Gericht | OVG Berlin-Brandenburg 12. Senat | Entscheidungsdatum | 19.12.2022 | |
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Aktenzeichen | OVG 12 B 22/20 | ECLI | ECLI:DE:OVGBEBB:2022:1219.OVG12B22.20.00 | |
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 7 Abs 1 WBO |
Gründe der Verwaltungspraktikabilität rechtfertigen es nicht, bei der Beurteilung des weiterbildungsrelevanten Behandlungs- und Leistungsspektrums allein auf die vergütungsrechtliche Kategorie der Hauptdiagnosen abzustellen; im Rahmen des Teilwiderrufs der (vollen) Weiterbildungsbefugnis sind auch die Nebendiagnosen mit in den Blick zu nehmen.
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 28. Mai 2020 geändert. Der Bescheid der Ärztekammer Berlin vom 1. Juni 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15. März 2018 wird aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge.
Die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren wird für notwendig erklärt.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 v.H. des aus dem Urteil vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 v.H. des jeweiligen Vollstreckungsbetrages leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Der Kläger wendet sich gegen den teilweisen Widerruf seiner Weiterbildungsbefugnis.
Der Kläger ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und seit 2010 Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des ... Krankenhauses Berlin (im Folgenden: Klinik).
Die Klinik nimmt - zusammen mit dem St. Hedwig-Krankenhaus und der Charité - für den Bezirk Mitte an der regionalisierten psychiatrischen Pflichtversorgung nach dem Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten teil. Sie umfasst mit insgesamt 60 stationären Betten eine Station für Allgemeinpsychiatrie, eine Station für Suchtmedizin und eine Station für stationäre Kurzzeitpsychiatrie bei Traumafolgestörungen und/oder Borderlinestörungen mit zusätzlicher Suchterkrankung. Die Klinik unterhält zudem eine psychiatrische Institutsambulanz und eine Tagesklinik mit 18 Plätzen, in der Patienten teilstationär behandelt werden. Im Jahr 2016 arbeiteten 7,75 Assistenzärzte in Weiterbildung im Gebiet Psychiatrie und Psychotherapie in der Klinik.
Ende 2009 beantragte der Kläger bei der Beklagten, ihm eine Weiterbildungsbefugnis für das Gebiet Psychiatrie und Psychotherapie im maximal möglichen Umfang von 48 Monaten zu erteilen. In diesem Umfang besaß auch sein Vorgänger als Klinikleiter eine entsprechende Weiterbildungsbefugnis. Auf den Antrag erteilte die Beklagte dem Kläger zunächst eine eingeschränkte Weiterbildungsbefugnis für 36 Monate mit der Begründung, aufgrund des suchtmedizinischen Behandlungsschwerpunkts der Klinik könnten die für den maximalen Befugnisrahmen erforderlichen Weiterbildungsinhalte nicht in ausreichendem Umfang vermittelt werden. Auf den dagegen eingelegten Widerspruch des Klägers erhöhte sie den Befugnisumfang nach erneuter „fachlich-inhaltlicher“ Prüfung rückwirkend zum 9. Juni 2010 auf 48 Monate.
Im März 2016 führte die Beklagte zur Überprüfung der Weiterbildungsbefugnis eine Begehung der Klinik durch und forderte vom Kläger u.a. Unterlagen zur Darstellung des Leistungsspektrums an. Nach Auswertung der Unterlagen teilte sie dem Kläger mit, dass aus der Statistik der Hauptdiagnosen für 2015 ein deutlicher Schwerpunkt bei der Behandlung von Suchterkrankungen (Diagnosegruppe F1 nach ICD-10) hervorgehe und ein breites Diagnosespektrum nicht gegeben sei. Aufgrund der geringen Behandlungszahlen in den Diagnosegruppen F0, F2, F3 und F4 könnten Ärzte in Weiterbildung nicht genügend Erfahrungen, Kenntnisse und Fertigkeiten in der Diagnostik und Therapie dieser Störungen erwerben. Darüber hinaus liege zwar ein Auftrag zur psychiatrischen Pflichtversorgung vor. Im Jahr 2015 habe es jedoch nur 18 entsprechende Fälle gegeben, so dass auch hier nicht genügend Erfahrungen und Kenntnisse während der Weiterbildung erworben werden könnten.
