Gericht | OLG Brandenburg 1. Strafsenat | Entscheidungsdatum | 26.10.2022 | |
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Aktenzeichen | 1 AR 36/22 (S), 1 AR 36/22 | ECLI | ECLI:DE:OLGBB:2022:1026.1AR36.22.00 | |
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen |
Das Verfahren wird bis zur Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs in den Verfahren C-396/22, C-397/22 und C-398/22 (Vorlagebeschlüsse des Kammergerichts Berlin vom 14. Juni 2022, [(4) 151 AuslA 53/21 (146/21), (4) 151 AuslA 147/21 (151/21) und (4) 151 AuslA 176/21 (174/21)] ausgesetzt.
Der Auslieferungshaftbefehl des Senats vom 7. September 2022 wird außer Vollzug gesetzt.
Der Verfolgte ist unverzüglich aus der Haft zu entlassen.
I.
Das Kammergericht hat mit Beschluss vom 14. Juni 2022 (4 - 151 AuslA 176/21 -174/21) dem Gerichtshof der Europäischen Union (dortiges Az.: C-398/22) gemäß Art. 267 AEUV folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
„1. Ist bei durchgeführtem Berufungsverfahren der Begriff der ‚Verhandlung‘ in Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI in der Fassung des Rahmenbeschlusses 2009/299/JI dahin auszulegen, dass er sich auf die der erstinstanzlichen Entscheidung vorangegangene Verhandlung bezieht, wenn nur der Verfolgte Berufung eingelegt hat und entweder die Berufung verworfen oder das erstinstanzliche Urteil zu seinen Gunsten abgeändert worden ist?
2. Ist es mit dem Vorrang des Unionsrechts vereinbar, dass der deutsche Gesetzgeber in § 83 Abs. 1 Nr. 3 IRG den Fall der Abwesenheitsverurteilung als absolutes Übergabehindernis ausgestaltet hat, obwohl Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI in der Fassung des Rahmenbeschlusses 2009/299/JI insoweit nur einen fakultativen Verweigerungsgrund vorsieht?“
Das Kammergericht hat mit Beschluss ebenfalls vom 14. Juni 2022 (4 - 151 AuslA 147/21 -151/21; Az. EuGH C 397/22) u.a. die vorgenannte Frage zu 1. wie folgt modifiziert:
„Ist bei durchgeführtem Berufungsverfahren der Begriff der „Verhandlung“ in Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI in der Fassung des Rahmenbeschlusses 2009/299/JI dahin auszulegen, dass er sich auf die der erstinstanzlichen Entscheidung vorangegangene Verhandlung bezieht, wenn nur der Verfolgte Berufung eingelegt hat und die Berufung verworfen worden ist?“
Schließlich hat das Kammergericht hat mit weiterem Beschluss ebenfalls vom 14. Juni 2022 (4 - 151 AuslA 53/21 - 146/21) dem Europäischen Gerichtshof (C-396/22) gemäß Art. 267 AEUV folgende Fragen zur Vorabengscheidung vorgelegt:
„1. Ist daran festzuhalten, dass auch ein Verfahren zur nachträglichen Gesamtstrafenbildung in den Anwendungsbereich des Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI in der Fassung des Rahmenbeschlusses 2009/299/JI fällt, wenn die Entscheidung zwar durch Urteil aufgrund einer mündlichen Verhandlung getroffen wird, in diesem aber weder der Schuldspruch überprüft noch die für die einzelne Tat erkannte Strafe abgeändert werden kann?
2. Ist es mit dem Vorrang des Unionsrechts vereinbar, dass der deutsche Gesetzgeber in § 83 Abs. 1 Nr. 3 IRG den Fall der Abwesenheitsverurteilung als absolutes Übergabehindernis ausgestaltet hat, obwohl Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI in der Fassung des Rahmenbeschlusses 2009/299/JI insoweit nur einen fakultativen Verweigerungsgrund vorsieht?“
Da die Beantwortung der vorstehenden Fragen nach gegenwärtiger Sach- und Rechtslage auch für das vorliegende Auslieferungsverfahren von maßgeblicher Bedeutung ist, setzt der Senat das Verfahren bis zur Entscheidung der Vorlagefragen durch den Europäischen Gerichtshof aus.
II.
