ 3, 12 und 192 des ungarischen Strafgesetzbuches BtK. als auch nach deutschem Recht als Beihilfe zum Menschenhandel und zur Zwangsprostitution strafbar und im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr bedroht (§§ 232, 232a, 27 StGB; 3 Abs. 1 und 2 IRG). Mit Blick auf den Tatort in Deutschland bestimmt das ungarische Strafrecht, dass es auch auf die von einem ungarischen Staatsbürger im Ausland begangene Straftat, die - wie hier - nach ungarischem Recht eine strafbare Handlung darstellt, anzuwenden ist und dies auch im Falle einer Beihilfe gilt. Ferner sind die der Verfolgten vorgeworfenen Delikte nach ungarischem Strafrecht mit Freiheitsstrafe von fünf bis fünfzehn Jahren bedroht und nicht verjährt. Nach den Auslieferungsunterlagen tritt Verjährung nicht vor dem 7. August 2037 ein.
Der übermittelte Europäische Haftbefehl enthält die nach § 83a Abs. 1 Nr. 1 bis 6 IRG erforderlichen Angaben, namentlich auch hinsichtlich des Gebots der hinreichenden Bestimmbarkeit des Tatvorwurfs. Insoweit nimmt der Senat auf seine Ausführungen in den vorausgehenden Beschlüssen vom 6. und 20. Oktober 2022 Bezug.
Besondere Umstände des Falles, die Anlass zu einer Prüfung des hinreichenden Tatverdachts ergeben könnten (§ 10 Abs. 1 IRG), liegen nicht vor. Hierauf hat der Senat bereits in seinem Beschluss vom 6. Oktober 2022 hingewiesen.
2. Die beabsichtigte Entschließung der Generalstaatsanwaltschaft, keine Bewilligungshindernisse geltend zu machen, ist nach eigener inhaltlicher Überprüfung durch den Senat zu bestätigen. Denn die in § 83b Abs. 1 Nr. 1 bis 4 IRG im Einzelnen aufgeführten Bewilligungshindernisse, die einer Auslieferung entgegenstehen würden, liegen nicht vor. Nach den auf dem Akteninhalt beruhenden Erkenntnissen des Senats wird gegen die Verfolgte wegen derselben Tat, die dem Auslieferungsersuchen zugrunde liegt, im Geltungsbereich des deutschen Strafgesetzes weder ein strafrechtliches Verfahren geführt (§ 83b Abs. 1 Nr. 1 IRG) noch ist die Einleitung eines strafrechtlichen Verfahrens abgelehnt oder ein solches eingestellt worden (§ 83b Abs. 1 Nr. 2 IRG). Es liegt auch kein Auslieferungsersuchen eines Drittstaates vor, dem Vorrang einzuräumen wäre (§ 83b Abs. 1 Nr. 3 IRG). Anhaltspunkte dafür, dass nicht erwartet werden kann, Ungarn würde einem vergleichbaren deutschen Ersuchen entsprechen, liegen ebenfalls nicht vor (§ 83b Abs. 1 Nr. 4 IRG).
Die Entscheidung der Generalstaatsanwaltschaft, gemäß § 83b Abs. 2 Nr. 1 i. V. m. § 80 Abs. 1 IRG von der Möglichkeit Gebrauch zu machen, die beabsichtigte Bewilligung der Auslieferung der Verfolgten an die Bedingung der gesicherten Rücküberstellung zu knüpfen, ist rechtlich zutreffend und wird vom Senat geteilt. Die Generalstaatsanwaltschaft geht mit in ihrer Zuschrift vom 16. November 2022 dargelegten Erwägungen nachvollziehbar und plausibel von einem „gewöhnlichen Aufenthalt“ der Verfolgten in Deutschland aus, weil sie sich hier seit spätestens Juli 2017 ununterbrochen aufhält und seitdem auch hier gemeldet ist, seit April 2020 ihren festen Wohnsitz in Blankenfelde-Mahlow hat, hier mit ihren beiden schulpflichtigen Kindern lebt und zuletzt einer geregelten Arbeit als Reinigungskraft nachging. Da nach dem in Rede stehenden Europäischen Haftbefehl der Menschenhandel und die Zwangsprostitution zum Nachteil von in ihrem Heimatland arbeits- und auch sonst mittellosen ungarischen Frauen geschah, die auf Geheiß des Haupttäters Z... L... nach Deutschland reisten, um hier als Prostituierte zu arbeiten und von L... als ihrem Zuhälter ausgebeutet zu werden, wobei ihm die Verfolgte Hilfe geleistet haben soll, hat das Tatgeschehen auch einen für den Tatbestand des Menschenhandels typischen grenzüberschreitenden Charakter und einen deutlichen Bezug zu Ungarn. Im Übrigen gilt für die rechtliche Überprüfung der Entschließung der Bewilligungsbehörde, dass dieser ein weites, gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbares Ermessen hinsichtlich der Geltendmachung von Bewilligungshindernissen eingeräumt ist. Im Rahmen der Bewilligungsentscheidung sind die subjektiven Belange des Verfolgten zwar angemessen zu berücksichtigen; es gibt im Falle einer zulässigen Auslieferung jedoch keinen Anspruch des Verfolgten auf Nichtauslieferung, vielmehr besteht grundsätzlich eine Pflicht zur Bewilligung zulässiger Auslieferungsersuchen (vgl. Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 9. März 2020 - 1 AR 25/19, BeckRS 2020, 4274, Rn. 17 m. w. N.). Dabei muss die von der Bewilligungsbehörde gegebene Begründung der Vorabentscheidung dem Oberlandesgericht die gebotene Überprüfung ermöglichen (vgl. Brandenburgisches Oberlandesgericht, a. a. O., m. w. N.) und dies ist vorliegend der Fall.