Mit Bescheid vom 1. Juni 2017 widerrief die Beklagte die Weiterbildungsbefugnis des Klägers teilweise, soweit sie einen Umfang von 30 Monaten überstieg. Dem hiergegen erhobenen Widerspruch half sie mit Widerspruchsbescheid vom 15. März 2018 teilweise ab, erhöhte den Befugnisumfang auf 36 Monate und wies den Widerspruch im Übrigen zurück. Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus, dass es für einen Befugnisrahmen von 48 Monaten an dem erforderlichen Leistungsspek-trum fehle. Die vorgelegten Diagnosestatistiken für 2015 und 2016 zeigten, dass in der Klinik nicht das Gesamtspektrum psychiatrischer Erkrankungen behandelt werde. Auch unter Berücksichtigung der Tagesklinik und der Nebendiagnosen ergebe sich kein anderes Bild.
Mit der dagegen erhobenen Klage hat der Kläger geltend gemacht, dass der Teilwiderruf nicht auf § 7 Abs. 1 der Weiterbildungsordnung der Ärztekammer Berlin (WBO) gestützt werden könne. Die Vorschrift sei mangels gesetzlicher Ermächtigungsgrundlage unwirksam. Der Widerruf könne sich damit allein nach der allgemeinen - hier nicht erfüllten - Regelung des § 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwVfG richten. Die Voraussetzungen für die Erteilung der Weiterbildungsbefugnis seien nicht nachträglich entfallen. Das in der Klinik vorhandene Behandlungsspektrum habe in der Vergangenheit für einen Befugnisumfang von 48 Monaten ausgereicht, ohne dass sich die Sachlage insoweit zu Lasten des Klägers geändert hätte. Die von dem Vorstand der Beklagten erlassenen und als Ermessensrichtlinien angeführten Befugniskriterien könnten zur Beurteilung der materiellen Erteilungsvoraussetzungen nicht herangezogen werden. Im Übrigen seien die Voraussetzungen für eine vollumfängliche Weiterbildungsbefugnis erfüllt. Ein eingeschränktes Behandlungsspektrum liege nicht vor; eine Berücksichtigung allein der Hauptdiagnosen sei unzulässig, da diese die klinische Behandlungsrealität nur bruchstückhaft abbildeten. Die Hauptdiagnosen zusammen mit den Nebendiagnosen bestimmten das Gesamtbehandlungskonzept.
Mit Urteil vom 28. Mai 2020 hat das Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen. Der teilweise Widerruf der Weiterbildungsbefugnis über den Umfang von 36 Monaten hinaus sei rechtmäßig und verletze den Kläger nicht in seinen Rechten. Rechtsgrundlage für den Teilwiderruf sei § 7 Abs. 1 WBO, der mit § 9 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 6 des Weiterbildungsgesetzes auf einer ausreichenden gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage beruhe. Die genannten Vorschriften ermächtigten die Kammern dazu, sowohl die Voraussetzungen für die Erteilung der Weiterbildungsbefugnis als auch die Widerrufs- und Rücknahmevoraussetzungen in den Weiterbildungsordnungen zu regeln. Die materiellen Voraussetzungen für den teilweisen Widerruf seien erfüllt. Entgegen der Auffassung des Klägers verlange § 7 Abs. 1 WBO nicht ein nachträgliches Entfallen der Erteilungsvoraussetzungen. Weder der Wortlaut noch Sinn und Zweck der Vorschrift, im Interesse des Patientenschutzes eine qualitativ hochwertige Weiterbildung sicherzustellen, sprächen für ein derart eingeschränktes Verständnis. Die Erteilung einer Weiterbildungsbefugnis im Maximalumfang von 48 Monaten setze voraus, dass sich der in der Weiterbildungsordnung festgelegte Weiterbildungsinhalt umfassend und vollständig im Behandlungs- und Leistungsspektrum der Klinik abbilde. Dabei müssten alle Diagnosegruppen (Hauptgruppen F0 bis F10) in so ausreichender Zahl vertreten sein, dass der weiterzubildende Arzt die Möglichkeit habe, sich mit dem gesamten Spektrum der typischen Krankheiten des Gebiets vertraut zu machen. Gemessen hieran fehle es für einen über 36 Monate hinausgehenden Befugnisumfang an dem dafür erforderlichen Leistungsspektrum. Ausweislich der vom Kläger vorgelegten Statistiken über die Hauptdiagnosen