Gericht | VG Cottbus 5. Kammer | Entscheidungsdatum | 29.11.2022 | |
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Aktenzeichen | 5 K 328/20.A | ECLI | ECLI:DE:VGCOTTB:2022:1129.5K328.20.A.00 | |
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen |
- Einer Familie mit drei Kindern droht in Italien kein Verstoß gegen Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 EU-GR-Charta (Anschluss an VG Würzburg, Urteil vom 10. Juni 2022 - WB W 8 K 22.50113 - und an OVG Sachsen, Urteil vom 22. Mai 2022 - 4 A 389/20.A -)
- Mangels Voraufenthalte in einem Zweitaufnahmesystem ist die wirtschaftliche Existenz für voraussichtlich anderthalb Jahre gesichert.
- Zur Rückkehrprognose bei im Inland gegründeter Familie (Anschluss OVG Lüneburg, Urteil vom 14. März 2022 - 4 LB 20/19 -)
Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
Wegen der Kosten ist das Urteil vorläufig vollstreckbar. Der Klägerin wird nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des sich aus dem Kostenfestsetzungsbeschluss ergebenden Betrages abzuwenden, wenn nicht die Beklagte zuvor Sicherheit in Höhe des jeweils beizutreibenden Betrages leistet.
Die Klägerin, eigenen Angaben zu Folge am 28. Oktober 1990 geborene, nigerianische Staatsangehörige, wendet sich gegen die Ablehnung ihres Asylantrages als unzulässig und gegen die Abschiebungsandrohung nach Italien.
Nachdem sie in Italien am 4. November 2014 einen Asylantrag gestellt und in der Folgezeit internationalen Schutz in Form des subsidiären Schutzes erhalten hatte, reiste sie am 26. November 2017 ins Bundesgebiet ein und stellte am 4. Dezember 2017 abermals einen Asylantrag.
Bei der Anhörung zur Zulässigkeit ihres Asylantrages gab die Klägerin vor dem Bundesamt an, dass sie sich in Italien in einer privaten Unterkunft bei einer Freundin in Rom aufgehalten habe. In der persönlichen Anhörung am 8. Dezember 2017 gab sie an, dass ihr sämtliche Dokumente gestohlen worden seien. In Italien sei ihr Antrag zunächst abgelehnt worden. Mit anwaltlicher Hilfe habe sie Klage erhoben und eine Anerkennung erstritten. Dann habe sie einen Aufenthaltsstatus für fünf Jahre bekommen. Nach der Ankunft in Italien habe sie zunächst bei einer Freundin gewohnt, die ebenfalls aus Nigeria gekommen sei. Dann sei sie zu ihrem Freund gezogen. Nachdem ihr Freund erfahren habe, dass sie von ihm schwanger sei, sei er ausgezogen. Der Monate nach seinem Auszug habe die Vermieterin von ihr eine Miete verlangt, woraufhin sie sich entschlossen habe, nach Deutschland auszureisen. In Italien sei ihr nichts zugestoßen.
Unter dem 27. Dezember 2017 lehnte das Bundesamt gestützt auf die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 den Asylantrag als unzulässig ab und ordnete die Abschiebung nach Italien an.
Am 21. Mai 2018 brachte die Klägerin einen Sohn, das Kind G..., zur Welt.
Unter dem 13. August 2018 hob das Bundesamt seinen Bescheid vom 27. Dezember 2017 wegen Ablaufs der Überstellungsfrist auf.
Auf Grund eines Treffers in der VIS-Datei änderte das Bundesamt die Personalia der Klägerin in D..., geb. am 12. März 1986 in M..., mit Staatsangehörigkeit senegalesisch.
Am 26. November 2018 wurde die Klägerin vor dem Bundesamt erneut angehört. Dort gab sie an, dass die von ihr bisher behauptete Identität zutreffend sei. Bei der Visumsbeantragung sei offenbar eine andere Identität angegeben worden. Sie habe sich vor der Weiterreise nach Italien mehrere Monate lang im Senegal aufgehalten. In Italien sei sie unter dem falschen Namen aus dem Pass registriert worden. Die Frau, die sie nach Italien gebracht habe, habe für sie ein Zimmer in Italien angemietet und von der Klägerin verlangt, dass sie ihre Schulden in Höhe von 65.000 Euro durch Arbeit als Prostituierte abtragen solle. Dies habe die Klägerin aber abgelehnt. Zunächst sei ihr Asylantrag abgelehnt, dann aber erfolgreich gewesen, so dass sie eine Aufenthaltserlaubnis erhalten habe. Gewohnt habe sie in Privatwohnungen, zuletzt bei einem Mann, der sie zur Prostitution habe bewegen wollen, was sie aber abgelehnt habe. Für die Wohnung habe sie nicht zahlen müssen, sondern nur für Lebensmittel. Sie habe keine Arbeit gehabt, sondern habe gebettelt.
Auf Auskunftsersuchen des Bundesamtes teilte das italienische Innenministerium unter dem 19. November 2019 mit, dass die Klägerin dort auf Grund subsidiären Schutzes eine bis zum 1. August 2021 gültige Aufenthaltserlaubnis erhalten habe.
Mit Bescheid vom 15. Januar 2020 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Asylantrag als unzulässig ab, verneinte Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes und forderte die Klägerin auf, das Bundesgebiet innerhalb einer Woche zu verlassen. Widrigenfalls drohte es ihre Abschiebung nach Italien an. Gleichzeitig stellte es ein Abschiebungsverbot hinsichtlich Senegals fest. Ferner verhängte es ein auf 30 Monate befristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot. Schließlich setzte das Bundesamt die Vollziehung der Abschiebungsandrohung aus. Wegen der Begründung des Bescheides wird auf dessen Seite 2 ff. Bezug genommen.
Die hiergegen am 28. Januar 2020 erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht Potsdam an das Verwaltungsgericht Cottbus verwiesen.
Mit anwaltlichem Schreiben vom 18. November 2022 macht sie zur Begründung zunächst geltend, schwanger zu sein und an einer chronischen Appendizitis zu leiden. Zum Beleg für die chronische Appendizitis legt sie eine Epikrise („Endgültiger Arztbrief“) des E... vom 29. Juli 2021 vor, aus dem sich ergibt, dass die Klägerin sich einer komplikationslos verlaufenden Appendektomie unterzogen habe und schmerzarm mit regelrechter primärer Wundheilung sowie im stabilen Allgemeinzustand entlassen worden sei. Ferner behauptet sie, dass ihre Englischkenntnisse nicht besonders gut seien und sie weder lesen noch schreiben könne. Nach ihrer Ankunft in Italien sei sie von einer Frau festgehalten worden. Diese Frau habe von ihr verlangt, dass sie sich prostituieren solle um die Kosten für ihre Reise von rund 65.000 Euro abzubezahlen. Nachdem sie sich geweigert habe, sei sie zu einer Bekannten gezogen. Während der gesamten Zeit habe sie in Italien weder Arbeit gefunden noch Sozialleistungen erhalten, weshalb sie gezwungen gewesen sei zu betteln. Nachdem sie schwanger geworden sei und sich mit dem Vater des Kindes zerstritten habe, habe sie die Wohnung verlassen müssen. Da sie zu schwach gewesen sei, habe sie sich entschlossen nach Deutschland zu reisen. Einen Anspruch auf Unterkunft habe sie verloren, nachdem sie die ihr angebotene Unterkunft nicht angenommen habe. Sie werde als Analphabetin nicht in der Lage sein, für sich und ihre drei Kinder eine wirtschaftliche Existenzgrundlage zu erwirtschaften.