1. Die polnischen Justizbehörden ersuchen unter Bezugnahme auf den Europäischen Haftbefehl des Bezirksgerichts Szczecin vom 14. Juli 2021 (Az.: III Kop 157/22) um die Auslieferung des Verfolgten zum Zweck der Strafvollstreckung.
Ausweislich des Europäischen Haftbefehls wurde der Verfolgte durch Gesamturteil des Amtsgerichts Gryfino vom 07. Januar 2021 (Az.: II K 377/20), das die Urteile desselben Gerichts vom 07. Januar 2018 (Az.: II K 422/17) und 10. Dezember 2018 (Az.: II K 111/18) umfasst, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und fünf Monaten verurteilt, von der noch ein Jahr, vier Monate und zwei Tage zu vollstrecken sind.
Gegen die beiden vorgenannten Urteile vom 7. Januar 2018 und vom 10. Dezember 2018 hatte der Verfolgte Berufung eingelegt, die jeweils durch das Bezirksgericht Szczecin verworfen wurden. Hinsichtlich der beiden Urteile hatte der Verfolgte am 16. September 2020 beantragt, das im Europäischen Haftbefehl genannte Gesamturteil zu erlassen.
Nach den Angaben im Europäischen Haftbefehl liegen den einbezogenen Urteilen, bei deren Verkündung der Verfolgte – anders, als bei den Berufungsverfahren und bei der Verkündung des Gesamturteils – jeweils anwesend war, folgende Feststellungen zum Tatgeschehen zugrunde:
A. Urteil vom 07. Januar 2018 (Az.: II K 422/17)
(1.) Am 27. Januar 2017 habe der Verfolgte in Gryfino die körperliche Unversehrtheit des Polizeibeamten O... D..., der sich bei der Erfüllung von Dienstpflichten befunden habe, öffentlich, ohne Grund und unter grober Missachtung der öffentlichen Ordnung verletzt, indem er an dessen Dienstkleidung gezerrt, ihn mit dem Tod bedroht und beleidigt habe.
(2.) Am 27. Juni 2017 habe er im Kreispolizeipräsidium Gryfino die Polizeibeamtin A... K... während der Erfüllung von Dienstpflichten beleidigt.
(3.) Am 27. Juni 2017 habe er im Kreispolizeipräsidium Gryfino den Polizeibeamten D... M... während der Erfüllung von Dienstpflichten beleidigt und mit Körperverletzung bedroht.
B. Urteil vom 10. Dezember 2018 (Az.: II K 111/18)
(1.) Am 09. September 2017 habe der Verfolgte in Gryfino unter Vorzeigen einer Axt dem Geschädigten T... P... mit Körperverletzung und Tod gedroht.
(2.) Am selben Tag habe er in Gryfino unter Vorzeigen einer Axt und eines Messers dem Geschädigten R... K... mit Körperverletzung und Tod gedroht.
(3.) Ebenfalls am 09. September 2017 habe er in Gryfino der Geschädigten A... K... mit Körperverletzung, Vergewaltigung und Freiheitsberaubung gedroht.
Vollstreckungsverjährung tritt nach polnischem Recht hinsichtlich des Urteils vom 07. Januar 2018 am 13. Mai 2044, hinsichtlich des Urteils vom 10. Dezember 2018 am 11. Dezember 2034 ein.
2. Der Verfolgte wurde am 04. August 2022 auf der Grundlage einer SIS-Ausschreibung am Bahnhof ... vorläufig festgenommen. Am folgenden Tag wurde er in Anwesenheit seines Beistands und eines Dolmetschers für die polnische Sprache vor dem Amtsgericht Schwedt (Oder) richterlich vernommen. Hierbei erklärte er sich nach Belehrung weder mit der Durchführung des vereinfachten Auslieferungsverfahrens noch mit einem Verzicht auf die Einhaltung des Grundsatzes der Spezialität einverstanden.
Das Amtsgericht Schwedt (Oder) erließ am 05. August 2022 eine Festhalteanordnung und wies den Verfolgten in die Justizvollzugsanstalt ..., Teilanstalt ..., ein. Am 15. August 2022 wurde der Verfolgte in die Justizvollzugsanstalt ... überführt. Dort befindet er sich seither.
Unter dem 17. August 2022 erließ der Senat einen vorläufigen Auslieferungshaftbefehl.
3. Am 09. August 2022 hatte die Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg Anfragen an die ersuchende polnische Justiz insbesondere zur Frage der Entscheidungen in Abwesenheit des Verfolgten und zu den näheren Inhalten der Erkenntnisse gerichtet.
