Gericht | OVG Berlin-Brandenburg 12. Senat | Entscheidungsdatum | 05.11.2020 | |
---|---|---|---|---|
Aktenzeichen | OVG 12 B 10.19 | ECLI | ECLI:DE:OVGBEBB:2020:1105.OVG12B10.19.00 | |
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 5 Abs 1 Nr 1 AufenthG, § 27 AufenthG, § 29 Aufenthg, § 30 AufenthG, § 26 Abs 2 BeschV, Art 3 Abs 1 EGRL 2003/86 |
Zum maßgeblichen Zeitraum für die Prognose der Sicherung des Lebensunterhalts nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG in Fällen des Ehegattennachzugs zur Inhaberin einer befristeten Aufenthaltserlaubnis zum Zweck der Erwerbstätigkeit.
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens, mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst trägt.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 v.H. des aus dem Urteil vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des jeweiligen Vollstreckungsbetrages leistet.
Die Revision wird zugelassen.
Der Kläger begehrt die Verpflichtung der Beklagten zur Erteilung eines Visums zum Ehegattennachzug.
Der Kläger und seine Ehefrau sind beide 1962 geboren und besitzen die Staatsangehörigkeit von Bosnien und Herzegowina. Sie sind seit 1985 miteinander verheiratet. Die Ehefrau des Klägers reiste im Jahr 2016 mit einem nationalen Visum zum Zweck der Erwerbstätigkeit in das Bundesgebiet ein, die Beigeladene erteilte ihr im Anschluss daran – jeweils mit Zustimmung des Jobcenters – eine entsprechende Aufenthaltserlaubnis, derzeit befristet bis zum 13. Mai 2022.
Seit September 2016 ist sie im Umfang von 19,25 Wochenstunden bei der K...gGmbH in München beschäftigt und bezieht hieraus ein durchschnittliches Monatseinkommen i. H. v. 1.384,27 Euro brutto bzw. 1.056,15 Euro netto (1. Halbjahr 2020). Seit Februar 2017 ist die Ehefrau des Klägers zudem im Umfang von 40 Stunden pro Monat bei der I...GmbH in München beschäftigt. Hieraus bezieht sie ein Monatseinkommen i. H. v. 450 Euro brutto bzw. 383,05 Euro netto (1. Halbjahr 2020). Darüber hinaus ist sie seit Januar 2017 im Umfang von 10 Stunden pro Woche für Herrn J...tätig sowie im Umfang von 14 Stunden pro Monat für Herrn P... . Aus erstgenannter Tätigkeit erzielt sie ein Monatseinkommen i. H. v. 600 Euro brutto bzw. 412,49 Euro netto, aus letzterer ein solches von 210 Euro brutto bzw. 146,38 netto (jeweils 1. Halbjahr 2020). Die durchschnittliche Wochenarbeitszeit der Ehefrau des Klägers beläuft sich damit auf ca. 41,71 Stunden. Ihr monatliches Einkommen beträgt 2.644,27 Euro brutto bzw. nach Abzug von Steuern (der Steuerklassen 4 und 6) und Sozialversicherungsabgaben 1.998,07 Euro netto. Sie bewohnt eine 35 Quadratmeter große Wohnung in München und entrichtet hierfür einen monatlichen Mietzins i. H. v. 529 Euro netto-kalt bzw. 589 Euro brutto-warm.
Der Kläger beantragte am 11. August 2017 die Erteilung eines nationalen Visums zum Ehegattennachzug und legte hierbei ein Sprachzertifikat des Goetheinstituts vom 21. Juni 2017 vor, nach dem er die Sprachprüfung A1 mit der Note sehr gut bestanden hat. Mit Bescheid der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Sarajewo vom 3. Januar 2018 lehnte die Beklagte den Antrag mit der Begründung ab, im Hinblick auf das Alter und die voraussichtlich zu erwartenden Rentenansprüche des Klägers und seiner Ehefrau sei der Lebensunterhalt des Klägers nicht dauerhaft gesichert.
Auf die Remonstration des Klägers hin hob die Botschaft mit Remonstrationsbescheid vom 8. August 2018 den Ablehnungsbescheid auf, hielt in der Sache indessen an der Ablehnung des Visumantrags fest.