gemäß ICD-10 seien in der Klinik in den Jahren 2015 bis 2017 schwerpunktmäßig - mit einem Anteil von jeweils über 70 % - Patienten mit Suchterkrankungen (F1) behandelt worden. Die übrigen Diagnosegruppen seien mit einem Anteil von jeweils unter 10 % vertreten, wobei die Diagnosegruppen F5, F7, F8 und F9 nur einzelne - teilweise sogar keine - Behandlungsfälle pro Jahr aufwiesen. Erkrankungen aus diesen Diagnosegruppen kämen damit nicht in einer Anzahl vor, die eine gründliche und umfassende Weiterbildung der in der Klinik tätigen Ärzte in Weiterbildung ermöglichten. Die Bestimmung des Leistungsspektrums anhand der Hauptdiagnosen sei sachgerecht, da diese hauptsächlich für die Veranlassung des stationären Krankenhausaufenthalts verantwortlich seien und das Behandlungsgeschehen prägten. Unabhängig davon fehle es selbst unter Berücksichtigung der Nebendiagnosen und der Fallzahlen in der psychiatrischen Tagesklinik an dem erforderlichen Gesamtspektrum psychiatrischer Erkrankungen.
Hiergegen richtet sich die vom Senat zugelassene Berufung des Klägers, mit der er seine erstinstanzlich vorgetragenen Einwände gegen den Teilwiderruf wiederholt und vertieft.
Der Kläger beantragt,
1. das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 28. Mai 2020 zu ändern und den Bescheid der Ärztekammer Berlin vom 1. Juni 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15. März 2018 aufzuheben,
2. die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren für notwendig zu erklären.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigt im Wesentlichen die erstinstanzliche Entscheidung.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Streitakte sowie den von der Beklagten eingereichten Verwaltungsvorgang (zwei Halbhefter) Bezug genommen.
Die zulässige Berufung des Klägers ist begründet. Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Der angefochtene Bescheid der Ärztekammer Berlin vom 1. Juni 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15. März 2018 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten; er ist daher aufzuheben (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Der Bescheid, mit dem die Weiterbildungsbefugnis des Klägers im Gebiet Psychiatrie und Psychotherapie teilweise - über den Umfang von 36 Monaten hinaus - widerrufen worden ist, beruht nach der zutreffenden Auffassung des Verwaltungsgerichts zwar auf einer wirksamen Rechtsgrundlage (1.) und erweist sich nicht bereits deshalb als rechtswidrig, weil es an einem nachträglichen Entfallen der Erteilungsvoraussetzungen fehlt (2.). Die materiellen Voraussetzungen für den teilweisen Widerruf liegen jedoch nicht vor (3.).
1. Der Teilwiderruf der Weiterbildungsbefugnis des Klägers stützt sich auf § 7 Abs. 1 der Weiterbildungsordnung der Ärztekammer Berlin (WBO) vom 18. Februar und 16. Juni 2004 (ABl. 2006 S. 1297) in der hier zum maßgeblichen Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung geltenden Fassung des 10. Nachtrags vom 11. Juni 2014 (ABl. S. 1869). Danach ist die Befugnis zur Weiterbildung ganz oder teilweise zu widerrufen, wenn ihre Voraussetzungen nicht mehr gegeben sind, insbesondere wenn (soweit hier von Belang) Tatsachen vorliegen, aus denen sich ergibt, dass die in der Weiterbildungsordnung an den Inhalt der Weiterbildung gestellten Anforderungen nicht oder nicht mehr erfüllt sind. Zu Recht ist das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, dass die satzungsrechtliche Regelung auf einer hinreichenden gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage in § 9 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 6 des Gesetzes über die Weiterbildung von Ärzten, Zahnärzten, Tierärzten, Apothekern, Psychologischen Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten (WeiterbildungsG) vom 20. Juli 1978 (GVBl. S. 1493) in der Fassung vom 9. Mai 2016 (GVBl. S. 226) beruht.