Hierauf teilten die polnischen Justizbehörden unter dem 23. August 2022 Folgendes mit:
Der Verfolgte sei bei den beiden Verhandlungen, die zu seinen Einzelverurteilungen geführt hätten, persönlich anwesend gewesen. Gegen beide Urteile habe er Berufungen eingelegt, die in seiner Abwesenheit zurückgewiesen worden seien. Die Ladungen zu den Berufungshauptverhandlungsterminen seien dem Verfolgten jeweils im Ersatzverfahren, also durch zweimalige Niederlegung der Benachrichtigung auf dem Postamt, zugestellt worden, und zwar unter der von ihm im Ermittlungsverfahren angegebenen Anschrift. In beiden Verfahren sei er über seine Pflicht belehrt worden, die Behörde über jeden Wohnsitz- oder Aufenthaltswechsel zu informieren und, falls er sich im Ausland aufhalte, einen Zustellungsbevollmächtigten im Inland zu benennen, anderenfalls Schreiben, die ihm unter der zuletzt bekannten Anschrift übersandt würden, als zugestellt gelten würden. Diese Belehrungen habe der Verfolgte eigenhändig unterschrieben.
Mit Schreiben vom 16. September 2020 habe der Verfolgte beantragt, gegen ihn ein Gesamturteil zu erlassen, das die Verurteilungen vom 07. Januar 2018 und 10. Dezember 2018 umfasse. Als Absender habe er unverändert die den Behörden bereits benannte Anschrift angegeben. Dorthin habe sich am 05. Oktober 2020 ein Bewährungshelfer begeben, um mit dem Verfolgten einen Sozialbericht zu erarbeiten. Die unter dieser Anschrift an ihn gerichtete Ladung zum Verhandlungstermin sei in den Postrücklauf des Gerichts gelangt mit dem Vermerk „nicht fristgerecht abgeholt“.
Theoretisch hätte das Gericht eine Gesamtfreiheitsstrafe zwischen einem Jahr und einem Jahr und sechs Monaten verhängen können. Da der Verfolgte ordnungsgemäß zur Hauptverhandlung geladen worden sei, habe man ihm das Gesamturteil nicht übersandt. Binnen gesetzlicher Frist habe der Verfolgte die Möglichkeit gehabt, Berufung gegen das Gesamturteil einzulegen, nunmehr, seit dem 15. Januar 2021, sei das Urteil rechtskräftig.
Nach Eingang der ergänzenden Mitteilungen des Amtsgerichts Gryfino hat der Senat am 7. September 2022 einen unbeschränkten Auslieferungshaftbefehl erlassen.
Der Verfolgte wurde am 27. September 2022 durch das Amtsgericht Brandenburg an der Havel richterlich angehört. Hierbei gab er an, dass eine 11-jährige Tochter bei seiner „Ex-Partnerin“ in B... lebe und dort zur Schule gehe. Vor vier Jahren habe er ein Baugewerbe in B... angemeldet. Er wohne jedoch weiterhin in Polen, habe in B... ein Zimmer bei einem Bekannten gemietet, sich jedoch in Deutschland nicht polizeilich angemeldet. Mit einer Auslieferung im vereinfachen Verfahren hat sich der Verfolgte weiterhin nicht einverstanden erklärt. Zudem wurde dem Verfolgten die Absicht der Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg bekannt gegeben, hinsichtlich der erstrebten Auslieferung Bewilligungshindernisse nach § 83b IRG nicht geltend zu machen. Mit Schreiben vom 18. September 2022 ist der Verfolgte der avisierten Auslieferung, die er für unzulässig hält, entgegengetreten.
Die Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg hat am 5. Oktober 2022, eingegangen beim Brandenburgischen Oberlandesgericht am 10. Oktober 2022, beantragt, die Auslieferung des Verfolgten an Polen zur Strafvollstreckung für zulässig zu erklären, die beabsichtigte Bewilligung der Auslieferung gerichtlich zu bestätigen und die Fortdauer der Auslieferungshaft anzuordnen.
III.