Der hiergegen vom Kläger am 29. August 2018 erhobenen Klage hat das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 13. Mai 2019 stattgegeben und die Beklagte zur Erteilung des beantragten Visums verpflichtet. Die sich aus § 6 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. § 30 AufenthG ergebenden Voraussetzungen für die Erteilung eines Visums zum Ehegattennachzug seien unstreitig erfüllt. Entgegen der Beklagten und der Beigeladenen sei auch die allgemeine Regelerteilungsvoraussetzung der Sicherung des Lebensunterhalts gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. § 2 Abs. 3 AufenthG gegeben. Dass die gegenwärtigen Einkünfte der Ehefrau des Klägers ausreichend seien, um den Bedarf beider Eheleute zu decken, werde von der Beklagten und der Beigeladenen nicht in Abrede gestellt. Für die nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG anzustellende Prognose einer zukünftigen Sicherung des Lebensunterhalts sei, insbesondere auch unter Berücksichtigung der Familienzusammenführungsrichtlinie, allein auf die Dauer des voraussichtlichen Aufenthalts abzustellen, aufgrund der Akzessorietät der Aufenthaltserlaubnis zum Ehegattennachzug also auf das Aufenthaltsrecht des bereits im Bundesgebiet lebenden Ehegatten. Danach sei davon auszugehen, dass der Lebensunterhalt der aus dem Kläger und seiner Ehefrau bestehenden Bedarfsgemeinschaft bis zum 13. Mai 2022, dem Ablauf der Geltungsdauer der Aufenthaltserlaubnis der Ehefrau des Klägers, gesichert sei. Ob sich daran mit dem Eintritt der Eheleute ins Rentenalter etwas ändere, sei unerheblich.
Hiergegen wendet sich die Beklagte mit ihrer fristgerecht eingelegten und begründeten Berufung.
Sie meint, die Erteilungsvoraussetzung der Sicherung des Lebensunterhalts erfordere eine langfristige Prognose, die trotz der Akzessorietät der Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug nicht lediglich auf den Zeitraum der Gültigkeit der Aufenthaltserlaubnis der den Nachzug vermittelnden Referenzperson bezogen werden dürfe. Der Gesetzgeber habe vielmehr bereits in der Vergangenheit für Selbständige ab dem 46. Lebensjahr in § 21 Abs. 3 AufenthG das Erfordernis einer angemessenen Altersversorgung aufgestellt. Trotz des anerkannten staatlichen Interesses an der Einwanderung von Fachkräften und von Beschäftigten im Niedriglohnsektor habe er nunmehr mit § 18 Abs. 2 Nr. 5 AufenthG und § 1 Abs. 2 BeschV dem Erfordernis der Lebensunterhaltssicherung im Rentenalter auch für diese Personenkreise Rechnung getragen und damit zum Ausdruck gebracht, dass die Prognoseentscheidung der Lebensunterhaltssicherung die Frage einer angemessenen Altersversorgung berücksichtigen dürfe.
Der Kläger und seine Ehefrau hätten gegenüber der Beklagten bzw. der Beigeladenen die Absicht geäußert, dauerhaft in Deutschland zu leben. Ihr nunmehr geäußerter Einwand, es sei beabsichtigt, im Rentenalter in das gemeinsame Herkunftsland zurückzukehren, erscheine daher als verfahrensangepasst. Die Rentenansprüche, die der Kläger und seine Ehefrau bislang erworben haben und voraussichtlich bis zum Erreichen des Rentenalters noch erwerben würden, genügten für eine dauerhafte Sicherung des Lebensunterhalts nicht. Ob im Falle fehlender Unterhaltssicherung tatsächlich eine ggf. entstehende Ausreisepflicht vollstreckt werden könne, sei ungewiss. Im Übrigen stünde eine fehlende Sicherung des Lebensunterhalts des Klägers der Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis nach § 30 Abs. 3 AufenthG nicht mehr zwingend entgegen.
Anhaltspunkte für ein Absehen von der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG seien nicht gegeben. Der Kläger könne seine Ehefrau visumfrei besuchen. Es sei den Eheleuten zumutbar, gemeinsam im Herkunftsland zu leben.