Die Klägerin hat vor zweieinhalb Jahren eine Tochter, O..., zur Welt gebracht. Die Tochter führt vor dem VG Berlin ein Klageverfahren (3...).
Die Klägerin beantragt,
den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 15. Januar 2020 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung bezieht sie sich auf die Ausführungen im angefochtenen Bescheid.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge Bezug genommen. Sämtliche Akten wurden zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht.
Die zulässige Anfechtungsklage ist unbegründet.
Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO.
Die Unzulässigkeitsentscheidung über den Asylantrag findet in § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ihre Grundlage. Danach ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat. Dies ist vorliegend der Fall. Nach Auskunft der italienischen Behörden und nach ihrem eigenen Vortrag wurde der Klägerin in Italien internationaler Schutz gewährt.
Dem Unzulässigkeitsverdikt steht auch kein höherrangiges Recht entgegen.
Art. 4 EU-GR-Charta schließt ein auf § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gestütztes Unzulässigkeitsverdikt im vorliegenden Falle nicht aus. Ausgeschlossen wäre eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG nur, wenn dem Antragsteller im Staat der Schutzgewährung die ernsthafte Gefahr eines Verstoßes gegen die Gewährleistungen des Art. 4 EU-GR-Charta droht (EuGH, Beschluss vom 13. November 2019 – C-540/17 u.a. – und Urteil vom 19. März 2019 – C-297/17 u.a. -).
Der für die Beurteilung dieser Gefahr maßgeblichen Rückkehrprognose ist zu Grunde zu legen, dass die Klägerin dieses Verfahrens zusammen mit ihren zwei minderjährigen Kindern, dem neugeborenen Kind und dem Kindsvater nach Italien zurückkehren würde. Bei der für jedes einzelne Familienmitglied anzustellenden Gefahrenprognose ist bei realitätsnaher Betrachtung der Rückkehrsituation im Regelfall davon auszugehen, dass eine im Bundesgebiet in familiärer Gemeinschaft lebende Kernfamilie (Eltern und minderjährige Kinder) im Familienverband in das Zielland der Abschiebungsandrohung zurückkehrt (vgl. BVerwGE 166, 113-125, Rn. 15). Lebt der Ausländer auch in Deutschland in familiärer Gemeinschaft mit der Kernfamilie, ist hiernach für die Bildung der Gefahrenprognose der hypothetische Aufenthalt des Ausländers im Herkunftsland in Gemeinschaft mit den weiteren Mitgliedern dieser Kernfamilie zu unterstellen. Bereits für die Bestimmung der voraussichtlichen Rückkehrsituation ist daher im Grundsatz davon auszugehen, dass ein nach Art. 6 GG/Art. 8 EMRK besonders schutzwürdiger Familienverband aus Eltern mit ihren minderjährigen Kindern nicht aufgelöst oder gar durch staatliche Maßnahmen zwangsweise getrennt wird. Die Mitglieder eines solchen Familienverbandes werden im Regelfall auch tatsächlich bestrebt sein, ihr - grundrechtlich geschütztes - familiäres Zusammenleben in einem Schutz- und Beistandsverband entweder im Bundesgebiet oder im Herkunftsland fortzusetzen (BVerwGE 166, 113-125, Rn. 17). Diese Rechtsprechung ist auf die vorliegende Konstellation der Rückführung eines in einem anderen EU-Mitgliedstaat als Flüchtling oder subsidiär schutzberechtigt Anerkannten in diesen Staat dem Grunde nach ohne weiteres übertragbar (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 7. Juli 2022 – A 4 S 3696/21 – Juris Rn. 35). Die Regelvermutung gemeinsamer Rückkehr als Grundlage der Gefahrenprognose setzt eine familiäre Gemeinschaft voraus, die zwischen den Eltern und ihren minderjährigen Kindern (Kernfamilie) bereits im Bundesgebiet tatsächlich als Lebens- und Erziehungsgemeinschaft (fort-) besteht und infolgedessen die Prognose rechtfertigt, sie werde bei einer Rückkehr in das Herkunftsland dort fortgesetzt werden (BVerwGE 166, 113-125, Rn. 18). Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Anders als der anwaltliche Vortrag glauben machen möchte, lebt die Klägerin nicht alleinstehend, sondern seit mittlerweile drei Jahren zusammen mit ihrem Lebensgefährten, Herrn I..., und den gemeinsamen Kindern in familiärer Gemeinschaft. Der Annahme einer Rückkehr im Familienverbund steht nicht entgegen, dass die Lebens- und Erziehungsgemeinschaft erst im Bundesgebiet begründet worden ist. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Frage, ob die in seinem Urteil vom 4. Juli 2019 - 1 C 45.18 – aufgestellte Regelvermutung einer gemeinsamen Rückkehr im Familienverbund auch dann gilt, wenn die familiäre Lebensgemeinschaft im Herkunftsland noch nicht bestanden hat, bislang offen gelassen (Beschl. v. 15.8.2019 - 1 B 33.19 -, juris Rn. 4). Diese Frage ist zu bejahen (OVG Lüneburg, Urteil vom 14. März 2022 – 4 LB 20/19 – Juris Rn. 93; Bay. VGH, Urteil vom 29. Oktober 2020 - 13a B 20.30347 - Juris Rn. 18). Entscheidender Gesichtspunkt für die anzustellende Prognose ist nach der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, dass ein nach Art. 6 GG/Art. 8 EMRK besonders schutzwürdiger Familienverband aus Eltern mit ihren minderjährigen Kindern nicht aufgelöst oder gar durch staatliche Maßnahmen zwangsweise getrennt wird. Die Mitglieder eines solchen Familienverbandes werden im Regelfall auch tatsächlich bestrebt sein, ihr - grundrechtlich geschütztes - familiäres Zusammenleben in einem Schutz- und Beistandsverband entweder im Bundesgebiet oder im Herkunftsland fortzusetzen (BVerwGE 166, 113-125, Rn. 17) . Ob die schützenswerte Lebensgemeinschaft erst im Bundesgebiet begründet worden ist, ist hierfür nicht von entscheidendem Belang, maßgeblich ist vielmehr, ob zum Zeitpunkt der Entscheidung und der in diesem Rahmen zu erfolgenden Prognose eine schützenswerte Lebens- und Erziehungsgemeinschaft besteht. Unabhängig vom Vorstehenden weist der vorliegende Fall Besonderheiten auf, welche die gemeinsame Rückkehrprognose zusätzlich stützen. So kennen sich die Klägerin und ihr Lebensgefährte, ebenfalls ein nigerianischer Staatsangehöriger, bereits aus Nigeria, wo sie in ein- und demselben Ort gelebt haben und geboren sind. Ferner haben sie sich durch Zufall in Italien getroffen und sind dort bis zur Trennung eine Beziehung eingegangen, aus der das älteste Kind des Paares, der Kläger in den Verfahren 5... und 5..., hervorgegangen ist. Trotz des zur Trennung führenden Zerwürfnisses ist Herr O...der Klägerin ins Bundesgebiet nachgereist, nachdem er ihren Aufenthaltsort über Bekannte ermittelt hatte. Im Bundesgebiet treten sie seit drei Jahren als Paar auf, weshalb sie im Asylbewerberheim gemeinsam zwei Zimmer bewohnen. Beide kümmern sich um die Kinder gemeinsam. Für die vor zweieinhalb Jahren geborene Tochter, die auch seinen Namen trägt, hat er die Vaterschaft anerkannt. Auch für das ungeborene Kind bekannt er sich zur Vaterschaft. Vor Gericht erklärt er mit Nachdruck, dass die Klägerin und die Kinder nunmehr seine Familie seien. Auf die Frage, ob er vorhabe, auch künftig mit der Klägerin zusammenzuleben, gab er an: „Das ist zu 100% in mir. Wir bleiben zusammen. Das ist meine Familie. Es gibt keine Alternative.