Toolbar-Menü
 
Sie sind hier: Gerichtsentscheidungen Entscheidung

Entscheidung 1 Ws 139/22 (S), 1 Ws 139/22


Metadaten

Gericht OLG Brandenburg 1. Strafsenat Entscheidungsdatum 07.12.2022
Aktenzeichen 1 Ws 139/22 (S), 1 Ws 139/22 ECLI ECLI:DE:OLGBB:2022:1207.1WS139.22.00
Dokumententyp Beschluss Verfahrensgang -
Normen

Tenor

Der Haftbefehl des Amtsgerichts Neuruppin vom 29. Mai 2022 (89 Gs 963/22) wird hinsichtlich des Angeschuldigten K... aufgehoben.

Der Angeschuldigte K... ist unverzüglich aus der Haft zu entlassen.

Gründe

I.

1. Der Angeschuldigte K... und der Mitangeschuldigte I... wurden am 28. Mai 2022 vorläufig festgenommen. Der Angeschuldigte K..., über dessen Haftfortdauer allein der Senat zur Entscheidung berufen ist, befindet sich aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts Neuruppin vom 29. Mai 2022 (89 Gs 963/22) in Untersuchungshaft in der Justizvollzugsanstalt .... Der Angeschuldigte befand sich am 29. November 2022 sechs Monate in Untersuchungshaft, so dass der Senat gemäß §§ 121, 122 Abs. 1 StPO über deren Fortdauer zu entscheiden hat.

Mit dem Haftbefehl des Amtsgerichts Neuruppin vom 29. Mai 2022 wurde dem Angeschuldigten K... und dem Mitangeschuldigten I... vorgeworfen, gemeinschaftlich handelnd fremde bewegliche Sachen einem anderen in der Absicht weggenommen zu haben, die Sachen sich oder einem Dritten rechtswidrig zuzueignen, wobei er als Mitglied einer Bande, die sich zur fortgesetzten Begehung von Diebstählen verbunden habe, unter Mitwirkung des Mitangeklagten I... und eines anderen Bandenmitglieds, gestohlen habe (strafbar gemäß §§ 244 Abs. 1 Nr. 2, 25 Abs. 2 StGB).

Konkret wird dem Angeschuldigten K... und dem Mitangeschuldigten I... zur Last gelegt, sich am 28. Mai 2022 in ... O... in der Zeit vor 00:23 Uhr unter Beteiligung einer weiteren Person, der unerkannt die Flucht gelungen sei, Zugang zum Bauhof des Stadtfriedhofs O... in der ... -Straße ... verschafft zu haben, indem sie mehrere Tore aufgebrochen hätten. Auf dem Bauhof sollen die Beschuldigten in arbeitsteiliger Begehungsweise die Tür zu einem Bauwagen und einer Garage aufgehebelt und u.a. einen Rasenmäher, ein Akkuladegerät, einen Stromerzeuger sowie einen Staubsauger der Marke Stihl sowie Kettensägen, Heckenscheren, Akku-Technik, Freischneider, Puster und einen Bosch-Bohrhammer an sich genommen haben, die sie hätten behalten oder veräußern wollen. Die Beschuldigten sollen versucht haben, die Tür eines weiteren Bauwagens aufzubrechen, was ihnen jedoch nicht gelungen sei. Da die Beschuldigten bei der Tatbegehung eine Alarmanlage ausgelöst hätten, habe sich die Zeugin T... zum Bauhof begeben. Dort sei sie auf die Beschuldigten getroffen und habe diese angesprochen. Die Beschuldigten hätten fluchtartig die Tatörtlichkeit verlassen und einen Großteil des zum Abtransport bereitgelegten Stehlguts zurückgelassen. Der Wert des Stehlguts belaufe sich nach Angaben der Zeugin T... insgesamt auf ca. 30.000 Euro. Die Beschuldigten hätten aufgrund der Fahrzeugbeschreibung in unmittelbarer Nähe zum Tatort am Kreisverkehr ... Straße / ...-Straße durch die Zeugen POK K... und PHM(Z) W... festgestellt werden können. Im Fahrzeug der Beschuldigten sei eine Vielzahl von Werkzeugen festgestellt worden, die mutmaßlich ebenfalls aus Diebstahlshandlungen herrühren.

Das Amtsgericht Neuruppin hat den Haftbefehl auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO gestützt.