Die Beklagte beantragt sinngemäß,
das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 13. Mai 2019 – VG 11 K 397.18 V – zu ändern und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
die Berufung zurückzuweisen.
Er verteidigt das angefochtene Urteil.
Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt und sich im Berufungsverfahren nicht geäußert.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Streitakte sowie auf die den Kläger und seine Ehefrau betreffenden Verwaltungsvorgänge der Beklagten und der Beigeladenen Bezug genommen, die vorgelegen haben und, soweit wesentlich, Gegenstand der Entscheidung des Senats gewesen sind.
Gemäß § 125 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 101 Abs. 2 VwGO kann der Senat ohne mündliche Verhandlung entscheiden, nachdem die Beteiligten ihr Einverständnis hiermit erklärt haben.
Die Berufung der Beklagten ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat der Klage zu Recht stattgegeben. Die Ablehnung des vom Kläger begehrten Visums zum Ehegattennachzug ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 5 Satz 1 AufenthG.
Gemäß § 6 Abs. 3 Satz 2 des Aufenthaltsgesetzes (i. d. F. der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 [BGBl. I S. 162], zuletzt geändert durch Gesetz vom 19. Juni 2020 [BGBl. I S. 1328] – AufenthG), richtet sich die Erteilung des vom Kläger begehrten Visums zum Familiennachzug zu seiner im Bundesgebiet lebenden Ehefrau nach den für die Aufenthaltserlaubnis geltenden Vorschriften.
1. Dass der Kläger die besonderen Voraussetzungen der §§ 27, 29 Abs. 1 und 30 Abs. 1 AufenthG erfüllt, steht zwischen den Beteiligten nicht im Streit: Er beabsichtigt die Herstellung und Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft mit seiner Ehefrau (§ 27 Abs. 1 AufenthG). Diese besitzt eine Aufenthaltserlaubnis (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG) zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit nach dem dritten Abschnitt des Aufenthaltsgesetzes, die ihr für einen beabsichtigten mehrjährigen Aufenthalt erteilt wurde, während die Ehe mit dem Kläger bereits bestand (§ 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Buchst. e AufenthG). Beide Ehegatten haben das 18. Lebensjahr vollendet (§ 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG). Der Kläger kann sich zumindest auf einfache Art in deutscher Sprache verständigen (§ 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 i. V. m. § 2 Abs. 9 AufenthG). Ausreichender Wohnraum steht zur Verfügung (§ 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG).
2. Entgegen der Beklagten und der Beigeladenen erfüllt der Kläger auch die allgemeine Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG. Danach setzt die Erteilung eines Aufenthaltstitels in der Regel voraus, dass der Lebensunterhalt gesichert ist. Dies ist gemäß § 2 Abs. 3 Satz 1 AufenthG der Fall, wenn der Ausländer ihn einschließlich ausreichenden Krankenversicherungsschutzes ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel (mit Ausnahme der in Satz 2 der Norm genannten) bestreiten kann. Maßgeblich ist nicht der tatsächliche Bezug öffentlicher Mittel, sondern allein, ob der Ausländer über hinreichende Mittel verfügt, die einen solchen Anspruch ausschließen (st. Rspr., etwa BVerwG, Urteil vom 26. August 2008 – 1 C 32.07 – BVerwGE 131, 370, juris Rn. 21).
a) Die Ermittlung des zur Verfügung stehenden Einkommens und der Unterhaltsbedarf richten sich bei erwerbsfähigen Ausländern und Personen, die mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft leben, grundsätzlich nach den entsprechenden Regelungen des Sozialgesetzbuchs Zweites Buch (SGB II). Innerhalb einer Bedarfsgemeinschaft, deren gesamter Bedarf nicht aus eigenen Kräften und Mitteln gedeckt wird, gilt jede Person im Verhältnis des eigenen Bedarfs zum Gesamtbedarf als hilfebedürftig (§ 9 Abs. 2 Satz 3 SGB II) und hat im Regelfall einen Leistungsanspruch in Höhe dieses Anteils. Daher ist der Lebensunterhalt des Ausländers in der Regel nicht gesichert, wenn der Gesamtbedarf der Bedarfsgemeinschaft, deren Mitglied er ist, nicht durch eigene Mittel bestritten werden kann (BVerwG, Urteil vom 29. November 2012 – 10 C 4.12 – BVerwGE 145, 153, juris Rn. 25 ff.).