“ Der Regelvermutung einer Rückkehr der Klägerin im Familienverbund steht ferner nicht entgegen, dass ihr Lebensgefährte, zugleich der Vater der gemeinsamen Kinder, und die Kinder selbst keine italienische Aufenthaltserlaubnis besitzen. Insoweit kommt es darauf an, ob ihnen die gemeinsame Ausreise möglich und zumutbar ist (vgl. zur Rückkehr ins Heimatland eines Ehegatten einer gemischtnationaler Ehe: OVG Lüneburg, Urteil vom 14. März 2022 – 4 LB 20/19 – Juris Rn. 94). Möglich und zumutbar ist die Ausreise auch für den Kindsvater und die Kinder, weil sie als Angehörige der internationalen Schutz genießenden Klägerin gemäß Art. 23 und Art. 24 der Richtlinie 2011/95/EU einen Anspruch auf Aufenthaltstitel haben.
Diese Prognose gemeinsamer Rückkehr zu Grunde gelegt droht der Klägerin keine Verletzung von Art. 4 der EU-GR-Charta.
Insoweit folgt das Gericht dem EGMR, der mit Urteil vom 23. März 2021 - 46595/19 – im Falle einer Rückführung von einer Mutter mit zwei minderjährigen Töchtern eine Verletzung von Art. 3 EMRK verneint hat (so auch Sächsisches OVG, Urteil vom 22. März 2022 – 4 A 389/20.A – Juris).
Gegen eine Verletzung von Art. 4 der EU-GR-Charta streitet die im Kontext des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems geltende Vermutung, dass die Behandlung der Personen, die internationalen Schutz beantragen, in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Charta, der Genfer Konvention und der EMRK steht. Dies gilt insbesondere bei der Anwendung von Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32/EU (Verfahrensrichtlinie), in dem im Rahmen des mit dieser Richtlinie eingerichteten gemeinsamen Asylverfahrens der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zum Ausdruck kommt (EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-297/17 u.a. – Juris Rn. 85) und dessen Umsetzung ins nationale Recht § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG dient.
Die Anwendung dieser Vermutung ist nicht disponibel, sondern zwingend (EuGH, Urteil vom 19. März 2019 – C-297/17 u.a. – Rn. 41).
Die zur Widerlegung dieser Vermutung besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit wäre erst erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-297/17 – Juris Rn. 90). Daher ist das Gericht, das mit einem Rechtsbehelf gegen eine Entscheidung befasst ist, mit der ein neuer Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abgelehnt wurde, in dem Fall, dass es über Angaben verfügt, die der Antragsteller vorgelegt hat, um das Vorliegen eines solchen Risikos in dem bereits internationalen Schutz gewährenden Mitgliedstaat nachzuweisen, verpflichtet, auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte zu würdigen, ob entweder systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen (EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-297/17 – Juris Rn. 88).
Vorliegend ist die unionsrechtliche Vermutung nicht widerlegt, da dem Gericht keine objektiven Erkenntnisse vorliegen, dass infolge Gleichgültigkeit italienischer Behörden eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen.
Ein ernsthaftes Risiko eines Verstoßes gegen Art. 4 GRC und Art. 3 EMRK besteht nicht bereits dann, wenn nicht sicher festzustellen ist, ob im Falle einer Rücküberstellung die Befriedigung der bezeichneten Grundbedürfnisse sichergestellt ist, sondern nur für den Fall, dass die Befriedigung eines der bezeichneten Grundbedürfnisse mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht zu erwarten ist und der Drittstaatsangehörige dadurch Gefahr läuft, erheblich in seiner Gesundheit beeinträchtigt zu werden oder in einen menschenunwürdigen Zustand der Verelendung versetzt zu werden.
(BVerwG, Beschluss vom 19. Januar 2022 – 1 B 83.21 – Juris Rn. 12).
Diese Gefahr droht vorliegend nicht.
Einer Überstellung nach Italien stehen zunächst keine Stellungnahmen des UNHCR entgegen. Seine Dokumente sind bei der Auslegung unionsrechtlicher Vorschriften indes von besonderer Relevanz (vgl. EuGH, Urteil vom 30.05.2013 - C-528/11 - Rn. 44; OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 21. Februar 2014 – 10 A 10656/13 – Juris Rn. 48). Anders als im Falle Bulgariens oder Griechenlands hat der Hohe Flüchtlingskommissar zu keinem Zeitpunkt einen Abschiebestopp hinsichtlich Italiens gefordert.
Die Vorerlebnisse der Klägerin, die nach eigenem Bekunden auch nach Erhalt des internationalen Schutzes keine staatliche Unterkunft in Anspruch genommen habe, lassen den Schluss auf drohende Obdachlosigkeit auch nicht zu. Im Übrigen können die individuellen Erlebnisse eines Klägers zwar Anlass zur eingehenderen Prüfung geben (vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 15. Dezember 2020 – 7 A 11038/18 –Juris Rn. 37), sind aber für sich genommen keine Grundlage für die Widerlegung der Vermutung. Sie stellen schon keine objektiven Angaben im oben genannten Sinne dar. Ferner kommt ihnen, zumal wenn sie wie hier mehrere Jahre zurückliegen, nur in begrenztem Umfang Erkenntniswert zu, keinesfalls führen sie zur einer Beweislastumkehr (BVerwG, Beschluss vom 6. Juni 2014 – 10 B 35.14 – Buchholz 402.25 § 27a AsylVfG Nr. 2). Selbst obergerichtlichen Urteilen zu Grunde liegenden Erkenntnisse büßen bereits nach dreieinhalb Jahren derart an Aussagekraft ein, dass sie nicht mehr zur Widerlegung der unionsrechtlichen Vermutung herangezogen werden können (so ausdrücklich OVG Lüneburg, Beschluss vom 04. Dezember 2020 – 10 LA 264/19 – Juris Rn. 16).