Gemäß § 9 Abs. 1 WeiterbildungsG erlassen die Kammern unter Beachtung der Richtlinie 2005/36/EG durch Satzung die Weiterbildungsordnungen, die der Genehmigung der Aufsichtsbehörde bedürfen. Nach § 9 Abs. 2 Nr. 6 WeiterbildungsG werden in den Weiterbildungsordnungen die Voraussetzungen für die Ermächtigung von Kammerangehörigen zur Weiterbildung (§ 5 Abs. 1) geregelt. Die Vorschrift ist nach der überzeugenden erstinstanzlichen Auslegung (Urteilsabschrift S. 5 bis 7), auf die der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen verweist (§ 130b Satz 2 VwGO), umfassend in dem Sinne zu verstehen, dass nicht nur die Voraussetzungen für die Erteilung der Weiterbildungsbefugnis, sondern auch für deren Entziehung in der Weiterbildungsordnung geregelt werden. Regelungen zur Erteilung oder Entziehung der Weiterbildungsbefugnis betreffen lediglich die Freiheit der Berufsausübung (vgl. BVerwG, Beschluss vom 14. Dezember 1988 - 3 B 75.88 - BeckRS 1988, 31244048); bei derartigen Regelungen bestehen keine grundsätzlichen Bedenken, den Berufsverband zur Normgebung zu ermächtigen (vgl. VGH München, Beschluss vom 18. Februar 2014 - 21 ZB 13.1882 - juris Rn. 11). In nicht zu beanstandender Weise hat das Verwaltungsgericht danach auf den weit gefassten Wortlaut der Ermächtigungsgrundlage und das gesetzliche Regelungsprogramm verwiesen. Dieses weist den zuständigen Kammern sowohl die Entscheidung über die Erteilung, den Widerruf und die Rücknahme der Weiterbildungsbefugnis (§ 5 Abs. 1 und 4 WeiterbildungsG) als auch die Aufgabe zu, für die Qualität der Berufsausübung zu sorgen, die berufliche Fort- und Weiterbildung ihrer Berufsangehörigen zu fördern und die Weiterbildung nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften zu regeln (§ 4 Abs. 1 Nr. 3 des zum Zeitpunkt des Teilwiderrufs noch gültigen Berliner Kammergesetzes). Angesichts dieser gesetzlichen Vorgaben ist davon auszugehen, dass sich die Ermächtigung der Kammern nach dem Willen des Gesetzgebers nicht auf die Regelung der Voraussetzungen für die Erteilung der Weiterbildungsbefugnis beschränkt, sondern auch deren Entziehung mit umfasst hat.
2. Der Senat folgt dem erstinstanzlichen Urteil auch insoweit, als das Verwaltungsgericht angenommen hat, dass § 7 Abs. 1 WBO nicht ein nachträgliches Entfallen der Erteilungsvoraussetzungen verlangt (Urteilsabschrift S. 8). Entgegen der Auffassung des Klägers stellt die Vorschrift nicht auf einen Vergleich des Leistungsspektrums der Klinik bei Erteilung der (vollen) Weiterbildungsbefugnis und bei deren teilweisen Widerruf ab. Ebenso wenig bestehen tragfähige Anhaltspunkte für eine von ihm reklamierte Differenzierung zwischen etwaigen Änderungen im Leistungsspektrum („nicht mehr erfüllen können“) und einer Änderung der Weiterbildungsordnung im Sinne neu aufgenommener Weiterbildungsinhalte („nicht erfüllen können“). Maßgeblich ist vielmehr, ob das Leistungs- und Behandlungsspektrum im Zeitpunkt des (Teil-)Widerrufs den inhaltlichen Anforderungen an den konkret in Rede stehenden Befugnisumfang genügt. Insoweit sind die vom Kläger für die Jahre 2015 bis 2017 vorgelegten Behandlungszahlen durchaus als „nachträglich“, d.h. nach Befugniserteilung, eingetretene Tatsachen anzusehen.