Für die Berechnung des zur Verfügung stehenden Einkommens sind von dem gemäß § 11 Abs. 1 SGB II zu ermittelnden Bruttoeinkommen die in § 11b SGB II genannten Beträge abzuziehen. Im Anwendungsbereich der Familienzusammenführungsrichtlinie (Richtlinie 2003/86/EG) gebietet es allerdings der Anwendungsvorrang des Unionsrechts, bei der Einkommensberechnung den Freibetrag für Erwerbstätigkeit nach § 11b Abs. 1 Satz 1 Nr. 6, Abs. 3 SGB II nicht zu Lasten des nachzugswilligen Ausländers abzusetzen und hinsichtlich des in § 11b Abs. 2 Satz 1 SGB II pauschaliert erfassten Werbungskostenabzugs den Nachweis geringerer Aufwendungen als die gesetzlich veranschlagten 100 € zuzulassen (BVerwG, a. a. O. Rn. 31 ff. m.w.N.). Hiervon ist die Beigeladene bei der von ihr durchgeführten Einkommensberechnung ausgegangen.
Der Senat lässt offen, ob der Anwendungsbereich der Familienzusammenführungsrichtlinie hier eröffnet ist. Dies ist nach ihrem Art. 3 Abs. 1 nur der Fall, sofern der Zusammenführende im Besitz eines nationalen Aufenthaltstitels mit mindestens einjähriger Gültigkeit ist und begründete Aussicht darauf hat, ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht zu erlangen. Eine derartige Aussicht besteht jedenfalls nicht bei dem Personenkreis des Art. 3 Abs. 2 Buchst. e der Richtlinie 2003/109/EG betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (vgl. Dienelt, in: Bergmann/Dienelt, AuslR, 13. Aufl., § 27 Rn. 32). Zu diesem Personenkreis (Au-pair, Saisonarbeiter etc.) gehört die Ehefrau des Klägers nicht. Nach den Leitlinien der Europäischen Kommission zur Anwendung der Familienzusammenführungsrichtlinie vom 3. April 2014 <COM(2014) 210 final> erfordert die Annahme einer „begründeten Aussicht“ eine positive Prognose in Bezug auf die Wahrscheinlichkeit, dass der Zusammenführende die Kriterien für den langfristigen Aufenthalt erfüllen wird, dass also der Aufenthaltstitel nach innerstaatlichem Recht über die für einen ständigen Aufenthalt erforderliche Frist hinaus verlängert werden kann und auch die sonstigen Bedingungen für den Erhalt des Daueraufenthaltsrechts wahrscheinlich erfüllt sein werden (a. a. O. S. 4). Zwar wird die Ehefrau des Klägers zum Zeitpunkt des Ablaufs der Gültigkeit ihrer derzeitigen Aufenthaltserlaubnis im Mai 2022 die Mindestaufenthaltsdauer von fünf Jahren für einen dauerhaften Aufenthaltstitel erfüllen (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und § 9a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG). Ob sie dann auch über die weiteren Voraussetzungen für die Erlangung eines unbefristeten Aufenthaltsrechts verfügen wird, namentlich über eine dauerhafte Lebensunterhaltssicherung, lässt sich derzeit aber nicht verlässlich prognostizieren.
Die Anwendung der Familienzusammenführungsrichtlinie könnte allenfalls zu einer Verbesserung der Rechtsstellung des Klägers führen, nicht auch zu einer Verschlechterung (vgl. Art. 3 Abs. 5 RL 2003/86/EG), so dass es einer abschließenden Entscheidung über ihre Anwendbarkeit und die daraus resultierenden Folgen für die Prognose der Unterhaltssicherung (vgl. hierzu die Stellungnahme des Generalanwalts Mengozzi im Verfahren C-558/14 vom 23. Dezember 2015, insbes. auch die Fn. 17 und 18) nicht bedarf. Denn der Kläger erfüllt auch ungeachtet etwaiger Vergünstigungen aus der Richtlinie die Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG.
