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Entscheidung 1 OLG 53 Ss-OWi 254/22


Metadaten

Gericht OLG Brandenburg 1. Strafsenat Entscheidungsdatum 22.12.2022
Aktenzeichen 1 OLG 53 Ss-OWi 254/22 ECLI ECLI:DE:OLGBB:2022:1222.1OLG53SS.OWI254.2.00
Dokumententyp Beschluss Verfahrensgang -
Normen

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Brandenburg an der Havel vom 28. Februar 2022 aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Amtsgericht Brandenburg an der Havel zurückverwiesen.

Gründe

I.

Das Amtsgericht Brandenburg an der Havel hat den Einspruch des Betroffenen vom 13. Juli 2020 gegen den Bußgeldbescheid des Zentraldienstes der Polizei -Zentrale Bußgeldstelle- vom 03.07.2020 mit Urteil vom 28. Februar 2022 verworfen.

Mit am Terminstag um 14:44 Uhr beim Amtsgericht Brandenburg an der Havel eingegangenem Schriftsatz vom selben Tage beantragte der Verteidiger unter Beifügung einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bis 01.03.2022 und einem Attest, wonach sich der Betroffene am 28. Februar 2022 in der Notfallaufnahme des ... Krankenhauses ... befand, die Terminsaufhebung. Über Vorstehendes informierte er den Vorsitzenden im Telefonat am 28. Februar 2022 um 14:50 Uhr.

Hiergegen richtet sich die Rechtsbeschwerde der Betroffenen, mit der sie die Verletzung formellen und sachlichen Rechts rügt.

Die Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg hat in ihrer Stellungnahme vom 07. November 2022 beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Potsdam zurückzuverweisen.

II.

Die Rechtsbeschwerde ist gemäß § 79 Abs. 1 Nr. 1, 2 OWiG statthaft und entsprechend § 79 Abs. 3 OWiG, §§ 341, 344, 345 StPO form- und fristgerecht angebracht worden.

Die Verfahrensrüge nach § 79 Abs. 3 OWiG i.V.m. § 344 Abs. 2 S. 2 StPO ist zudem begründet.

Das Gericht darf den Einspruch nach § 74 Abs. 2 OWiG nur verwerfen, wenn der Betroffene ohne genügende Entschuldigung ausgeblieben ist. Entscheidend ist hierbei nicht, ob sich der Betroffene entschuldigt hat, sondern ob er entschuldigt ist. Daher muss der Tatrichter von Amts wegen prüfen, ob Umstände ersichtlich sind, die das Ausbleiben des Betroffenen genügend entschuldigen (vgl. BGHSt 17, 391 [§ 329 StPO]).

Kommt eine Verwerfungsentscheidung nach § 74 OWiG in Betracht, kann jeder Tatrichter nur solche Umstände berücksichtigen, die ihm bekannt geworden sind, oder die er infolge seiner richterlichen Aufklärungspflicht hätte kennen müssen.

Da erfahrungsgemäß noch kurz vor dem Termin bei der Geschäftsstelle Äußerungen des Betroffenen – etwa die Anzeige einer Verhinderung – eingehen, muss sich der Bußgeldrichter vor Erlass eines Verwerfungsurteils dort erkundigen, ob eine entsprechende Mitteilung vorliegt (vgl. OLG Frankfurt, NJW 1974, 1151; OLG Stuttgart Justiz 1981, 288; BayObLG VRS 83, 56; OLG Bamberg, StraFo 2017, 510; KG Berlin, VRS 127, 181; OLG Bamberg, NStZ-RR 2009, 149; KG Berlin, ZfSch 2020, 470; KG Berlin, Beschluss vom 26. November 2021 -3 Ws (B) 312/21 -122 Ss 142/21-).