Die von dem Kammergericht mit Beschlüssen vom 14. Juni 2022 dem Europäischen Gerichthof gemäß Art. 267 AEUV vorgelegten Fragen sind auch für das hiesige Auslieferungsverfahren hinsichtlich der Zulässigkeit der Auslieferung nach § 83 Abs. 1 Nr. 3 IRG wie auch vor dem Hintergrund von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI in der Fassung des Rahmenbeschlusses 2009/299/JI von maßgeblicher Bedeutung:
1. Der Verfolgte war bei den Berufungsverhandlungen vor dem Bezirksgericht Szczecin nicht anwesend, so dass sich die Frage nach der Zulässigkeit der Auslieferung nach dem achten Teil des IRG, hier: § 83 Abs. 1 Nr. 3 IRG, stellt, mit dem der deutsche Gesetzgeber den Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedsstaaten vom 13. Juni 2002 (2002/581/JI) umgesetzt hat. Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 10. August 2017 (C-270/17 PPU) ist bei mehreren Rechtszügen als „Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat“, nach Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI in der Fassung des Rahmenbeschlusses 2009/299/JI diejenige Verhandlung zu verstehen, in der der Verfolgte nach einer erneuten Prüfung des Sachverhalts in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht rechtskräftig für schuldig befunden und zu einer Strafe verurteilt wurde, mithin die letzte Tatsacheninstanz. Nach dieser Auffassung wäre vorliegend auf die Berufungsverhandlungen vor dem Bezirksgericht in Szczecin abzustellen, an denen der Verfolgte nicht teilgenommen hat und zu denen er nicht in einer genügenden Weise geladen worden war (EuGH, Urteil der 4. Kammer vom 24. Mai 2016, C-108/16 PPU).
Ebenso wie das Kammergericht hat der Senat erhebliche Zweifel, ob der 5. Kammer des Europäischen Gerichtshof auch dann zu folgen ist, wenn der Verfolgte – wie im vorliegenden Fall – an der erstinstanzlichen Verhandlung teilgenommen, danach jedoch seine Ladung zu der Verhandlung über die nur von ihm eingelegte Berufung vereitelt hat (vgl. KG, Beschluss vom 14. Juni 2021, Az. (4) 151 AuslA 176/21 (174/21), zit. n. juris, dort Rn. 16 ff.; ähnlich: KG, Beschluss vom 14. Juni 2021, Az. (4) 151 AuslA 147/21 (151/21), zit. n. juris, dort Rn. 18 ff.). Die Zweifel liegen zum einen darin begründet, dass nach deutschem Recht die Zustellungsmöglichkeiten weitreichender sind (z.B. § 40 Abs. 3 StPO), im Falle des Ausbleibens des nicht verteidigten Angeklagten in der Berufungshauptverhandlung sein Rechtsmittel ohne Verhandlung zur Sache zu verwerfen ist (§ 329 Abs. 1 S. 1 StPO), das Verbot der reformatio in peius eine Verschlechterung der Position des Angeklagten verhindert und letztlich die zu vollstreckende Entscheidung bei einer Berufungsverwerfung das in Rechtskraft erwachsende erstinstanzliche Erkenntnis ist, bei der der Verfolgte anwesend gewesen war. Wegen der weiteren Einzelheiten wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf die entsprechenden Ausführungen in der Vorlageentscheidung des Kammergerichts verwiesen (vgl. KG, Beschluss vom 14. Juni 2021, Az. (4) 151 AuslA 176/21 (174/21), zit. n. juris, dort Rn. 14 ff.; ähnlich: KG, Beschluss vom 14. Juni 2021, Az. (4) 151 AuslA 147/21 (151/21), zit. n. juris, dort Rn. 16 ff.).
2. Der Verfolgte war auch zur Hauptverhandlung im Verfahren über die Bildung einer Gesamtstrafe nicht anwesend, so dass sich auch insoweit die Frage nach der Zulässigkeit der Auslieferung gemäß § 83 Abs. 1 Nr. 3 IRG, stellt. Hierzu hat die 5. Kammer des Europäischen Gerichtshofs entschieden, dass die Wendung „Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat“ in Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI in der Fassung des Rahmenbeschlusses 2009/299/JI auch ein nachfolgendes Verfahren erfasse, das zu einem eine Gesamtstrafe bildenden Urteil geführt hat und nach dessen Abschluss die Entscheidung erlassen wurde, durch die die ursprünglich verhängte Strafe endgültig neu bemessen wurde, sofern das betreffende Organ beim Erlass dieser Entscheidung über ein Ermessen verfügte (Urteil vom 10. August 2017, Az. C-271/17). Diese Voraussetzungen sind bei dem Gesamturteil des Kreisgerichts Gryfino vom 7. Januar 2021 erfüllt, da ausweislich der Auskunft des Gerichts vom 23. August 2022 bei der Bildung der Gesamtstrafe nach dem Ermessen des Gerichts auf eine Strafe erkannt werden kann, deren Untergrenze die höchste Einzelstrafe und deren Obergrenze die Summe aller Einzelstrafen bildet (Art. 86 § 1 des polnischen Strafgesetzbuches).