Die Staatsanwaltschaft Neuruppin wirft dem Angeschuldigten K... und dem Mitangeschuldigten I... nunmehr mit Anklage vom 25. Oktober 2022 unter teilweiser Konkretisierung des mit dem Haftbefehl dargestellten Tatgeschehens vor, am 28. Mai 2022 in Oranienburg gemeinschaftlich

a) als Mitglied einer Bande, die sich zur fortgesetzten Begehung von Diebstählen verbunden hatten, unter Mitwirkung eines anderen Bandenmitglieds fremde bewegliche Sachen einem anderen in der Absicht weggenommen zu haben, die Sache sich oder einem Dritten rechtswidrig zuzueignen, wobei sie bei dem Diebstahl ein gefährliches Werkzeug bei sich führten,

b) rechtswidrig fremde Sachen beschädigt zu haben.

2. Nach Eingang der Anklage der Staatsanwaltschaft Neuruppin am 02. November 2022 beim Amtsgericht Oranienburg hat der zuständige Amtsrichter am 14. November 2022 die Zustellung der Anklageschrift an die Angeschuldigten und deren Verteidiger unter Einräumung einer Stellungnahmefrist von 2 Wochen gemäß § 201 StPO verfügt.

Der Amtsrichter hat mit Verfügung 17. November 2022 dargelegt, dass derzeit mit den Verteidigern versucht werde, einen zeitnahen Hauptverhandlungstermin im Dezember 2022 oder Januar 2023 zu vereinbaren. Eine telefonische Rückfrage beim Amtsgericht Oranienburg am 28. November 2022 ergab, dass die Hauptverhandlung am 19. Dezember 2022 stattfinden soll.

Eine Entscheidung über die Zulassung der Anklage und eine Eröffnung des Hauptverfahrens sind bis heute nicht erfolgt.

3. Die Akten sind dem Brandenburgischen Oberlandesgericht zur Entscheidung über die Fortdauer der Untersuchungshaft gemäß §§ 121, 122 StPO vorgelegt worden und am 23. November 2022 mit dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg vom 21. November 2022 eingegangen, die Fortdauer der Untersuchungshaft über 6 Monate hinaus anzuordnen. Dem Angeschuldigten und dessen Verteidigern wurde Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben.

II.

Es kann dahinstehen, ob der Angeschuldigte K... der ihm in dem Haftbefehl vorgeworfenen Tat im Sinne des § 112 Abs. 1 S. 1 StPO dringend verdächtig ist und ob gegen ihn der Haftgrund der "Fluchtgefahr" im Sinne von § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO besteht. Auch braucht der Senat nicht zu beurteilen, ob es sich bei dem bei dem Mitangeschuldigten I... aufgefundenen Seitenschneider um ein gefährliches Werkzeug handelt und dieses Beisichführen dem Angeschuldigten K... zuzurechnen sein wird.

Denn der Haftbefehl ist gemäß §§ 121 Abs. 1, 122 Abs. 1 StPO aufzuheben. Weder besondere Schwierigkeiten noch ein besonderer Umfang der Ermittlungen noch ein anderer wichtiger Grund rechtfertigen die Fortdauer der Haft über sechs Monate hinaus; vielmehr weist das Verfahren gravierende Verstöße gegen das in Haftsachen geltende Beschleunigungsgebot aus.

Hierzu hat das Kammergericht in einer grundlegenden Entscheidung vom 15. Januar 2018 – (4) 161 HEs 62/17 (37 - 38/17) – bereits ausgeführt:

„Im Rahmen der Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch eines Beschuldigten und dem öffentlichen Strafverfolgungsinteresse kommt es in erster Linie auf die durch objektive Kriterien bestimmte Angemessenheit der Verfahrensdauer an, die etwa von der Komplexität der Rechtssache, der Vielzahl der beteiligten Personen oder dem Verhalten der Verteidigung abhängig sein kann (vgl. KG Berlin, Beschluss vom 9. August 2013 - [4] 141 HEs 44/13 [23/13] - m.w.Nachw.). Nicht entscheidend ist dabei, ob eine einzelne verzögert durchgeführte Verfahrenshandlung ein wesentliches Ausmaß annimmt, sondern ob die Verfahrensverzögerungen in ihrer Gesamtheit einen Umfang erreichen, der die Fortdauer der Untersuchungshaft nicht mehr erlaubt (vgl. BVerfG StraFo 2009, 375; KG StraFo 2007, 26; Senat StraFo 2013, 506; Beschluss vom 4. Dezember 2009 - 4 Ws 123/09 -; jeweils m.w.Nachw.). Je nach Sachlage kann bereits eine vermeidbare Verfahrensverzögerung von wenigen Wochen mit dem Beschleunigungsgebot in Haftsachen unvereinbar sein (vgl. BVerfG StV 2007, 644; OLG Naumburg StV 2007, 364; Senat StraFo 2013, 505; jeweils m.w.Nachw.).