3. Der angefochtene Bescheid der Beklagten erweist sich jedoch als rechtswidrig, weil die materiellen Voraussetzungen für den teilweisen Widerruf der Weiterbildungsbefugnis des Klägers nicht vorliegen. Nach dem Vorbringen der Beklagten, die insoweit die Darlegungs- und Beweislast trägt, fehlt es an belastbaren Tatsachen im Sinne des § 7 Abs. 1 WBO, dass die an den Inhalt der Weiterbildung gestellten Anforderungen für einen über 36 Monate hinausgehenden Befugnisumfang nicht erfüllt sind.
a) Nach § 4 Abs. 3 Satz 1 WBO muss die Weiterbildung gründlich und umfassend sein. Für den Umfang der Weiterbildungsbefugnis ist gemäß § 5 Abs. 4 Satz 1 WBO maßgebend, inwieweit die an Inhalt, Ablauf und Zielsetzung der Weiterbildung gestellten Anforderungen durch den befugten Arzt unter Berücksichtigung des Versorgungsauftrags, der Leistungsstatistik sowie der personellen und materiellen Ausstattung der Weiterbildungsstätte erfüllt werden können. Die Zulassung einer stationären Einrichtung als Weiterbildungsstätte setzt voraus, dass Patienten in so ausreichender Zahl und Art behandelt werden, dass der weiterzubildende Arzt die Möglichkeit hat, sich mit den typischen Krankheiten des Gebiets und gebietsspezifischen Schwerpunkts vertraut zu machen (§ 12 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 WeiterbildungsG).
Die näheren Weiterbildungsinhalte für das hier in Rede stehende Gebiet Psychiatrie und Psychotherapie ergeben sich aus § 4 Abs. 4 in Verbindung mit Abschnitt B 27 WBO. Danach umfasst das Gebiet die Vorbeugung, Erkennung und somatotherapeutische, psychotherapeutische sowie sozial-psychiatrische Behandlung und Rehabilitation primärer psychischer Erkrankungen und psychischer Störungen im Zusammenhang mit körperlichen Erkrankungen und toxischen Schädigungen unter Berücksichtigung ihrer psychosozialen Aspekte, psychosomatischen Bezüge und forensischen Aspekte. Das Gebiet gliedert sich in die Weiterbildung zum Facharzt/zur Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie (B 27.1) und den Schwerpunkt Forensische Psychiatrie (B 27.1.1.). Die Weiterbildung zum Facharzt umfasst nach Abschnitt B 27.1 insgesamt 60 Monate, wobei 12 Monate im Gebiet Neurologie abzuleisten sind. Der maximale Befugnisrahmen zur Leitung der Weiterbildung im Gebiet Psychiatrie und Psychotherapie beträgt damit 48 Monate.
b) Im Ansatz zutreffend ist das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, dass eine Weiterbildungsbefugnis im Höchstumfang von 48 Monaten voraussetzt, dass sich der Weiterbildungsinhalt umfassend und vollständig im Behandlungs- und Leistungsspektrum der Klinik abbildet. Dabei ist, was von den Beteiligten nicht in Frage gestellt wird, auf die Diagnosegruppen nach ICD-10 Kapitel F abzustellen (F0 bis F9) und nicht auf die einzelnen Untergruppen (etwa F00 bis F09), da die Hauptgruppen die typischen Krankheiten des Gebiets abbilden. Die Beklagte hat sich zur Beurteilung des Behandlungs- und Leistungsspektrums der Klinik im Zeitpunkt des Teilwiderrufs zudem allein auf die vom Kläger eingereichten Statistiken über die Hauptdiagnosen gestützt (vgl. die vom Vorstand der Ärztekammer beschlossenen „Kriterien für die Erteilung einer Befugnis zur Leitung der Weiterbildung zum Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie“ vom 5. September 2016, sog. Befugniskriterien). Daran hat sie „aus Gründen der Verwaltungspraktikabilität“ auch in der mündlichen Verhandlung festgehalten; nur bei den Hauptdiagnosen könne verlässlich von einer ärztlichen Behandlung ausgegangen werden, bei Nebendiagnosen sei dies nicht der Fall. Das vermag nicht zu überzeugen. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts fehlt es an einer sachgerechten und tragfähigen Begründung für das Vorgehen der Beklagten.