Nach der Entschließung der Generalstaatsanwaltschaft soll die beabsichtigte Bewilligung der Auslieferung unter Spezialitätsvorbehalt (§ 11 IRG) erfolgen, weil die Verfolgte auf den Schutz des Grundsatzes der Spezialität nicht verzichtet hat.
Dem mit Blick auf den allgemeinen ordre public (§ 73 IRG) möglicherweise bestehenden Auslieferungshindernis wegen in der Vergangenheit durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte festgestellter teilweise unzureichender Haftbedingungen in Ungarn (vgl. EGMR, Urteil vom 10. März 2015, Varga u. a. v. Ungarn - Nr. 14097/12, 45135/12, 733712/12, 44055/13 und 64586/13) sind die ungarischen Justizbehörden durch Erklärung des ungarischen Justizministeriums vom 5. Oktober 2022 begegnet und haben garantiert, dass die Unterbringung der Verfolgten sowohl während der Untersuchungshaft, als auch während der Dauer einer etwaigen Strafhaft, den Anforderungen der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte (EMRK), den Mindestgrundsätzen für die Behandlung von Gefangenen der Vereinten Nationen (13. Mai 1977) und den Europäischen Strafvollzugsgrundsätzen (Nr. R/87/3) jederzeit entsprechen werde. Nach den Erkenntnissen des Senats erlauben die Bedingungen in ungarischen Haftanstalten eine solche völkerrechtlich verbindliche Zusicherung, an deren Umsetzung und Belastbarkeit keine durchgreifenden Zweifel bestehen (vgl. Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 31. Januar 2022 - 1 AR 4/22 (S), BeckRS 2022, 2610, Rn. 17 f., m. w. N.).
Auf den Schutz und das Auslieferungshindernis des Art. 6 Abs. 2 IRG (politische Verfolgung) kann sich die Verfolgte nicht mit Erfolg berufen. Soweit sie geltend macht, aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu der ethnischen Minderheit der Sinti und Roma sei sie in Ungarn erheblichen Diskriminierungen, insbesondere im Falle des dortigen Strafvollzugs ausgesetzt, hat sie konkrete Anhaltspunkte dafür und insbesondere eine persönliche Betroffenheit nicht dargelegt. Ihrer insbesondere vor dem Hintergrund der auslieferungsrechtlichen Zusicherung der ungarischen Justizbehörden bestehenden Darlegungslast (vgl. dazu Zimmermann in Schomburg/Lagodny, 6. Aufl., § 6 IRG Rn. 68 und 73 jeweils m. w. N.) hat die Verfolgte nicht genügt.
3. Der Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 15 Abs. 1 Nr. 1 IRG) besteht aus den im Senatsbeschluss vom 6. Oktober ausgeführten Gründen auch weiterhin fort. Weniger einschneidende Maßnahmen gemäß § 25 IRG bieten vor dem Hintergrund der dort dargelegten Umstände und insbesondere des hohen Fluchtanreizes nach den derzeitigen Erkenntnissen keine ausreichende Gewähr, die Auslieferung der Verfolgten sicherzustellen.
4. Die Entscheidung zu Ziffer 4. des Tenors beruht auf § 27 Abs. 3 IRG i. V. m. § 119 Abs. 1 Satz 5 StPO.