bb) In Bezug auf eingetretene Verzögerungen kommt es nicht auf ein 'Verschulden' der bei den Ermittlungsbehörden oder Gerichten handelnden Amtswalter an, sondern allein darauf, ob die Verzögerungen der Sphäre des Staates zuzurechnen sind oder nicht (vgl. BVerfG StV 2006, 703). Die nicht nur kurzfristige, unvorhersehbare Belastung der mit Untersuchungshaftsachen befassten Spruchkörper infolge Häufung anhängiger Sachen oder unzureichender personeller Ausstattung, der nicht durch alle möglichen gerichtsorganisatorischen Mittel, notfalls unter Heranziehung von Zivilrichtern, begegnet worden ist, stellt grundsätzlich keinen wichtigen Grund dar (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O., Rn. 22 mit zahlr. Nachw.; zu überlastungsbedingten Verfahrensverzögerungen nochmals ausführlich: OLG Bremen, Beschluss vom 20. Mai 2016 - 1 HEs 2/16; 1 HEs 3/16 - [juris]; s. auch KG, Beschluss vom 3. Juni 2016 - [5] 141 HEs 41/16 [8/16] -; Senat StV 2017, 450).

Das BVerfG hat sich hierzu zuletzt (StV 2015, 39 = JR 2014, 488 mit zust. Anm. Schäfer) nochmals in aller Klarheit wie folgt geäußert: 'Die Überlastung eines Gerichts fällt - anders als unvorhersehbare Zufälle und schicksalhafte Ereignisse - in den Verantwortungsbereich der staatlich verfassten Gemeinschaft. Dem Beschuldigten darf nicht zugemutet werden, eine längere als die verfahrensangemessene Aufrechterhaltung des Haftbefehls nur deshalb in Kauf zu nehmen, weil der Staat es versäumt, seiner Pflicht zur verfassungsgemäßen Ausstattung der Gerichte zu genügen (BVerfGE 36, 264 <275>). (...) Kann dem verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgebot in Haftsachen nicht Rechnung getragen werden, weil der Staat seiner Pflicht zur verfassungsgemäßen Ausstattung der Gerichte nicht nachkommt, haben die mit der Haftprüfung betrauten Fachgerichte die verfassungsrechtlich gebotenen Konsequenzen zu ziehen, indem sie die Haftentscheidung aufheben; ansonsten verfehlen sie die ihnen obliegende Aufgabe, den Grundrechtsschutz der Betroffenen zu verwirklichen (vgl. BVerfGK 6, 384 <397>)'.

Diese Grundsätze haben gleichermaßen für die Staatsanwaltschaft und ihre Ermittlungspersonen zu gelten. Auch die - nicht nur kurzfristige, auf unvorhersehbare Zufälle und schicksalhafte Ereignisse zurückgehende - Überlastung der Ermittlungsbehörden infolge einer Häufung anhängiger Untersuchungshaftsachen und/oder unzureichender personeller Ausstattung kann nicht als wichtiger Grund im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO anerkannt werden. Deren Überlastung fällt, wie die eines Gerichts (vgl. BVerfG a.a.O.), in den Verantwortungsbereich der staatlich verfassten Gemeinschaft. Der Beschuldigte darf nicht länger als im o.g. Sinne verfahrensangemessen in Untersuchungshaft gehalten werden, nur weil der Staat es versäumt, seiner Pflicht, (auch) die Ermittlungsbehörden personell und sachlich so auszustatten, dass sie ihren Aufgaben bei der Aufklärung und Verfolgung von Straftaten in angemessener Zeit nachkommen können, zu genügen.“

Unter Anwendung dieser Rechtsgrundsätze zeigt sich, dass im vorliegenden Fall die Sachbehandlung im Ermittlungsverfahren und im Zwischenverfahren den einzuhaltenden Anforderungen an die besondere Verfahrensbeschleunigung in Haftsachen nicht genügt.

1.