Im Falle der Klägerin ist im Gegenteil davon auszugehen, dass sie zusammen mit ihren Angehörigen für mindestens ein Jahr, voraussichtlich eher anderthalb Jahre mit Unterkunft und Verpflegung versorgt werden wird.
Die Versorgung von anerkannten Schutzberechtigten mit Wohnraum ist 2018 durch das sog. „Salvini-Gesetz“ entscheidend verbessert worden, indem die sog. SIPROIMI-Zentren für Minderjährige oder Personen mit Schutzstatus reserviert wurden. Das im Dezember 2020 in Kraft getretene Gesetz 173/2020 hat die sog. SIPROIMI-Zentren in Sistema Accoglienza Integrazione (SAI) umgewandelt. Dieses Zweitaufnahmesystem steht weiterhin grundsätzlich nur Inhabern internationalen Schutzes zur Verfügung, während das Erstaufnahmesystem, bestehend u.a. aus CAS, den Asylbewerbern offensteht (Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 10. Juni 2021, „Aufnahmebedingungen in Italien, Aktuelle Entwicklungen“ S 5ff.). Bereits die SIPROIMI-Unterkünfte (vormals SPRAR-Unterkünfte) wiesen einen Standard auf, der nach Einschätzung der Schweizerischen Flüchtlingshilfe jenen Garantien entspricht, die nach dem Urteil des EGMR vom 14. November 2014 (Application no. 29217/12 Tarakhel v. Schweiz) abgegeben wurden (vgl. SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Aktualisierter Bericht zur Lage von Asylsuchenden und Personen mit Schutzstatus, insbesondere Dublin-Rückkehrern, in Italien, Januar 2020, S. 39ff, 53 sowie SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Aktuelle Entwicklungen, Ergänzung zum Bericht vom Januar 2020, 10. Juni 2021, S. 6 f.; AIDA, Country Report: Italy-2020 Update, Juni 2021, S. 138, www.asylumineurope.org; AIDA, Country Report: Italy-2020 Update, Juni 2021, S. 107 ff., www.asylumineurope.org; so auch OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 15. Juli 2022 – 11 A 1138/21.A – Juris Rn. 82). Bei SAI-Einrichtungen handelt es sich um ca. 760 kleinere dezentrale Einrichtungen, die landesweit 30.049 Plätze bieten (Stand: Januar 2021 nach AIDA, Länderreport Italien, Update 2020, S. 182). Ende 2020 waren 25.574 dieser Plätze belegt (AIDA a.a.O. S. 116).
Kehren anerkannte Schutzberechtigte aus dem Ausland zurück, kommt es auf den Einzelfall an, ob der Betreffende Zugang zum SAI- (vormals SIPROIMI-) System hat. Gemäß Art. 4 des Gesetzes 173/2020 besteht im Rahmen der Kapazitäten Anspruch auf Unterbringung in den SAI-Unterkünften. Ausgeschlossen sind Personen, die zuvor in einem System der Zweitaufnahme untergebracht war (SFL, „Aufnahmebedingungen in Italien, Aktuelle Entwicklungen“, 10. Juni 2021, S 11f.).
Vorliegend ist der Anspruch auf Zugang zum Zweitaufnahmesystem SAI indes nicht durch Erfüllung untergegangen. Es ist unbestritten, dass die Klägerin während ihres Voraufenthaltes in Italien nicht in einem System der Zweitaufnahme betreut wurde. Sie erhielt eigener Darstellung zufolge nach ihrer Anerkennung als Flüchtling keinerlei staatliche Unterstützung.
Soweit anwaltlich geltend gemacht wird, dass die Klägerin einen anderen Verlusttatbestand verwirklicht habe, indem sie eine ihr zugewiesene Unterkunft nicht bezogen habe, geht dies deshalb fehl, weil nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung das Gericht davon ausgeht, dass der Klägerin zu keinem Zeitpunkt nach der gerichtlich erstrittenen Zuerkennung subsidiären Schutzes eine Unterkunft zugewiesen wurde. Anders als schriftsätzlich behauptet steht es nicht im Wissen der Klägerin, dass ihr eine Unterkunft staatlich zugewiesen wurde. Nach ihrem Bekunden in der mündlichen Verhandlung hat die „Madame“, bei der die Klägerin seinerzeit gelebt hat, sämtliche an die Klägerin gerichtete Behörden- und Gerichtspost entgegengenommen, ohne dass die Klägerin vom Inhalt der Schreiben hat Kenntnis nehmen können. Positive Kenntnis der Klägerin von einer Zuweisung existiert demnach nicht. Es kann auf sich beruhen, ob in einer Konstellation, wie der vorliegenden, das Nichteingreifen des Verlusttatbestandes und damit der Zugang zum Zweitaufnahmesystem schon auf Grund der unionsrechtlichen Vermutung anzunehmen ist. Jedenfalls steht zur Überzeugungsgewissheit des Gerichts, dass die Voraussetzungen für den Verlusttatbestand im Falle der Klägerin nicht vorliegen. Dass italienische Behörden der Klägerin eine Wohnung im Rahmen eines Zweitaufnahmesystems zugewiesen haben, kann nahezu ausgeschlossen werden. Dem Gericht liegen keine Erkenntnisse dazu vor, dass italienische Behörden Wohnungen ungefragt zuweisen. Das Gegenteil ergibt sich auf Grund der dem Gericht vorliegenden Erkenntnisse. Für die Unterbringung in einem Zweitaufnahmesystem muss nämlich ein Antrag an den Servizio Centrale gestellt werden (SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Aktualisierter Bericht zur Lage von Asylsuchenden und Personen mit Schutzstatus, insbesondere Dublin-Rückkehrern, in Italien, Januar 2020, S. 55; SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Aktuelle Entwicklungen, Ergänzung zum Bericht vom Januar 2020, 10. Juni 2021, S. 8). Die Klägerin hat indes nicht behauptet, einen solchen Antrag je gestellt zu haben. Dass die „Madame“ für die Klägerin einen solchen Antrag gestellt hat, erscheint fernliegend. Eine anderweitige Unterbringung der Klägerin und deren Teilnahme an Integrationskursen würde die Klägerin ihrer Kontrolle entziehen und die Aussicht, an der Prostitution der Klägerin Geld zu verdienen, vereiteln. Die Klägerin trägt selbst vor, dass die „Madame“ ihr jeden Kontakt mit italienischen Behörden verboten habe.