Die Bedarfsberechnung bestimmt sich grundsätzlich nach § 19 Abs. 1 Satz 3 SGB II; danach umfassen die Leistungen des Arbeitslosengelds II den Regelbedarf, die Mehrbedarfe sowie den Bedarf für Unterkunft und Heizung. Aufenthaltsrechtlich nicht anzusetzen sind die in § 28 SGB II enthaltenen Bedarfe für Bildung und Teilhabe (BVerwG, Urteil vom 29. November 2012, a. a. O. Rn. 28). Mehrbedarfe stehen vorliegend aber ohnehin nicht im Raum.
Der Kläger und seine Ehefrau verfügen derzeit über ein anrechenbares monatliches Brutto-Einkommen aus Erwerbstätigkeit i. H. v. 2.644,27 Euro brutto. Daraus folgt nach Abzug von Steuern und Sozialversicherungsabgaben ein monatliches Netto-Einkommen i. H. v. 1.998,07 Euro, welches sich jedoch nach einem Wechsel der Steuerklasse infolge des Nachzugs des Klägers noch erhöhen könnte. Mangels gegenteiliger Anhaltspunkte für höhere Ausgaben ist hiervon der Pauschalbetrag von 100 Euro in Abzug zu bringen (§ 11b Abs. 2 Satz 1 SGB II). Abzuziehen ist ferner für den hier zu unterstellenden Fall, dass die Familienzusammenführungsrichtlinie nicht einschlägig ist, der Freibetrag für Erwerbstätige nach § 11b Abs. 3 Satz 1 AufenthG i. H. v. 200 Euro, womit die Bedarfsgemeinschaft des Klägers und seiner Ehefrau im Falle des Nachzugs des Klägers derzeit über ein anrechenbares Einkommen i. H. v. monatlich (zumindest) 1.798,07 Euro verfügen würde.
Dem stünde ein monatlicher Regelbedarf i. H. v. jeweils 389 Euro pro Person zuzüglich der Unterkunftskosten i. H. v. 589 Euro brutto-warm gegenüber, mithin ein Gesamtbedarf i. H. v. 1.367 Euro. Das derzeitige anrechenbare Einkommen übersteigt damit den sozialhilferechtlichen Bedarf der Bedarfsgemeinschaft um mindestens 431,07 Euro.
b) Abzustellen ist für die nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG anzustellende Prognose nicht nur auf das aktuell erzielte Einkommen und vorhandene Vermögen. Erforderlich ist vielmehr, dass die zur Verfügung stehenden Mittel eine gewisse Nachhaltigkeit aufweisen (BVerwG, Urteil vom 7. April 2009 – 1 C 17.08 – BVerwGE 133, 329, juris Rn. 33) und die Prognose rechtfertigen, dass der Lebensunterhalt des Ausländers in Zukunft auf Dauer ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel gesichert ist (BVerwG, Urteil vom 18. April 2013 – 10 C 10.12 – BVerwGE 146, 198, juris Rn. 24).
aa) Die Ehefrau des Klägers nimmt die von ihr ausgeübten Beschäftigungen bereits seit 2016 bzw. Anfang 2017 in unbefristeter und ungekündigter Anstellung wahr. Selbst wenn man die von der Beigeladenen im Verwaltungsverfahren geäußerten Zweifel teilen und annehmen wollte, es sei ungewiss, ob die Ehefrau des Klägers dauerhaft der derzeitigen Arbeitsbelastung standhalten könne, wäre auch bei einer Aufgabe der für Herrn B... ausgeübten Teilzeitbeschäftigung noch von einer Sicherung des Lebensunterhalts auszugehen, wodurch sich ihre Arbeitsbelastung um 10 Wochenstunden verringern würde. Der Umstand, dass der Kläger und seine Ehefrau bei ihren früheren Aufenthalten in Deutschland vor dem Jahr 2000 nur für begrenzte Zeiträume berufstätig waren, lässt für sich noch nicht erwarten, dass die Ehefrau des Klägers nach dessen Einreise ihre nunmehr seit geraumer Zeit ausgeübten Berufstätigkeiten einstellen und auch der Kläger selbst keiner Tätigkeit nachgehen wird.
bb) Der Umstand, dass die zukünftig zu erwartenden Rentenansprüche des Klägers und seiner Ehefrau voraussichtlich nicht ausreichen werden, ihren sozialhilferechtlichen Bedarf im Bundesgebiet zu decken, steht, wie das Verwaltungsgericht zutreffend angenommen hat, einer positiven Prognose der Lebensunterhaltssicherung für die begehrte Aufenthaltserlaubnis nicht entgegen.