Verglichen mit Verfahren, die üblicherweise innerhalb von sechs Monaten durch ein erstinstanzliches Urteil eines Gerichts abgeschlossen werden können (vgl.OLG Dresden, Beschluss vom 23. Dezember 2014 - 2 Ws 542/14 -), sind die Ermittlungen vorliegend weder besonders schwierig noch besonders umfangreich.

Das Verfahren richtet sich gegen zwei Angeschuldigte, ein dritter Mittäter ist unbekannt geblieben. Es handelt sich lediglich um eine Tat und die Anzahl der Beweismittel hält sich in Grenzen, zumal die Angeschuldigten auf frischer Tat entdeckt wurden und unmittelbar im Anschluss an ihre Flucht festgenommen werden konnten. Dies hätte eine Bewältigung der Ermittlungen in überschaubarer Zeit erwarten lassen. So listet die Anklageschrift neben der Einlassung des Mitangeschuldigten I... 10 Zeugen, drei Augenscheinsobjekte und sieben Urkunden als weitere Beweismittel auf. Der Umfang der Akten beträgt lediglich 659 Blatt. Für die Hauptverhandlung ist nach jetzigem Stand lediglich ein Sitzungstag vorgesehen.

2.

a) Zwar ist die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Stellungnahme vom 21. November 2022 der Auffassung, dass Verstöße gegen das in Haftsachen geltende Beschleunigungsgebot - insbesondere durch grobe Fehler oder Säumnisse - nicht erkennbar seien. Dem kann der Senat indes nicht folgen, zumal sich die Generalstaatsanwaltschaft mit den Besonderheiten des vorliegenden Einzelfalls, insbesondere mit den Zeitabläufen, nicht auseinandersetzt.

Bereits die Ermittlungen sind nicht mit der gebotenen Beschleunigung geführt worden.

Nach der Festnahme der Angeschuldigten am 28. Mai 2022 wurde den Verteidigern zunächst Akteneinsicht, teilweise mit Kopie-Akten, gewährt. Unter dem 17. Juni 2022 verfügte die Staatsanwaltschaft, dass die sichergestellte Beute und der von den Angeschuldigten verwendete PKW nach kriminaltechnischer Untersuchung wieder herausgegeben werden könne.

Erst einen Monat nach der Festnahme der Angeschuldigten, am 30. Juni 2022, wurde die Ermittlung des Wertes des PKW veranlasst. Mit weiterer Verfügung vom 05. Juli 2022 wurde die Polizei beauftragt, a) den Wert des Stehlgutes und die Höhe des eingetretenen Sachschadens zu ermitteln, b) aktenkundig zu machen, ob auf den sichergestellten Handys der Angeschuldigten relevante Kommunikation festgestellt werden könne, c) von dem sichergestellten Seitenschneider (irrtümlich als Kneifzange benannt) Fotos zu fertigen und dessen Verbleib aktenkundig zu machen, d) die ehemalige Eigentümerin des PKW, die Zeugin D..., zum Verbleib des PKW zeugenschaftlich zu vernehmen und e) die Personalien eines weiteren Verdächtigen zu ermitteln.

Die Akte gelangte daraufhin am 11. Juli 2022 zur Kriminalpolizei.

Nach Abschluss dieser übersichtlichen Ermittlungen ist die Akte sodann (erst) am 02. September 2022 von der Kriminalpolizei zur Staatsanwaltschaft Neuruppin mit den Ermittlungsergebnissen zurückgegeben worden.

Nachdem die Staatsanwaltschaft die Zweitakten dem Landgericht Neuruppin zur Entscheidung über die am 01. September 2022 bei der Staatsanwaltschaft Neuruppin eingegangene Beschwerde des Verteidigers des Angeschuldigten K... gegen den Beschluss des Amtsgerichts Neuruppin vom 27. Juli 2022, mit dem der Ermittlungsrichter den Antrag des Angeschuldigten K... auf Beiordnung eines Dolmetschers zur Durchführung von Verteidigergesprächen mit dem Wahlverteidiger abgelehnt hat, übersandt hatte, verfügte die Staatsanwaltschaft Neuruppin unter dem 07. September 2022 u.a. nach Entscheidung über die Herausgabe des PKW eine Wiedervorlage der Akte zum 04. Oktober 2022 (genau). Hintergrund dieser vier Wochen dauernden Verfristung war der vom 12. September bis zum 30. September 2022 dauernde Jahresurlaub der zuständigen sachbearbeitenden Staatsanwältin.

