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Entscheidung 11 U 77/22


Metadaten

Gericht OLG Brandenburg 11. Zivilsenat Entscheidungsdatum 19.10.2022
Aktenzeichen 11 U 77/22 ECLI ECLI:DE:OLGBB:2022:1019.11U77.22.00
Dokumententyp Beschluss Verfahrensgang -
Normen

Tenor

1. Der Senat beabsichtigt, die Berufung gegen das Urteil des Landgerichts Cottbus vom 21.03.2022, Az. 2 O 172/21, gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen, weil er einstimmig der Auffassung ist, dass die Berufung offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, der Recht&7622 ssache auch keine grundsätzliche Bedeutung zukommt, weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung über die Berufung nicht geboten ist.

2. Hierzu besteht Gelegenheit zur Stellungnahme binnen drei Wochen nach Zustellung dieses Beschlusses. Dem Kläger wird anheimgestellt, aus Kostengründen die Rücknahme der Berufung zu prüfen. Im Falle der Berufungsrücknahme ermäßigen sich vorliegend die Gerichtsgebühren von 4,0 auf 2,0 Gebühren (vgl. Nr. 1222 des Kostenverzeichnisses zum GKG).

Gründe

I.

Der Kläger verlangt von der beklagten Versicherungsgesellschaft Rückabwicklung eines Vertrages über eine fondsgebundene Rentenversicherung nach erklärtem Widerspruch bzw. Rücktritt. Wegen der tatsächlichen Feststellungen und insbesondere der erstinstanzlich zuletzt gestellten Sachanträge wird gemäß § 540 Abs. 1 ZPO auf das angegriffene Urteil des Landgerichts Cottbus verwiesen.

Das Landgericht hat die Klage vollumfänglich abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, dass der Vertrag zwar im Wege des sogenannten Policenmodells geschlossen worden sei, da dem Kläger bei Antragstellung nicht die nach § 10a Abs. 1 VAG a.F. genannten Vertragsinformationen vorgelegen hätten. Allerdings könne sich der Kläger auf sein Widerspruchsrecht nicht berufen, da es verwirkt sei. Die Verwirkung komme auch bei fehlender oder fehlerhafter Widerspruchsbelehrung in Betracht. Neben der erheblichen Zeitspanne von 16 Jahren, in denen der Vertrag durchgeführt worden sei, habe der Kläger zwischenzeitlich seine Anlagestrategie und das Bezugsrecht geändert. Zudem habe er insbesondere die Möglichkeit einer auf zwei Jahre befristeten Beitragsfreistellung in Anspruch genommen. Die gravierenden Umstände hätten bei der Beklagten nur die Vorstellung zugelassen, dass der Kläger an dem Vertrag auch festhalten wolle.

Gegen das am 05.04.2022 zugestellte Urteil hat der Kläger am 20.04.2022 Berufung eingelegt und diese mit Schriftsatz vom 02.05.2022 begründet. Insoweit führt er im Wesentlichen aus, dass das Landgericht zu Unrecht davon ausgegangen sei, dass das Widerspruchs- bzw. Rücktrittsrecht verwirkt sei oder dessen Ausübung einen Verstoß gegen Treu und Glauben darstelle. Gravierende Umstände, die die Ausübung des Widerspruchsrechts als treuwidrig erscheinen lassen, seien nicht gegeben. In Bezug auf die zeitlich befristete Beitragsfreistellung habe das Landgericht verkannt, dass der Kläger - anders als in der in Bezug genommenen Entscheidung - keine Rückumwandlung des Vertrages verlangt habe. Dass der Kläger den Vertrag „gelebt“ habe, könne nicht zu seinen Lasten berücksichtigt werden.

Der Kläger beantragt,

das am 21.03.2022 verkündete Urteil des Landgerichts Cottbus zum Az. 2 O 172/21 zu ändern und die Beklagte zu verurteilen,

an den Kläger 22.479,44 € nebst Zinsen in Höhe von 5%-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 15.02.2021 zu zahlen,

den Kläger von außergerichtlichen Gebührenansprüchen der Kanzlei … Rechtsanwälte in Höhe von 1.295,43 € freizustellen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt das angegriffene Urteil und vertieft ihren erstinstanzlichen Vortrag. Ergänzend weist sie darauf hin, dass der Kläger seit April 2022 die Beitragszahlungen tatsächlich wieder aufgenommen habe.

II.

Die Berufung des Klägers hat jedenfalls in der Sache keine Aussicht auf Erfolg.

Das Landgericht hat die Klage im Ergebnis zu Recht abgewiesen. Berufungsgründe sind nicht gegeben; weder beruht das angefochtene Urteil auf einer Rechtsverletzung im Sinne des § 546 ZPO noch rechtfertigen die nach § 529 ZPO zugrunde zu legenden Tatsachen eine andere - für den Kläger günstige(re) - Entscheidung (§ 513 Abs. 1 ZPO).