Zwar gebietet Art. 103, Abs. 1 GG keine weitergehende Nachforschungen, z. B. bei der Posteinlaufstelle des Gerichts (vgl. BayObLG aaO.; KG Berlin a.a.O.; OLG Bamberg a.a.O.; OLG Frankfurt, ZfSch 2022, 107). Denn für den Fall, dass vor der Verwerfungsentscheidung schriftliche Äußerungen des Betroffenen bei Gericht ein, die – aus welchen Gründen auch immer – nicht zur Geschäftsstelle gelangen und daher unbeachtet geblieben sind, wird der Betroffene dadurch nicht rechtlos gestellt, sondern hat die Möglichkeit, gemäß § 74 Abs. 5 OWiG Wiedereinsetzungen in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Hauptverhandlung zu beantragen. Dieser Rechtsbehelf steht offen, wenn Äußerungen des Betroffenen entgegen Art. 103 Abs. 1 GG mangels Kenntnis des Tatrichters keine Berücksichtigung gefunden haben, obwohl sie so rechtzeitig bei Gericht angebracht worden sind, dass sie im Rahmen einer sachgerechten Organisation hätten beachtet werden können und müssen (vgl. OLG Köln, VRS 93, 357).

Auch die seit dem 01. Januar 2022 bestehende anwaltliche Verpflichtung, gemäß § 32d StPO i.V.m. § 46 OWiG bestimmte Schriftsätze nur noch elektronisch einzureichen, führt nicht dazu, dass der Bußgeldrichter in der 15-minütigen Wartezeit aufgrund seiner richterlichen Aufklärungspflicht bei der Stelle für das elektronische Postfach Erkundigungen einzuholen habe. Dies würde einen unvertretbaren Ermittlungsaufwand notwendig machen, weil selbst Schriftsätzen, die – möglicherweise bewusst – erst wenige Minuten vor dem Termin oder gar während der Hauptverhandlung bei Gericht eingereicht worden sein könnten, nachgegangen werden müsste. Deshalb kommt es für die Zulässigkeit der Verwerfungsentscheidung allein darauf an, was dem Tatrichter als Äußerung des Betroffenen bekannt war bzw. was ggf. nach Rückfrage bei der Geschäftsstelle ihm hätte bekannt sein müssen. Wird eine vor der Entscheidung bei Gericht angebrachte schriftliche Äußerung des Betroffenen entgegen dem Grundsatz des rechtlichen Gehörs aus Unkenntnis vom Tatrichter außer Acht gelassen, kommt der Rechtsbehelf der Wiedereinsetzung zum Zuge (vgl. OLG Köln a.a.O. ; OLG Frankfurt a.a.O.).

Indes liegt der Fall vorliegend anders, als dass der Bußgeldrichter durch den Anruf des Verteidigers um 14:50 Uhr am Verhandlungstag (Bl. 169 d.A.) Kenntnis von dem Entschuldigungsvorbringen des Verteidigers für den Betroffenen hatte, jedoch allein die seitens des Verteidigers mittels beA als zugestellt beschriebene, das Vorbringen bestätigende, Bescheinigung des ... Krankenhauses ... vom Verhandlungstag (28.02.2022), Bl. 166 d.A., über den Aufenthalt des Betroffenen in der Notaufnahme, nicht zur Geschäftsstelle gelangt war, bei der der zuständige Richter nachfragte. Vielmehr war das Attest zusammen mit dem Verteidigerschriftsatz vom 28.02.2022 per beA am 28.02.2022 um 14:44:39 Uhr, Bl. 167 d.A., dem Amtsgericht Brandenburg an der Havel zugegangen. Aufgrund der Umstände im konkreten Einzelfall war der Vorsitzende daher gehalten, im Rahmen der ihm insoweit obliegenden Sachaufklärungspflicht, additiv zur Nachfrage bei der Geschäftsstelle bei der Posteingangsstelle nachzufragen, ob die - dem Vortrag des Verteidigers im Telefonat zur Folge ausdrücklich per beA zugestellten Dokumente- bei der die mittels beA übersandten Dokumente grundsätzlich eingehen, auch zugegangen sind.