Zuzugeben ist der Beklagten und der Beigeladenen, dass für die positive Prognose der dauerhaften Unterhaltssicherung einer Person, die sich bereits im Rentenalter befindet oder demnächst befinden wird, maßgeblich ist, ob sie ihren Lebensunterhalt aus hinreichenden Ansprüchen aus einer Altersversorgung bestreiten kann oder ob sie notfalls über sonstiges Einkommen oder Vermögen verfügt, welches nicht von der fortbestehenden Möglichkeit der Erwerbstätigkeit abhängt (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 25. Februar 2016 – 11 S 8.16 – juris Rn. 4; OVG Hamburg, Beschluss vom 2. März 2018 – 1 Bs 264/17 – juris Rn. 13). In einer solchen Situation befinden sich der Kläger und seine Ehefrau jedoch nicht, die 1962 geboren sind und mithin einen Anspruch auf Grundsicherung im Alter erst im Alter von 66 Jahren und 8 Monaten erlangen könnten (§ 41 Abs. 2 SGB XII).
Maßgeblich für die anzustellende Prognose ist der Zeitraum des voraussichtlichen Aufenthalts (vgl. Samel, in: Bergmann/Dienelt, AuslR, 13. Aufl., § 5 Rn. 29). Ob, wie das Verwaltungsgericht wohl meint, der Prognosezeitraum damit stets auf die Dauer der konkret begehrten Aufenthaltserlaubnis beschränkt ist, hier infolge der Akzessorietät der begehrten Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug (§ 27 Abs. 4 Satz 1 AufenthG) also auf den Zeitraum bis zum 13. Mai 2022, bedarf keiner abschließenden Entscheidung. Etwas anderes könnte etwa in Fällen gelten, in denen bereits absehbar ist, dass im Falle der Erteilung der streitgegenständlichen Aufenthaltserlaubnis nach Ablauf ihrer Gültigkeit aus Rechtsgründen – ungeachtet einer Unterhaltssicherung – eine weitere Erlaubnis erteilt werden müsste, eine Rückführung des Ausländers nach Ablauf der Gültigkeit des Aufenthaltstitels also nicht möglich sein wird. Hierfür bestehen indes keine Anhaltspunkte. Eine Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis der Ehefrau des Klägers über den 13. Mai 2022 hinaus oder gar die Erteilung eines unbefristeten Aufenthaltstitels würde eine wiederum auf die Dauer des dann beabsichtigten Aufenthalts bezogene Prognose der Einkommenssicherung voraussetzen (§ 5 Abs. 1 Nr. 1, § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, § 9a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG). Zwar kann die Aufenthaltserlaubnis zum Ehegattennachzug gemäß § 30 Abs. 3 AufenthG im Wege des Ermessens abweichend von § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG verlängert werden. Für eine dem Kläger günstige Reduzierung des der Beigeladenen eingeräumten Ermessens ist jedoch nichts ersichtlich. Die fehlende Fähigkeit der Unterhaltssicherung ist auch bei Alter und Krankheit ein Grund, einen Aufenthaltstitel nicht zu erteilen (vgl. etwa OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 21. Mai 2012 – 2 B 8.11 – juris Rn. 24 m.w.N.) oder zu verlängern; auf ein Verschulden des Ausländers kommt es hierbei nicht an. Hinzukommt vorliegend, dass der Kläger die Aufenthaltserlaubnis in Kenntnis der Notwendigkeit dauerhafter Unterhaltssicherung erstrebt und selbst angibt, spätestens mit Beginn des Rentenbezugs in seine Heimat zurückkehren zu wollen. Schützenswertes Vertrauen auf eine spätere Aufenthaltsgewährung ohne ausreichende Unterhaltssicherung kann er daher nicht bilden.