Die Klage ist insgesamt unbegründet.

Zutreffend ist das Landgericht davon ausgegangen, dass die vom Kläger geleisteten Prämienzahlungen mit Rechtsgrund im Sinne des § 812 Abs. 1 Satz 1 1. Alt. BGB erfolgten. Von diesem Vertrag konnte sich der Kläger nicht durch seinen am 09.02.2021 erklärten Widerspruch lösen.

Es ist nicht zu beanstanden, soweit das Landgericht zu dem Ergebnis gekommen ist, dass die Geltendmachung der Ansprüche mehr als 16 Jahre nach Abschluss des in Rede stehenden Versicherungsvertrages gemäß § 242 BGB nicht mehr möglich ist, denn der im Jahr 2021 erklärte Widerspruch des Klägers ist als rechtsmissbräuchlich zu qualifizieren.

Dem Kläger ist es nach der Vorschrift des § 242 BGB, aus der der das gesamte Rechtsleben dominierende Grundsatz abzuleiten ist, wonach ein jeder in Ausübung seiner Rechte und in Erfüllung seiner Pflicht nach Treu und Glauben zu handeln hat (so insb. Grüneberg/Grüneberg, BGB, 81. Aufl., 2022, § 242 Rn. 1, m.w.N.), wegen widersprüchlicher Rechtsausübung verwehrt, sich auf dessen eventuelles Nichtzustandekommen zu berufen und die bereicherungsrechtliche Rückabwicklung zu verlangen (vgl. st. BGH-Rspr.; grundlegend BGH, Urt. v. 16.07.2014 - IV ZR 73/13, Rn. 32 ff., gutgeheißen durch BVerfG, Beschl. v. 02.02.2015 - 2 BvR 2437/14, Rn. 21 und Rn. 42 ff., jeweils zitiert nach juris; sowie aus der ständigen Rspr. des Senats: Hinweisbeschl. v. 20.06.2022 - 11 U 128/21; Hinweisbeschl. v. 27.04.2022 - 11 U 222/21; Urt. v. 25.03.2020 – 11 U 2/19; Hinweisbeschl. v. 08.04.2020 – 11 U 3/20; Hinweisbeschl. v. 19.05.2021 - 11 U 83/21).

Selbst wenn die fristauslösenden Belehrungen der Beklagten unzureichend gewesen sein sollten, wäre es dem Kläger daher im Streitfall infolge widersprüchlicher Rechtsausübung verwehrt, sich auf die Unwirksamkeit des Versicherungsvertrages zu berufen und dessen Rückabwicklung mehr als 16 Jahre nach Vertragsschluss zu fordern.

Der Bundesgerichtshof geht in mittlerweile gefestigter Judikatur, der sich der Senat in ständiger Rechtsprechung angeschlossen hat, davon aus, dass dieser Grundsatz ausnahmsweise auch für nicht ordnungsgemäß belehrte Versicherungsnehmer gilt, wenn tatrichterlich besonders gravierende Umstände – für die sich keine allgemeingültigen Maßstäbe finden lassen – festgestellt werden, die aus der Sicht des Versicherers den Schluss rechtfertigen, der jeweilige Kunde hätte selbst bei Kenntnis seines einseitigen Lösungsrechts davon keinen Gebrauch gemacht und an dem Versicherungsvertrag festgehalten (vgl. dazu insb. BGH, Beschl. v. 11.11.2015 - IV ZR 117/15, Rn. 16 ff.; Beschl. v. 27.01.2016 - IV ZR 130/15, Rn. 16, jeweils zitiert n. juris; Senat, Urt. v. 25.03.2020 – 11 U 2/19). In solchen Konstellationen knüpft die Treuwidrigkeit nicht (nur) an die jahrelange Prämienzahlung nach ordnungsgemäßer Belehrung an, sondern auch daran, dass der Versicherungsnehmer durch sein Verhalten den Eindruck objektiv erweckt hat, an dem Rechtsgeschäft unbedingt festhalten zu wollen (vgl. BGH, Beschl. v. 11.11.2015 - IV ZR 117/15, Rn. 19; Beschl. v. 13.01.2016 - IV ZR 117/15, Rn. 5, zitiert n. juris).

Diese Voraussetzungen sind im Streitfall erfüllt.

Der Kläger verhielt sich objektiv widersprüchlich; unredliche Absichten oder ein Verschulden auf seiner Seite setzt der Erfolg des Einwands missbräuchlicher Rechtsausübung nicht voraus.