Selbst wenn die Klägerin an einem SPRAR-Projekt partizipiert oder einen Verlusttatbestand verwirklicht hätte, könnte sie in einer SAI-Einrichtung erneut aufgenommen werden. Bereits zuvor in einem System der Zweitaufnahme untergebrachte Personen können beim Innenministerium einen Antrag aufgrund von neuen Vulnerabilitäten stellen (SFH, „Aufnahmebedingungen in Italien, Aktuelle Entwicklungen“, 10. Juni 2021, S 11f. unter Bezugnahme auf SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Januar 2020, Seite 61). Eine neue Vulnerabilität der gesamten Familie liegt darin, dass sie um die beiden Kleinkinder gewachsen und die Klägerin erneut schwanger ist.
Durch die Organisation des Überstellungsverfahren ist außerdem gewährleistet, dass eine familiengerechte Unterbringung unmittelbar im Anschluss an die Überstellung nach Italien erfolgt. Nach den Angaben des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, die mit der Auskunft des Auswärtigen Amts übereinstimmen (AA, Anfragebeantwortung an das VG Wiesbaden vom 6. Januar 2020), wird eine Überstellung von vulnerablen Personen den italienischen Behörden mehr als eine Woche vorher angekündigt. Dabei wird auch ein erforderlicher Unterstützungsbedarf mitgeteilt. Erst nach Zustimmung der italienischen Behörden wird die Überstellung durchgeführt. Die Zustimmung erfolgt nur, wenn eine angemessene Unterkunft und Versorgung sichergestellt ist. Wenn dies nicht gewährleistet werden kann, erfolgt die formelle Aufforderung an die Beklagte, den Rückführungstermin zu verschieben. Es wird dann versucht, zu einem späteren Zeitpunkt die Überstellung in gleicher Verfahrensweise durchzuführen. Die Überstellung wird an dem von den italienischen Behörden zugewiesenen Flughafen abgeschlossen. Von dort aus werden Familien mit minderjährigen Kindern üblicherweise von Mitarbeitern der Unterkunft abgeholt. Falls mehrere Tage zwischen der Ankunft und der Weiterreise innerhalb Italiens liegen, werden Familien vorübergehend in einer Einrichtung in der Nähe des Flughafens untergebracht (BAMF, Bericht zur Aufnahmesituation von Familien mit minderjährigen Kindern nach einer Dublin-Überstellung in Italien, 2. April 2020, S. 25 ff., 48 ff.). Dass dieses Verfahren tatsächlich umgesetzt wird, wird durch eine Einschätzung des Direktors des italienischen Flüchtlingsrates (Consiglio Italiano per i Rifugiati, CIR) belegt. Dieser erklärte im Januar 2020 gegenüber einer Delegation des Bundesamtes, dass Familien in Italien keine Obdachlosigkeit drohe (BAMF, Bericht zur Aufnahmesituation von Familien mit minderjährigen Kindern nach einer Dublin-Überstellung in Italien, 2. April 2020, S. 40; vgl. zum Ganzen Sächsisches OVG, Urteil vom 22. März 2022 – 4 A 389/20.A – Juris Rn. 44).
Im Falle von Familien mit Kindern ist davon auszugehen, dass die regelmäßige Verweildauer von sechs Monaten mit Rücksicht auf besondere Schutzbedürftigkeit von Familien mindestens einmal um weitere sechs Monate auf zumindest ein Jahr verlängert wird. Dies entsprach bereits der Praxis unter Geltung des SPRAR-Systems, wo Familien im Einzelfall anderthalb Jahre kostenlos wohnen konnten (SFH, Italien: Aufnahmebedingungen, Aktuelle Situation von Schutzsuchenden und Schutzberechtigten, insbesondere Dublin-Rückkehrern, Bern Oktober 2013, S. 24). Daran hat sich auch in der Folgezeit nichts geändert. Statistisch gesehen wurde 2018 etwa die Hälfte der SPRAR-Plätze ein Jahr lang belegt (SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Aktualisierter Bericht zur Lage von Asylsuchenden und Personen mit Schutzstatus, insbesondere Dublin-Rückkehrern, in Italien, Januar 2020, S. 56f.). Auch das anschließend eingeführte SIPROIMI-System sah vor, bei besonderem Schutzbedarf den Aufenthalt zu verlängern (SFH a.a.O.). Die Umwandlung des SIPROIMI-Systems in das SAI-System hat heran rechtlich nichts geändert (SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Aktuelle Entwicklungen, Ergänzung zum Bericht zur Lage von Asylsuchenden und Personen mit Schutzstatus, insbesondere Dublin-Rückkehrern, in Italien vom Januar 2020, 10. Juni 2021, S. 11). Dass die Praxis der Verlängerungen aufgegeben wurde, wird nicht berichtet, vielmehr wird erwartet, dass sie bei Vorliegen spezifischer und dokumentierter Bedürfnisse fortgesetzt wird (SFH a.a.O. S. 12). Letzteres liegt angesichts der besonderen Bedürfnisse der beiden Kleinkinder nahe. Jedenfalls liegen keine objektiven, zuverlässigen, genauen und gebührend aktualisierten Erkenntnisse darüber vor, dass die italienischen Stellen bei Entscheidungen über die Verlängerung der Verweildauer entgegen der unionsrechtlichen Vermutung, ohne besonderen Vulnerabilitäten Rechnung zu tragen gegen Art. 3 EMRK verstoßende Zustände hinnehmen. Bereits 2016 hat der EGMR festgestellt, dass kein Grund zu der Annahme besteht, dass die italienischen Behörden bei eventuell auftretenden Schwierigkeiten nicht angemessen helfen würden (EGMR, Entscheidung vom 4. Oktober 2016 Nr. 30474/14). Deshalb ist davon auszugehen, dass Familien mit minderjährigen Kindern – wie hier - zunächst für in der Regel ein Jahr in der Aufnahmeeinrichtung verbleiben können. Angesicht der besonderen Vulnerabilität der schwangeren Klägerin steht zu erwarten, der Aufenthalt bei Auftreten besonderer Schwierigkeit (vgl. insbesondere zur Möglichkeit einer zweiten Verlängerung auf insgesamt anderthalb Jahre SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Aktualisierter Bericht zur Lage von Asylsuchenden und Personen mit Schutzstatus, insbesondere Dublin-Rückkehrern, in Italien, Januar 2020, S. 55) auf die maximale Dauer von anderthalb Jahren verlängert werden kann. Dadurch sind für diesen Zeitraum mit Art. 4 GRCh und Art. 3 EMRK vereinbare humanitäre Verhältnisse gewährleistet (so Sächsisches OVG, Urteil vom 22. März 2022 – 4 A 389/20.A – Juris Rn. 47 unter Hinweis auf SAI-Richtlinien und SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, 2020, S. 55; AIDA, Country Report Italy 2019, S. 157).