Mit Verfügung vom 18. Oktober 2022 hat die Staatsanwaltschaft die Vervollständigung der Zweit- und Drittakte angeordnet, da zwischenzeitlich das Landgericht Neuruppin der Beschwerde des Angeschuldigten K... stattgegeben hatte, die Untersuchungshaft gegen den Mitangeschuldigten I... zur Vollstreckung einer Restfreiheitsstrafe unterbrochen und Haftprüfung beantragt worden war. Dieser Antrag wurde am 20. Oktober 2022 im Haftprüfungstermin zurückgenommen.

Trotz Verfügung zur Wiedervorlage am 4. Oktober 2022 beauftragte die Staatsanwaltschaft erst mit Verfügung vom 24. Oktober 2022 die Polizei mit der Spurenuntersuchung zur möglichen Identifizierung des bisher unbekannt gebliebenen Mittäters und zur Durchführung einer Wahllichtbildvorlage zur Identifizierung des Käufers des bei der Tat verwendeten PKW.

Unter dem 25. Oktober 2022 fertigte die zuständige Sachbearbeiterin bei der Staatsanwaltschaft Neuruppin sodann die Anklageschrift, die hinsichtlich des abstrakten und konkreten Tatvorwurfs, der Beweiswürdigung und der rechtlichen Würdigung knapp sieben Seiten umfasst.

Die Anklageschrift erreichte das Schöffengericht des Amtsgerichts Oranienburg am 02. November 2022. Erst zwölf Tage später, mit Verfügung vom 14. November 2022, verfügte der zuständige Amtsrichter die Übersetzung bzw. Zustellung der Anklageschrift an die Angeschuldigten und deren Verteidiger. Am 17. November 2022 beschloss das Amtsgericht die Vorlage der Akten an das Brandenburgische Oberlandesgericht zur außerordentlichen Haftprüfung.

b) Dieser dargestellte Ermittlungsgang macht deutlich, dass das Verfahren nicht mit der für eine Haftsache erforderlichen Beschleunigung geführt wurde. Die zur Anklageerhebung erforderlichen Ermittlungen, die nach der Festnahme der Angeschuldigten durchzuführen waren, waren nicht in einem Maße schwierig und zeitaufwändig, dass die Frist des § 121 Abs. 1 StPO allein schon für die Erhebung der Anklage mit fünf Monaten ausgeschöpft werden musste.

Insbesondere ist nicht nachvollziehbar, warum die zielgerichteten Ermittlungen erst fünf Wochen nach der Festnahme der Angeschuldigten eingeleitet wurden, warum diese nicht aufwendigen Ermittlungen bei der Kriminalpolizei acht Wochen in Anspruch nahmen, warum es nach Abschluss dieser Ermittlungen weitere mehr als sieben Wochen dauerte, bis Anklage erhoben wurde. Insbesondere ist nicht erklärlich, warum die Angelegenheit während des Jahresurlaubs der sachbearbeitenden Staatsanwältin, die offensichtlich nicht vertreten wurde, und auch unmittelbar nach dem Jahresurlaub keine Förderung erfuhr.

Aber auch das Zwischenverfahren ist nicht mit der Eile geführt worden, die vorangegangene Zeitversäumnisse möglicherweise hätten kompensieren können. Denn zwölf Tage dauerte es, bis die Anklage zugestellt wurde, und über einen Monat nach Eingang der Akten ist eine Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens bei dem ausgesprochen einfach gelagerten Sachverhalt und der übersichtlichen Aktenlage nicht erfolgt.

Ursache für die Überschreitung der sechsmonatigen Frist gemäß § 121 Abs. 1 StPO ist hiernach offensichtlich eine grundsätzliche Überlastung der Ermittlungsbehörden und der Justiz, denn die Sorgfältigkeit der Ermittlungstätigkeiten steht nicht in Zweifel.

3.

"Wichtiger Grund" für eine Fristüberschreitung gemäß § 121 Abs. 1 StPO sind nur durch die Justiz oder die Strafverfolgungsbehörden nicht vermeidbare Sachzwänge oder allein dem Beschuldigten zuzuschreibende Ursachen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. Dezember 1973 - 2 BvR 558/73 -). Denn aufgrund des aus dem Freiheitsgrundrecht gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 2 Grundgesetz folgenden Beschleunigungsgebots haben die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen zu ergreifen, um die Ermittlungen zügig abzuschließen und eine Entscheidung über den Anklagevorwurf herbeizuführen (st. Rspr., vgl. zuletzt BVerfG, Beschluss vom 3. Februar 2021 - 2 BvR 2128/20 -).

