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Beschwerde; Baugenehmigung; Drittanfechtung; anerkannte Naturschutzvereinigung; naturschutzrechtliches Abwägungsgebot; Ermittlungsdefizit; Abwägungsausfall


Metadaten

Gericht OVG Berlin-Brandenburg 3. Senat Entscheidungsdatum 19.01.2023
Aktenzeichen OVG 2 S 47/22 ECLI ECLI:DE:OVGBEBB:2023:0119.OVG2S47.22.00
Dokumententyp Beschluss Verfahrensgang -
Normen § 146 Abs 4 VwGO, § 15 Abs 5 BNatSchG

Tenor

Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 2. November 2021 wird mit Ausnahme der Streitwertfestsetzung geändert.

Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 4. Dezember 2020 in der Fassung des Widerspruchbescheides vom 9. Juni 2021 wird angeordnet.

Die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge trägt der Antragsgegner mit Ausnahme der erstinstanzlichen außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst trägt.

Der Wert des Beschwerdegegenstandes wird auf 3.750,00 EUR festgesetzt.

Gründe

Die zulässige Beschwerde ist begründet. Die von dem Antragsteller dargelegten, nach § 146 Abs. 4 S. 6 VwGO allein maßgeblichen Beschwerdegründe führen zur Änderung der angegriffenen Entscheidung.

Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen den Bescheid des Bezirksamtes Steglitz-Zehlendorf von Berlin vom 4. Dezember 2020, mit dem der Beigeladenen die Baugenehmigung Nr. 2018/2303 für das Bauvorhaben in Berlin-W ..., K ... erteilt worden ist, in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 9. Juni 2021, ist entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts anzuordnen. Bei der nach § 80a Abs. 3 i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmenden Abwägung der widerstreitenden privaten und öffentlichen Interessen überwiegt auf der Grundlage des Beschwerdevorbringens das Aussetzungsinteresse des Antragstellers das Interesse des Antragsgegners und der Beigeladenen an der Aufrechterhaltung der sich aus § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 212a Abs. 1 BauGB ergebenden sofortigen Vollziehung der Baugenehmigung. Denn die dagegen gerichtete Klage des Antragstellers wird bei der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nur möglichen summarischen Prüfung voraussichtlich Erfolg haben.

Der Antragsteller beanstandet zu Recht, dass das Verwaltungsgericht seinen Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gegen die genannte Baugenehmigung abgelehnt hat. In jedem Fall rügt er mit Erfolg, § 15 Abs. 5 BNatSchG sei offenkundig verletzt, weil die gesetzlich geforderte spezifisch naturschutzrechtliche Abwägung ausweislich der Begründung der Baugenehmigung und der nach Einreichen seines Widerspruchs eingesehenen Verwaltungsvorgänge nicht stattgefunden habe.

Nach § 15 Abs. 5 BNatSchG sind bei der Abwägung einerseits die Belange des Naturschutzes und der Landschaftspflege und andererseits alle Anforderungen an Natur und Landschaft sowie andere, für das Vorhaben sprechenden Belange einzustellen. Es handelt sich um eine bipolare Abwägung, bei der den für das Vorhaben streitenden Belangen nicht allgemein das Integritätsinteresse von Natur und Landschaft gegenüberzustellen ist, sondern nur das nach Lage des Falles verbleibende Kompensationsdefizit. Im Rahmen der Abwägung hat die zuständige Behörde die im Einzelfall betroffenen, teilweise gegensätzlichen Belange zu ermitteln, sachgerecht zu gewichten und eine dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechende Entscheidung über die Bevorzugung eines Belangs und damit notwendigerweise die Zurückstellung anderer Belange zu treffen. Es ist in jedem Einzelfall zu prüfen, welche Kompensationsdefizite verbleiben und welche Belange für die Realisierung des Eingriffs streiten (vgl. Guckelberger in Frenz/Müggenborg, Bundesnaturschutzgesetz, Kommentar, 3. Aufl. 2021, § 15 Rn. 105 m.w.N., 108).

Der Senat kann bereits nicht feststellen, dass alle Belange des Naturschutzes hinreichend ermittelt worden sind und eine Abwägung im Sinne von § 15 Abs. 5 BNatSchG stattgefunden hat.

Das Verwaltungsgericht führt hierzu zwar zunächst aus, der Antragsgegner habe die Abwägungsdirektiven vollständig und ihrem rechtlichen Gehalt nach richtig erkannt und keine sachfremden Kriterien einbezogen, vor allem die mit § 15 Abs. 5 BNatSchG verfolgten Zwecke, nämlich einerseits das öffentliche Interesse an der Erhaltung von Natur und Landschaft und andererseits das private Eigentumsinteresse der Beigeladenen erkannt und seiner Entscheidung zugrunde gelegt. Der Antragsgegner habe weiterhin die bei richtigem Verständnis der Abwägungsdirektiven heranzuziehenden Tatsachen zutreffend erfasst und die eingestellten öffentlichen und privaten Belange objektiv zutreffend gewichtet und sie fehlerfrei gegeneinander abgewogen (BA S. 5). Woraus das Verwaltungsgericht diese rein abstrakten Feststellungen herleitet, ist dem angegriffenen Beschluss allerdings nicht zu entnehmen. Der angefochtene Bescheid enthält entsprechende Ausführungen nicht.