Für das insoweit gem. § 242 BGB zu beurteilende Verhalten des Klägers unter dem Gesichtspunkt des venire contra factum proprium ist im Streitfall dabei maßgeblich, dass er über einen Zeitraum von immerhin mehr als 16 Jahren das in Rede stehende Vertragsverhältnis außergewöhnlich aktiv gestaltete und wesentliche vertragliche Abreden auf dessen Wunsch hin nachträglich abgeändert wurden, er namentlich der jährlichen Beitragserhöhung in den Jahren 2006, 2009, 2010 und 2011 widersprach, seine Anlagestrategie zwischenzeitlich änderte, eine dauerhafte Beitragsreduktion vornahm und die Beitragsdynamik nachträglich endgültig ausschloss, er das Bezugsrecht änderte und schließlich eine Beitragsfreistellung für 24 Monate bis zum 31.03.2022 in Anspruch nahm.

Erschwerend, wenngleich nicht ausschlaggebend, kommt nunmehr hinzu, dass der Kläger die Beitragszahlungen ab 01.04.2022 trotz des erklärten Widerspruchs und des laufenden Rechtsstreits vorbehaltlos wieder aufgenommen hat. Da sich dieser Umstand nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung erster Instanz ereignete, war dieser neue Vortrag der Beklagtenseite zuzulassen, §§ 529, 531 Abs. 2 Nr. 3 ZPO (vgl. BGH, Urt. v. 06.10.2005 - VII ZR 229/03).
Bei der Prüfung, ob eine unzulässige Rechtsausübung vorliegt, ist auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung abzustellen; der Tatrichter kann bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 242 BGB auch solche Umstände berücksichtigen, die erst nach Geltendmachung des Gestaltungsrechts eintreten (vgl. BGH, Urt. v. 07.11.2017 - XI ZR 369/16, Rn 17; s.a. BGH, Urt. v. 12.07.2016 - XI ZR 501/15, Rn. 20, zitiert jeweils nach juris). Ein insoweit relevantes widersprüchliches Verhalten kann etwa darin liegen, dass nach Ausübung eines Widerrufsrechts bezüglich eines Darlehensvertrages der Darlehensnehmer die vertraglich geschuldeten Raten weiterhin vorbehaltlos zahlt (vgl. Staudinger/Herresthal (2021) BGB § 358 Rn. 167a; s.a. MüKo BGB/Schubert, 9. Aufl., § 242 Rn. 424; für den Fall, dass der Darlehensnehmer gegenüber dem Darlehensgeber zu erkennen gegeben hat, dass ihm infolge einer unzureichenden Belehrung nach wie vor ein Widerrufsrecht zustehe, er das Darlehen zunächst aber weiterhin vorbehaltlos bedient, bevor er den Widerruf schließlich doch noch erklärt: OLG Stuttgart, Urt. v. 07.02.2017 - 6 U 40/16, Rn. 74; Nichtzulassungsbeschwerde zurückgewiesen durch BGH, Beschl. v. 13.03.2018 - XI ZR 154/17; OLG Stuttgart, Urt. v. 06.12.2016 - 6 U 95/16, Rn. 25; OLG Köln, Beschl. v. 16.11.2017 - 12 U 118/17, Rn. 6; dass., Beschl. v. 07.03.2017 - 13 U 10/17, Rn. 8 f. - zitiert jeweils nach juris).

Dieser Rechtsgedanke muss auch im vorliegenden Fall gelten. Durch die vorbehaltlose Wiederaufnahme der Zahlungen ab 01.04.2022 trotz des laufenden Rechtsstreits verdeutlicht der Kläger, dass es ihm in erster Linie darauf ankommt, eine formale Rechtsposition auszunutzen, obwohl er offensichtlich selbst nicht davon ausgeht, dem Vertrag tatsächlich wirksam widersprochen zu haben, er diesen viel mehr ohne Einschränkungen und Vorbehalte weiterhin vertragsgerecht bedient.

3. Im Streitfall kann daher dahinstehen, ob zugleich auch der vom Landgericht herangezogene Verwirkungseinwand, der gleichermaßen auf § 242 BGB zu stützen ist, durchgreift.

4. Mangels Anspruch in der Hauptsache besteht auch kein Anspruch auf die als Nebenforderungen geltend gemachten Zahlungen von Zinsen bzw. die Freistellung von außergerichtlichen Rechtsverfolgungskosten.

C. Der vorliegenden Rechtssache fehlt es zudem an grundsätzlicher, über den Streitfall hinausgehender Bedeutung. Auch ist weder zur Fortbildung des Rechts noch zur Sicherung einer einheitlichen Judikatur eine Entscheidung durch das Berufungsgericht im Urteilswege erforderlich. Der Senat befindet sich mit vergleichbaren Fällen in Einklang mit der obergerichtlichen Rechtsprechung, die auch vom Bundesgerichtshof geteilt wird. Er weicht insbesondere von den in der Berufungsbegründung angeführten obergerichtlichen Rechtsprechung aufgestellten Rechtssätzen nicht ab. Eine mündliche Verhandlung ist auch im Übrigen nicht geboten (§ 522 Abs. 2 S. 1 ZPO).