Der Begriff der Hauptdiagnose stammt aus dem stationären Vergütungsrecht. Er dient im Zuge der Einführung eines leistungsorientierten und pauschalierenden Entgeltsystems (sog. Fallpauschalen) der Abrechnung von Krankenhausbehandlungen. Um eine möglichst einheitliche und leistungsgerechte Vergütung der Krankenhäuser sicherzustellen, sind sog. Kodierrichtlinien zur Verschlüsselung von Diagnosen und Leistungen entwickelt worden, in denen auch die Begriffe Haupt- und Nebendiagnose definiert werden. Nach den bereits erstinstanzlich angeführten Deutschen Kodierrichtlinien, Allgemeine und Spezielle Kodierrichtlinien für die Verschlüsselung von Krankheiten und Prozeduren, wird die Hauptdiagnose definiert als die Diagnose, die nach Analyse als diejenige festgestellt wurde, die hauptsächlich für die Veranlassung des stationären Krankenhausaufenthalts des Patienten verantwortlich ist. Der Begriff „nach Analyse“ bezeichnet dabei die Evaluation der Befunde am Ende des stationären Aufenthalts; die nach Analyse festgestellte Hauptdiagnose muss nicht der Aufnahmediagnose oder Einweisungsdiagnose entsprechen (Abschnitt D002). Eine entsprechende Definition enthalten die Deutschen Kodierrichtlinien für die Psychiatrie/Psychosomatik (DKR-Psych), die der pauschalierten Vergütung von Krankenhausleistungen der Psychiatrie und Psychosomatik dienen (Abschnitt PD002). Die Nebendiagnose ist nach beiden Regelwerken definiert als eine Krankheit (bzw. Störung) oder Beschwerde, die entweder gleichzeitig mit der Hauptdiagnose besteht oder sich während des Krankenhausaufenthalts entwickelt. Für Kodierungszwecke müssen Nebendiagnosen als Krankheiten (oder Störungen) interpretiert werden, die das Patientenmanagement in der Weise beeinflussen, dass entweder therapeutische Maßnahmen, diagnostische Maßnahmen oder ein erhöhter Betreuungs-, Pflege- und/oder Überwachungsaufwand erforderlich ist (Abschnitt D003 bzw. PD003).
Ausgehend von den vorstehenden vergütungsrechtlichen Begriffsbestimmungen ist die Beurteilung des weiterbildungsrelevanten Leistungsspektrums allein anhand der Hauptdiagnosen nicht plausibel. Insbesondere hat die Beklagte nicht substantiiert dargelegt, dass sich das den Ärzten in Weiterbildung zu vermittelnde Behandlungsgeschehen in der vergütungsrechtlichen Kategorie der Hauptdiagnosen erschöpft. Der Hinweis, dass Nebendiagnosen - anders als Hauptdiagnosen - nicht verlässlich eine relevante ärztliche Tätigkeit abbildeten, sondern sich auch auf besondere pflegerische Maßnahmen beziehen könnten, genügt dafür nicht. Zwar trifft es zu, dass derartige Maßnahmen die Einstufung als Nebendiagnose rechtfertigen können. Der Einwand der Beklagten geht jedoch daran vorbei, dass Nebendiagnosen das Patientenmanagement definitionsgemäß auch durch therapeutische oder diagnostische Maßnahmen beeinflussen können, keinesfalls nur durch einen erhöhten pflegerischen Aufwand. Er rechtfertigt es daher nicht, allein auf die Hauptdiagnosen abzustellen und die Nebendiagnosen bei der Beurteilung der im Rahmen der Weiterbildung vermittelbaren Diagnostik und Therapie völlig unberücksichtigt zu lassen. Daran vermag auch der von der Beklagten angeführte Gesichtspunkt der Verwaltungspraktikabilität nichts zu ändern; namentlich kann dieser nicht dazu führen, dass das für den Weiterbildungsumfang maßgebliche tatsächliche Behandlungs- und Leistungsspektrum nur unzureichend erfasst wird. Soweit in den Patientenunterlagen regelmäßig dokumentiert sein wird, welche Maßnahmen durch Nebendiagnosen ausgelöst worden sind, wird der Beklagten im Übrigen nichts Unmögliches abverlangt; gegebenenfalls wird sie entsprechende Informationen im Rahmen der Prüfung der Weiterbildungsbefugnis von dem Betroffenen anfordern müssen.