Es ist auch nicht zu besorgen, dass der klägerische Anspruch auf Unterbringung, daran scheitert, dass die Kapazitäten ausgeschöpft sind. Ende Januar 2021 standen im Rahmen des SAI-Systems 30.049 Plätze zur Verfügung (AIDA a.a.O. S. 182). Im September 2021 hielt das SAI-System 32.456 Plätze vor (www.restai.it/wp-content/uploads/2021/10/Numeri-SAI-SETTEMBRE-2021.pdf). Ende 2020 waren lediglich 25.574 dieser Plätze belegt (AIDA a.a.O. S. 116). Objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Angaben, wonach dieses Angebot nunmehr erschöpft ist, liegen nicht vor. Untersetzt mit Zahlen machen die Kläger derartiges selbst nicht geltend. Ebenso wenig ist dies jenen Judikaten zu entnehmen, die eine Rückführung nach Italien wegen Verstoßes gegen Art. 3 EMRK ablehnen (vgl. OVG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 20. Juli 2021 – 11 A 1674/20.A – Juris Rn. 41). Eine Überlastung des Zweitaufnahemesystems liegt auch angesichts der sinkenden Zahlen der Asylbewerber fern. Wurden in Italien 2016 noch 122.960 und 2017 128.850 Asylanträge gestellt, sank ihre Zahl 2018 auf 59.950, 2019 auf 43.770 und 2020 auf 26.536 (www.europarl.europa.eu Asylanträge in der EU). Im ersten Halbjahr 2021 wurden in Italien ca. 14.500 Erstasylanträge gestellt. 2020 wurde in Italien 4.924 Personen die Flüchtlingseigenschaft (10 % der Anträge) und 4.310 (12,% der Anträge) subsidiärer Schutz zuerkannt, während 77% abgelehnt wurden (AIDA a.a.O. S. 8), was zur Folge hat, dass 2020 für etwa 10.000 Personen der Anspruch auf Unterbringung im SAI-System neu entstanden ist. Berücksichtigt man bei nicht vulnerablen Personen eine regelmäßige Verweildauer von sechs Monaten und die allgemeinkundige Tatsache, dass ein erheblicher Teil der Asylbewerber und der als schutzberechtigt Anerkannten Italien wieder verlässt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 04. März 2015 – 1 B 9.15 – Juris Rn. 6), wobei der vorliegende Fall ist ein augenfälliges Beispiel für diese Sekundärmigration bietet, kann von Erschöpfung der Unterbringungskapazitäten keine Rede sein. Gegenteiliges ist auch nicht derzeit aufgrund der in erheblicher Zahl in Italien eintreffenden Flüchtlinge aus der Ukraine anzunehmen. Berichten zufolge kommen die ukrainischen Flüchtlinge überwiegend bei Verwandten und Freunden oder anderweitig privat unter. Darüber hinaus stellte der Katastrophenschutz Erstaufnahmeplätze für ukrainische Flüchtlinge zur Verfügung (OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 15. Juli 2022 – 11 A 1138/21.A – Juris Rn. 76f unter Hinweis auf SFH, Auskunft an das Verwaltungsgericht Karlsruhe vom 29. April 2022, S. 4; ZDF heute, Ukraine Flüchtlinge, Hilfsbereitschaft auf Italienisch, vom 20. März 2022, https://www.zdf.de/nachrichten/politik/fluechtlinge-italien-ukraine-krieg-russland-100.html; RAI Tagessschau, 35.000 Geflüchtete aus der Ukraine in Italien, vom 14. März 2020, https://www.rainews.it/tgr/tagesschau/articoli/2022/03/tag-fluechtlinge-ukraine-italien-draghi-786ba9a9-2fdd-420a-9900-a57e643b9ebe.html). Angesichts dessen, dass Italien in der Vergangenheit mehrmals unter Beweis gestellt hat, dass es auf gestiegene Herausforderungen flexibel reagiert (vgl. VG Köln, Urteil vom 06. Juli 2020 – 12 K 7502/18.A – Juris Rn. 34 unter Verweis auf SFH, Aufnahmebedingungen in Italien - Zur aktuellen Situation von Asylsuchenden und Schutzberechtigten, insbesondere Dublin- Rückkehrenden in Italien, August 2016, S. 15ff.), fehlt eine Grundlage für die Annahme, dass künftig etwa auftretende Schwankungen in der Belegung durch die italienischen Behörden nicht abgefangen würden. Bereits 2016 hat der EGMR festgestellt, dass kein Grund zu der Annahme besteht, dass die italienischen Behörden bei eventuell auftretenden Schwierigkeiten nicht angemessen helfen würden (EGMR, Entscheidung vom 4. Oktober 2016 Nr. 30474/14). Zudem genießen vulnerable Personengruppen beim Zugang zum SAI-Zweitaufnahmesystem Priorität (SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Aktuelle Entwicklungen, Ergänzung zum Bericht zur Lage von Asylsuchenden und Personen mit Schutzstatus, insbesondere Dublin-Rückkehrern, in Italien vom Januar 2020, 10. Juni 2021, S. 11). Vorliegend führt diese Besserstellung Vulnerabler – wozu jedenfalls die beiden Kleinkinder gehören – dazu, dass der Zugang zusätzlich erheblich erleichtert wird. Im Übrigen besteht für Familien mit minderjährigen Kindern selbst dann kein ernsthaftes Risiko einer erniedrigenden Behandlung, wenn im Einzelfall eine zeitnahe Unterbringung in einer SAI-Einrichtung nicht möglich sein sollte. Durch die erfolgte Gesetzesnovelle kann grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass vulnerable Personen jedenfalls zeitweilig auch in den sogenannten CAS-Unterkünften (Centri di accoglienza straordinaria) angemessen untergebracht werden können (EGMR, Urt. v. 23. März 2021 - 46595/19 -, HUDOC Rn. 55; so auch Sächsisches OVG, Urteil vom 22. März 2022 – 4 A 389/20.A – Juris Rn. 42).