Ebenso wie das Kammergericht bezweifelt der Senat, ob ein Nachtragsverfahren, in dem weder der Schuldspruch überprüft noch die für die einzelne Tat erkannte Strafe abgeändert werden kann, tatsächlich von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI in der Fassung des Rahmenbeschlusses 2009/299/JI erfasst wird, zumal es damit von der Ausgestaltung dieses Nachtragsverfahrens im nationalen Recht des Urteilsstaates abhinge, ob Art. 4a des Rahmenbeschlusses Anwendung findet, namentlich davon, ob dieses Nachtragsverfahren im Rahmen einer zu einem Urteil führenden Verhandlung durchgeführt wird.
So ist das Nachtragsverfahren zur Bildung einer Gesamtstrafe im deutschen Strafprozessrecht nach §§460, 462 Abs.1 StPO als Beschlussverfahren ohne mündliche Verhandlung ausgestaltet. Wegen der weiteren Begründung wird auf die entsprechenden Ausführungen in der Vorlageentscheidung des Kammergerichts verwiesen, denen sich der Senat anschließt (vgl. KG, Beschluss vom 14. Juni 2021, Az. (4) 151 AuslA 53/21 (146/21), zit. n. juris, dort Rn. 23 ff.).
3. Der Senat teilt schließlich die Bedenken des Kammergerichts, die dahin gehen, dass der deutsche Gesetzgeber in § 83 Abs. 1 Nr. 3 IRG den Fall der Abwesenheitsverurteilung als absolutes Übergabehindernis ausgestaltet hat, wohingegen Art. 4 a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI in der Fassung des Rahmenbeschlusses 2009/299/JI insoweit nur einen fakultativen Verweigerungsgrund regelt. Ein Rückgriff auf Art. 4 a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI und damit zugleich die Ausübung einer Ermessensentscheidung ist jedoch nicht möglich, da Rahmenbeschlüsse keine unmittelbare Wirkung entfalten, vielmehr innerstaatliches Recht rahmenbeschlusskonform auszulegen ist, was jedoch dann nicht möglich ist, wenn es auf eine Auslegung contra legem hinauslaufen würde (vgl. EuGH, Urteil vom 24. Juni 2019, C-573/17; Vorlagebeschlüsse des Kammergerichts Berlin vom 14. Juni 2022, (4) 151 AuslA 53/21 (146/21), zit. n. juris, dort Rn. 31 ff.; (4) 151 AuslA 147/21 (151/21), zit. n. juris, dort Rn. 33 ff. und (4) 151 AuslA 176/21 (174/21), zit. n. juris, dort Rn. 32 ff.). Damit wäre eine Prüfung von Aspekten, die einem Auslieferungsverbot nach § 83 Abs. 1 Nr. 3 IRG entgegenstehen könnten, jedoch in § 83 Abs. 2 IRG keinen Niederschlag gefunden haben, von vornherein unmöglich, was dem Rechtshilfeverkehr mit dem Ausland abträglich wäre (zur Ermessensausübung siehe auch EuGH, Urteil vom 24. Mai 2016, C 108/16 PPU; EuGH, Urteil vom 10. August 2017, Az. C 270/17 PPU; EuGH Urteil vom 10. August 2017, Az. C 271/17 PPU; EuGH, Urteil vom 17. Dezember 2020, Az. C 416/20 PPU).
IV.
Da im vorliegenden Verfahren über die Zulässigkeit der Auslieferung gegenwärtig nicht entschieden werden kann, vielmehr das Verfahren bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union über die Vorlagefragen des Kammergerichts vom 14. Juni 2022 auszusetzen ist, ist zugleich der Auslieferungshaftbefehl des Senats vom 7. September 2022 außer Vollzug zu setzen und der Verfolgte aus der Auslieferungshaft zu entlassen.