Gleiches gilt, soweit das Verwaltungsgericht darüber hinaus ausführt, der Antragsgegner habe fehlerfrei ausweislich der Stellungnahme des Stadtplanungsamtes ferner dem allein verbleibenden und allein in die Abwägung einzustellenden Belang der (nicht ausgleichs- und ersatzfähigen) Bodenversiegelung gegenüber den Eigentümerinteressen aus Art. 14 GG im Hinblick auf das vergleichsweise kleine Kompensationsdefizit ein geringeres Gewicht beigemessen. Einerseits habe sich auf dem Vorhabengrundstück schon seit Jahrzenten eine Ausfluggaststätte befunden und die Bodenfläche sei auch nach Abriss der alten Gebäude noch weitläufig durch Bodenplatten versiegelt und andererseits habe der Antragsgegner eine Bebaubarkeit des Grundstücks allein mit der genehmigten Gaststätte als planungsrechtlich zulässig angesehen (BA S. 5, 6). Zwar sind diese Feststellungen deutlich konkreter gehalten, auch insoweit ist jedoch nicht erkennbar, dass es sich um Erwägungen des Beklagten handelt. Sowohl die Begründung der erteilten Baugenehmigung vom 4. Dezember 2020 als auch die des ablehnenden Widerspruchsbescheides vom 9. Juni 2021 enthalten Ausführungen zur städtebaulichen Vertretbarkeit sowie der planungsrechtlichen Zulässigkeit der beantragten Bebauung und Nutzung. Die in diesem Zusammenhang angeführten Argumente sind jedoch weder identisch noch teilidentisch mit in eine naturschutzfachliche Abwägung einzustellenden Belangen. Bezüglich der Bodenversiegelung ist unter Punkt 2.6 als Bedingung der unteren Naturschutzbehörde lediglich verfügt, dass aufgrund von baubedingten Neuversiegelungen sich gemäß Gutachten ein Kompensationsbedarf für eine Fläche von 675 m² ergebe, eine Flächenentsiegelung entsprechenden Umfangs als Ausgleichsmaßnahme baubedingt auf dem Vorhabengrundstück nicht möglich sei und daher eine - der Höhe nach genannte - Ausgleichsabgabe festgesetzt werde. Darüber hinaus werden nur noch die zu berücksichtigenden Eigentümerinteressen benannt und gewichtet. Soweit das Verwaltungsgericht als Beleg für eine fehlerfreie Abwägung des Antragsgegners die Stellungnahme des Stadtplanungsamtes anführt, rechtfertigt dies keine abweichende Beurteilung. Denn sowohl die im Widerspruchsverfahren abgegebenen Stellungnahmen des Umwelt- und Naturschutzamtes als auch des Stadtplanungsamtes gehen bei Einhaltung der in der Baugenehmigung genannten Auflagen von einer vollständigen Kompensation der Neuversiegelung aus mit der Folge, dass eine Abwägung nicht notwendig wäre. Dies entspricht der Begründung des Widerspruchsbescheides. Auch der Umstand, dass das Eingriffs- und Ausgleichsgutachten zum Bauvorhaben K ... ... _ Straße 2 ... ... _ des Büros Dr. S ... _ in der Fassung vom 30. September 2020 Bestandteil der Baugenehmigung ist, führt zu keinem anderen Ergebnis. Dabei kann offenbleiben, ob das genannte - grün gestempelte - Gutachten in jeder Hinsicht naturschutzfachlichen Anforderungen genügt. Ferner fehlen unter dem Punkt Bestandserfassung und Bewertung bezüglich des Schutzgutes Boden die Seiten 7 und 8. Unabhängig davon erfolgt bei der Betrachtung der Versiegelung ein rein flächenmäßiger, rechnerischer Vergleich zwischen Alt- und Neuversiegelung. Für die gebotene Bewertung und Gewichtung des Belangs wäre jedoch im Rahmen der naturschutzrechtlichen Abwägung in jedem Falle die Bodenart der betroffenen Flächen zu ermitteln und zu berücksichtigen gewesen. Hinzu kommt, dass das Gutachten zu dem Ergebnis gelangt, im Plangebiet stehe keine weitere Entsiegelungsfläche zur Verfügung, sodass zunächst eine nicht kompensierte Neuversiegelung von 675 m² verbleibe, und anschließend ausführt, im „Rahmen des weiteren Baugenehmigungsverfahrens wird durch die Baubehörde bzw. das Umwelt- und Naturschutzamt S ... ... _ geprüft, ob und in welchem Umfang dieses rechnerische Defizit bewältigt ist (z.B. durch positive Anrechnung der geplanten Baumpflanzungen und sonstigen Begrünungen als multifunktionaler Ausgleich mit Aufwertung der Bodenfunktionen)“. Diese vom Gutachten vorgegebene und für notwendig erachtete Prüfung ist - soweit ersichtlich - nicht erfolgt. Angesichts dieses Ergebnisses kann offenbleiben, ob die Behörde bei der Entscheidung nach § 15 Abs. 5 BNatSchG voller gerichtlicher Überprüfung unterliegt.

Ob die angegriffene Baugenehmigung weitere Mängel aufweist, bedarf keiner Entscheidung, da es sich bei der Abwägung nach § 15 Abs. 5 BNatSchG um eine zwingende naturschutzrechtliche Anforderung des Baugenehmigungsverfahrens handelt (vgl. P. Fischer-Hüftle/A. Schumacher, Bundesnaturschutzgesetz, Kommentar, 3. Aufl 2021, § 15 Rn. 128; P. Fischer-Hüftle, a.a.O., § 13 Rn. 7). Ein Eingriff darf erst zugelassen werden, wenn nach einer Abwägung aller Anforderungen an Natur und Landschaft feststeht, dass die Belange des Naturschutzes und der Landschaftspflege anderen Belangen nicht im Range vorgehen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1, § 162 Abs. 3 VwGO. Die Streitwertfestsetzung folgt der von den Beteiligten nicht angegriffenen erstinstanzlichen Festsetzung und beruht auf § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).