Auch die der Einführung des § 18 Abs. 2 Nr. 5 AufenthG und des § 1 Abs. 2 BeschV durch das Fachkräfteeinwanderungsgesetz vom 15. August 2019 (BGBl. I S. 1307) zugrunde liegende Konzeption, sicherzustellen, dass ältere Ausländer, die zum Zweck der Beschäftigung einreisen, bei Erreichen der Altersgrenze über eine auskömmliche Lebensunterhaltssicherung verfügen (Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Inneres und Heimat, BT-Drs. 19/10714 S. 22), rechtfertigt nicht, die in den genannten Regelungen aufgestellten Anforderungen auf die für den Familiennachzug erforderliche Prognose der Unterhaltssicherung zu übertragen. Der Gesetzgeber hat eine so weitgehende Regelung für die nachziehenden Angehörigen bereits im Bundesgebiet tätiger Arbeitnehmer nicht getroffen, sondern die allgemeine Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG unverändert gelassen und auch für diesen Personenkreis nicht verschärft.
Dass bis zum Ablauf des Mai 2022 ein positive Prognose der Unterhaltssicherung gerechtfertigt ist, bestreiten die Beklagte und die Beigeladene nicht. Die bloße Möglichkeit, dass der Lebensunterhalt künftig einmal nicht mehr gesichert sein könnte, steht einer positiven Prognose nicht entgegen (vgl. OVG Bremen, Beschluss vom 15. Oktober 2010 – 1 B 172/10 – juris Rn. 15).
Ob die Aufenthaltserlaubnis der Ehefrau und infolge dessen auch diejenige des Klägers über diesen Zeitpunkt hinaus verlängert werden kann, ist im Übrigen ungewiss. Die Regelung des § 26 Abs. 2 BeschVO, die Grundlage der bisherigen Aufenthaltserlaubnis der Ehefrau des Klägers ist, erlaubt nur eine Zustimmung zur Ausübung einer unqualifizierten Beschäftigung bis einschließlich 2020. Ob und mit welchen Maßgaben die Gültigkeit dieser Regelung noch verlängert werden wird, lässt sich nicht absehen (vgl. hierzu den Entwurf der Sechsten Verordnung zur Änderung der Beschäftigungsverordnung vom 27. August 2020, BR-Drs. 490/20).
c) Der Ausländer hat ausreichenden Krankenversicherungsschutz, wenn er in einer gesetzlichen Krankenversicherung krankenversichert ist, § 2 Abs. 3 Satz 3 AufenthG. In Fällen der Visumerteilung ist ausreichend, wenn der Ausländer diese Voraussetzung nach der Einreise erfüllen kann und wird (BVerwG, Urteil vom 18. April 2013 a. a. O. Rn. 17).
Die Ehefrau des Klägers ist ausweislich der Verdienstabrechnung der H...gGmbH in der S... Betriebskrankenkasse krankenversichert. Der Kläger hat gemäß § 10 Abs. 1 SGB V die Möglichkeit, als Ehegatte kostenlos an der Familienversicherung teilzunehmen, solange er nicht über eigenes Erwerbseinkommen verfügt und eigenständigen Krankenversicherungsschutz begründen kann (vgl. https://www.s... .org/versicherung-tarife/familienversicherung; lt. Aufruf am 9. Oktober 2020).
d) Der Kläger besitzt einen gültigen Pass seines Herkunftsstaates; für ein staatliches Ausweisungsinteresse ist nichts vorgetragen oder ersichtlich (§ 5 Abs. 1 Nr. 2 und 4 AufenthG).
Mithin sind sämtliche Voraussetzungen für die Erteilung des begehrten Visums erfüllt. Die Beklagte ist verpflichtet, dem Kläger das Visum zu erteilen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 und § 162 Abs. 3 VwGO. Da die Beigeladene sich keinem Kostenrisiko ausgesetzt hat (§ 154 Abs. 3 VwGO), entspricht es der Billigkeit, dass sie ihre außergerichtlichen Kosten selbst trägt. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 10, § 711 ZPO.
Die Revision ist nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zuzulassen, weil die Frage, auf welchen Zeitraum die Prognose der Lebensunterhaltssicherung in Fällen wie dem hiesigen zu beziehen ist, grundsätzliche Bedeutung hat.