Ist nach alledem davon auszugehen, dass die Klägerin samt ihrer Familie nach der Rückkehr nach Italien angemessene Versorgung und Unterbringung für den Zeitraum von mindestens einem Jahr und bei Bedarf anderthalb Jahren erfahren wird, sind spätere Entwicklungen in die anzustellende Gefahrenprognose nicht mehr einzustellen. Die Gefahr muss nämlich in dem Sinne konkret sein, dass die drohende Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit oder der Würde der Person in einem solchen engen zeitlichen Zusammenhang mit der Abschiebung eintritt, dass bei wertender Betrachtung noch eine Zurechnung zu dieser Abschiebung - in Abgrenzung zu späteren Entwicklungen im Zielstaat oder gewählten Verhaltensweisen des Ausländers - gerechtfertigt erscheint (BVerwG, Urteil vom 21. April 2022 – 1 C 10.21 – Juris Rn. 21). Die besonderen Schutzpflichten aus Art. 3 EMRK rechtfertigen sich aus der Stellung als Asylbewerber, die eine besondere Verletzlichkeit mit sich bringt (vgl. EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 – 30.696/09 – Informationsbrief Ausländerrecht 2011, 221/222). Den Anfangsschwierigkeiten, die mit der Ankunft in einem Land ohne ein Netzwerk von hilfsbereiten Verwandten oder Freunden zusammenhängen, trägt Italien gerade mit dem SAI-System, das nicht nur der Befriedigung existenzieller Bedürfnisse dient, sondern den Betroffenen mit Sprachkursen, Berufsausbildung und Arbeitsvermittlung eine Integration ins sozio-ökonomische Umfeld ermöglicht, wobei diese Übergangszeit hier ein Jahr oder anderthalb Jahre betragen wird. Eine lebenslange Garantie für kostenlose Versorgung mit Wohnraum lässt sich Art. 3 EMRK nicht entnehmen. Art. 3 EMRK kann nicht in dem Sinne ausgelegt werden, dass er (aus sich heraus) die Vertragsparteien verpflichtete, jedermann in ihrem Hoheitsgebiet mit einer Wohnung zu versorgen. Auch begründet Art. 3 EMRK keine allgemeine Verpflichtung, Flüchtlingen finanzielle Unterstützung zu gewähren oder ihnen einen bestimmten Lebensstandard zu ermöglichen (vgl. BVerwG, Urteil vom 7. September 2021 – 1 C 3.21 – Juris Rn. 24ff; EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 - 30696/09 - (M.S.S.), EUGRZ 2011, 243, Rn. 249, m.w.N., und Beschluss vom 2. April 2013 - 27725/10 - (Mohammed Hussein), ZAR 2013, 336 f. Rn. 70). Die nach Ablauf eines Jahres nach Aufnahme in das SAI-system obwaltenden Umstände lassen sich nicht mehr zuverlässig von in Abgrenzung zu späteren Entwicklungen oder gewählten Verhaltensweisen der Klägerin und ihrer Angehörigen, namentlich ihres Lebensgefährten, prognostizieren. Insbesondere hängen ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt vom Erfolg der ihr angebotenen Integrationsmaßnahmen ab. Gleiches gilt auch für ihren Lebensgefährten und Vater gemeinsamer Kinder. Auch die jenseits des zeitlichen Horizontes von einem Jahr herrschenden wirtschaftlichen Verhältnisse in Italien lassen sich nicht derzeit vorhersagen. Bloße Spekulationen oder hypothetische Umstände scheiden indes als Grundlage für die Beurteilung dafür aus, ob ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK droht (BVerwG, Urteil vom 21. April 2022 – 1 C 10.21 – Juris Rn. 13).
Etwas Anderes kann nur gelten, wenn nach dem Auslaufen der Hilfen in einem engen zeitlichen Zusammenhang eine Verelendung mit hoher Wahrscheinlichkeit droht. Je länger der Zeitraum der durch die Hilfen abgedeckten Existenzsicherung ist, desto höher muss allerdings die Wahrscheinlichkeit einer Verelendung nach diesem Zeitraum sein (BVerwG, Urteil vom 21. April 2022 – 1 C 10.21 – Juris Rn. 25). Die derzeit herrschenden Verhältnisse lassen eine solche Prognose mit der angesichts des Prognosezeitraumes hinreichend hohen Wahrscheinlichkeit nicht zu. Dabei ist davon auszugehen, dass die Klägerin nicht allein mit ihren Kindern, sondern mit dem Kindsvater nach Italien zurückkehren wird und angesichts des zeitlichen Vorlaufs die Möglichkeit besteht, für die Kinder eine Betreuung zu organisieren, die beiden Elternteile also gemeinsam zum Unterhalt durch eigene Berufstätigkeit beitragen können
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Dies gilt zunächst für die Versorgung mit geeignetem Wohnraum. Zwar ist es für international Schutzberechtigte nicht einfach, in Italien auf dem freien Markt eine Wohnung zu erhalten. Es bedarf regelmäßig einer größeren Zahl an Kontaktaufnahmen auf Vermietungsangebote. Dies ist für international Schutzberechtigte, die regelmäßig nur über eingeschränkte italienische Sprachkenntnisse verfügen, nachteilig. Um die zu zahlende Miete aufzubringen, kann unter bestimmten Voraussetzungen staatliche Unterstützung aus dem „National Fund to support acces to rented housing“ in Anspruch genommen werden (vgl. dazu Sächsisches OVG, Urteil vom 22. März 2022 – 4 A 389/20.A – Juris Rn. 50). Falls eine Anmietung auf dem freien Wohnungsmarkt nicht gelingen sollte, können sich Familien um eine staatlich geförderte Wohnung bemühen. Der öffentliche soziale Wohnungsbau hat einen Anteil zwischen 5 und 6 Prozent des Gesamtimmobilienmarkts. In absoluten Zahlen umfasst der öffentliche Wohnungsbau rund 800.000 Einheiten mit einer Kapazität für fast zwei Millionen Menschen. Dem sollen 650.000 Anträge auf Zuteilung einer Sozialwohnung gegenüberstehen. Es kann daher zwar abhängig von der Lage in der jeweiligen Region teilweise mehrere Jahre dauern, bis eine berechtigte Person eine Sozialwohnung erhält. Die Wartezeit ist aber nicht einheitlich und kann deutlich kürzer sein. Denn durch die Rechtsprechung des italienischen Verfassungsgerichts (Urteile no. 44/2020 und no. 9/2021) ist geklärt, dass die Vergabe der Sozialwohnungen nicht nach Wartezeit, sondern allein nach dem Kriterium der Dringlichkeit zu erfolgen hat (vgl. dazu Sächsisches OVG, Urteil vom 22. März 2022 – 4 A 389/20.A – Juris Rn. 51ff). Des Weiteren können sich Familien an die italienischen Kirchen und Hilfsorganisationen wenden. Diese bieten sowohl Unterkünfte für anerkannte Schutzberechtigte als auch Unterstützung bei der Wohnungssuche an (vgl. AIDA, Country Report: Italy, 2020, S. 120; SFH/Pro Asyl, Anfragebeantwortung vom 29. Oktober 2020, S. 7).