Daran gemessen sind "wichtige Gründe" im Sinne von § 121 Abs. 1 StPO nicht zu erkennen. In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass weder eine kurzfristige Überlastung des Spruchkörpers noch längerfristige Auslastung des Gerichts Haftzeiten von mehr als sechs Monaten rechtfertigen. Gleiches gilt für eine Überlastung der Polizei und der Staatsanwaltschaft.

Denn solchen Verzögerungsgründen ist gegebenenfalls mit geeigneten gerichts- bzw. verwaltungsorganisatorischen Maßnahmen zu begegnen. Stehen solche auch unter Ausschöpfung aller vorhandenen Ressourcen nicht zur Verfügung, hat es nicht der inhaftierte Angeschuldigte zu vertreten, wenn seine Strafsache nicht binnen angemessener Zeit zur Verhandlung gelangt, weil der Polizei, der Staatsanwaltschaft oder dem Gericht die personellen oder sächlichen Mittel fehlen, die zur ordnungsgemäßen Bewältigung des Geschäftsanfalls erforderlich wären. Vielmehr hat der Staat die dafür erforderlichen personellen wie sächlichen Mittel aufzubringen, bereitzustellen und einzusetzen (str. Rspr., grundlegend BVerfG, Beschluss vom 12. Dezember 1973 - 2 BvR 558/73 -).

Ebenso ist aus gleichen Erwägungen anerkannt, dass auch Urlaubs- und Abwesenheitszeiten von Berufsrichtern und Staatsanwälten grundsätzlich kein "wichtiger Grund" sind; in der Regel ist in diesem Fall von den getroffenen Vertretungsregelungen Gebrauch zu machen (vgl. BVerfG, a. a. O.). Anders kann es sich verhalten, wenn der mit der notwendigen Einarbeitung des Vertreters verbundene Zeitaufwand im Ergebnis dazu führt, dass die Verzögerung unvermeidbar ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. Oktober 1993 - 2 BvR 1919/93 -; OLG Hamm, Beschluss vom 9. August 2022 – 3 Ws 228/22 –). Ein solcher Fall liegt hier indes nicht vor. Der Sachverhalt ist einfach gelagert und die Beweislage übersichtlich.

4.

Auch ein „sonstiger“ wichtiger Grund für die Fortdauer der Untersuchungshaft ist unter Berücksichtigung der gebotenen engen Auslegung dieses Ausnahmetatbestands (vgl. BVerfGE 53, 152; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 69. Aufl., § 121 Rn. 18) nicht anzunehmen.

Ein solcher Grund ist nur dann gegeben, wenn das Verfahren durch Umstände verzögert worden ist, denen Strafverfolgungsbehörden und Gerichte durch geeignete Maßnahmen nicht haben entgegen wirken können. Maßgeblich ist insoweit, ob die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte alle zumutbaren Maßnahmen getroffen haben, um die Ermittlungen so schnell wie möglich abzuschließen und ein Urteil herbeizuführen (vgl. KG Berlin, StV 2015, 45; Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O., Rn. 19, 21 m.w.N.). Die in § 121 Abs. 1 StPO bestimmte Sechs-Monats-Frist stellt in diesem Zusammenhang lediglich eine Höchstgrenze dar. Aus der genannten Vorschrift kann nicht etwa der Schluss gezogen werden, dass ein Strafverfahren bis zu diesem Zeitpunkt nicht unter Berücksichtigung des Beschleunigungsgebots geführt werden müsse (vgl. KG Berlin, Beschlüsse vom 18. August 2017 - [4] 161 HEs 33/17 [15/17] -, 9. August 2013 - [4] 141 HEs 44/13 [23/13] - und 13. August 2012 - [4] 141 HEs 63/12 [27/12] - m.w.N.). Vielmehr verlangt der in Art. 2 Abs. 2 GG verankerte Beschleunigungsgrundsatz, dass die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte von Anfang an alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen. An den zügigen Fortgang des Verfahrens sind umso strengere Anforderungen zu stellen, je länger die Untersuchungshaft bereits andauert (vgl. KG Berlin, Beschluss vom 26. April 2010 - [4] 1 HEs 7/10 [3-4/10] - m.w.Nachw.).

Dass im vorliegenden Fall von Anfang an alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen zur Beschleunigung des Verfahrens ergriffen wurden, lässt sich dem vorgenannten Verfahrensgang und den Akten im Übrigen nicht entnehmen.