Für die Feststellung, dass im Falle des Klägers das erforderliche Behandlungs- und Leistungsspektrum für einen über 36 Monate hinausgehenden Weiterbildungsumfang nicht vorliegt, fehlt es danach an tragfähigen Anhaltspunkten. Die vom Kläger eingereichte Statistik über die Nebendiagnosen für die Jahre 2015 bis 2017 hat die Beklagte bei ihrem Teilwiderruf nicht berücksichtigt, sondern - wie dargelegt - allein auf die Hauptdiagnosen abgestellt. Dass es selbst unter (teilweiser) Berücksichtigung der Nebendiagnosen an dem erforderlichen Gesamtspektrum psychiatrischer Erkrankungen fehlt, wie vom Verwaltungsgericht angenommen, ist nicht nachvollziehbar dargetan. Nach den eigenen Angaben der Beklagten in der mündlichen Verhandlung stützt sie den teilweisen Widerruf maßgeblich auf die nachgewiesenen Behandlungszahlen zu den weiterbildungsrechtlich wesentlichen Diagnosegruppen F0 und F2, die sie als zu gering erachtet; in eingeschränktem Maße treffe dies auch auf die Diagnosegruppe F6 zu. Die insoweit in Bezug genommenen Berechnungen in ihrem Schriftsatz vom 5. Mai 2022 lassen eine schlüssige Begründung dafür vermissen. Sie lassen nicht erkennen, bei welchen Fallzahlen nach den Vorstellungen der Beklagten von einem unzureichenden Behandlungs- und Leistungsspektrum auszugehen ist. Entsprechende konkrete Vorgaben, die nachvollziehbar darzulegen wären, hat die Beklagte offensichtlich nicht entwickelt; die von ihrem Vorstand erlassenen Befugniskriterien geben dafür jedenfalls nichts her. Unter diesen Umständen ist es zwar im Ansatzpunkt verständlich, wenn die Beklagte eine „ausreichende Anzahl“ von Behandlungsfällen in den einzelnen Diagnosegruppen für erforderlich hält, um auch die jeweiligen Untergruppen sachgerecht abzubilden. Es fehlt jedoch an plausiblen Vorgaben, nach welchen sowohl für den Betroffenen als auch das Gericht nachvollziehbaren Kriterien sich ein für den in Rede stehenden Befugnisumfang ausreichendes Behandlungs- und Leistungsspektrum bestimmen soll.
Der Widerruf der Weiterbildungsbefugnis des Klägers kann entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts schließlich auch nicht mit Erfolg darauf gestützt werden, dass es selbst unter Berücksichtigung der Nebendiagnosen und der Tagesklinik an einer ausreichenden Fallzahl in der Diagnosegruppe F8 fehlt. Die Beklagte hat in der mündlichen Verhandlung eingeräumt, dass nicht alle Diagnosegruppen nach ICD-10 in gleicher Weise weiterbildungsrelevant sind und dementsprechend nicht maßgeblich auf die Diagnosegruppe F8 abgestellt.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Der Ausspruch zur Notwendigkeit der Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren beruht auf § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 1 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 10, § 711 der Zivilprozessordnung.
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keiner der in § 132 Abs. 2 VwGO genannten Gründe vorliegt.