Von dieser Lage ausgehend wird es Familien mit minderjährigen Kindern nach einer Zuerkennung internationalen Schutzes - jedenfalls mit Unterstützung der staatlichen Sozialdienste oder von Hilfsorganisationen - im Allgemeinen rechtzeitig gelingen, außerhalb des Systems der Aufnahmeeinrichtungen eine angemessene Unterkunft zu erhalten und damit eine Obdachlosigkeit zu vermeiden. Wenn ihnen keine Anmietung einer Wohnung auf dem freien Wohnungsmarkt gelingt, haben sie einen dringenden Bedarf auf Zuteilung von Wohnraum, der aller Voraussicht nach durch staatliche Stellen und Hilfsorganisationen erfüllt werden wird. Dass in einem solchen Fall Wohnraum bereitgestellt wird, wird sowohl durch die Einschätzung des Direktors des italienischen Flüchtlingsrates (BAMF, Bericht zur Aufnahmesituation von Familien mit minderjährigen Kindern nach einer Dublin-Überstellung in Italien, 2. April 2020, S. 40) als auch durch eine von ACCORD eingeholte Einschätzung bestätigt (ACCORD, Anfragebeantwortung an den VGH Hessen, 18. September 2020, S. 9). Für die Richtigkeit dieser Einschätzungen spricht, dass in einer der wenigen existierenden wissenschaftlichen Untersuchungen zur Wohnsituation von international Schutzberechtigten dargelegt wird, dass Familien im Vergleich zu schutzberechtigten Einzelpersonen leichter eine Wohnung erhalten (Sächsisches OVG, Urteil vom 22. März 2022 – 4 A 389/20.A – Juris Rn. 53 unter Hinweis auf Dotsey/Lumley-Sapanski, Temporality, refugees and housing: The effects of temporary assistance on refugee housing outcomes in Italy, Cities 2021, S. 6).
Nicht im Widerspruch zu dieser Einschätzung steht die Kritik der Schweizerischen Flüchtlingshilfe und von Pro Asyl, dass in Italien „viele Personen mit Schutzstatus“ obdachlos seien und in verschiedenen italienischen Städten auf der Straße oder in informellen Siedlungen lebten (SFH/Pro Asyl, Anfragebeantwortung vom 29. Oktober 2020, S. 2). Die Kritik bezieht sich allgemein auf die Gruppe der international Schutzberechtigten, die zu einem großen Anteil aus alleinstehenden Männern besteht. Da die Unterkunftssituation der verschiedenen Personengruppen von international Schutzberechtigten nicht einheitlich ist, berücksichtigt die Kritik der Schweizerischen Flüchtlingshilfe und von Pro Asyl die spezifische Situation von Familien nicht. Die starken Unterschiede bei der Unterkunftssituation werden durch die vorliegenden Informationen zur Struktur der informellen Siedlungen belegt. Von den in einer wissenschaftlichen Untersuchung befragten Bewohner von informellen Siedlungen lebten über 90 Prozent dort ohne Familienangehörig (Sächsisches OVG, Urteil vom 22. März 2022 – 4 A 389/20.A – Juris Rn. 53 unter Hinweis auf Busetta et al., Measuring vulnerability of asylum seekers and refugees in Italy, Journal of Ethnic and Migration Studies, 2021, 596 [602]).
Des Weiteren wird es Familien mit minderjährigen Kindern voraussichtlich gelingen, die erforderlichen finanziellen Mittel zur Existenzsicherung zu erhalten. Es wird regelmäßig möglich sein, diese Mittel selbst zu erwirtschaften. Arbeitsfähige international Schutzberechtigte – hiervon ist für die Klägerin (wegen ihres Gesundheitszustandes vgl. die Ausführungen zur medizinischen Versorgung in Italien) und ihren Lebensgefährten auszugehen - haben eine realistische Chance, innerhalb des ersten Jahres nach der Zuerkennung internationalen Schutzes eine ausreichend bezahlte Arbeit zu finden. Die Einschätzung beruht auf den staatlichen Maßnahmen zur beruflichen Integration in den Arbeitsmarkt, der aktuellen Situation von international Schutzberechtigten im Arbeitsmarkt und der Arbeitskräftenachfrage aus dem Bereich der Schattenwirtschaft. Migranten können sich frühzeitig um eine Integration in den Arbeitsmarkt bemühen. Bereits zwei Monate nach der Stellung des Asylantrags in Italien ist es erlaubt, eine bezahlte Arbeit aufzunehmen (Sächsisches OVG, Urteil vom 22. März 2022 – 4 A 389/20.A – Juris Rn. 56ff unter Hinweis auf FA, Länderinformationsblatt Italien, Stand: 11. November 2020, S. 15; Respond, Italy country report, 2020, S. 24). Die SAI-Einrichtungen bieten Fördermaßnahmen an, um die Chancen von Asylantragstellern und international Schutzberechtigten auf dem Arbeitsmarkt zu erhöhen (Sächsisches OVG, Urteil vom 22. März 2022 – 4 A 389/20.A – Juris Rn. 53 unter Hinweis auf. Dotsey/Lumley-Sapanski, Temporality, refugees and housing: The effects of temporary assistance on refugee housing outcomes in Italy, Cities 2021, S. 7; Respond, Italy country report, 2020 S. 28). Zwar wurde durch diese Fördermaßnahmen nicht erreicht, dass sich die Arbeitsmarktsituation von international Schutzberechtigten auf der einen Seite und italienischen Staatsangehörigen oder Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union auf der anderen Seite vollständig angeglichen hat. Allerdings ist eine Annäherung der Situation, insbesondere zu den in Italien lebenden Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union, festzustellen. Beim Durchschnittgehalt bestehen keine übermäßigen Unterschiede. Die Gruppe der international Schutzberechtigten erhält knapp 80 Prozent des Durchschnittsgehalts von Beschäftigten mit italienischer Staatsangehörigkeit (vgl. de Sario, Migration at the crossroads - the inclusion of asylum seekers and refugees in the labour market in Italy, 2020, S. 214 zit. nach Sächsisches OVG, Urteil vom 22. März 2022 – 4 A 389/20.A – Juris Rn. 58). Fast keine Unterschiede beim Durchschnittsgehalt bestehen im Vergleich zu den in Italien arbeitenden Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaates der Europäischen Union (vgl. de Sario, a. a. O., S. 214). Eine ähnliche Situation besteht bei der Arbeitslosenquote. Bezogen auf international Schutzberechtigte lag diese im Jahr 2018 bei 17,8 Prozent. Sie war damit in einem nicht unerheblichen Maße höher als die von italienischen Staatsangehörigen (10,2 Prozent). Der Unterschied zur Arbeitslosenquote von Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union (13,5 Prozent) ist dagegen deutlich geringer (de Sario, Migration at the crossroads - the inclusion of asylum seekers and refugees in the labour market in Italy, 2020, S. 212). Die aktuelle Arbeitslosenquote von international Schutzberechtigten dürfte im Vergleich zu der von 2018 geringer sein. Denn zum einen ist die Arbeitslosigkeit in Italien seit 2018 - trotz der Auswirkungen der Corona-Pandemie - gesunken. Nach den Daten von Eurostat betrug die Arbeitslosenquote in Italien (jeweils drittes Quartal) 2018 10,2 Prozent, 2019 9,8 Prozent, 2020 10,8 Prozent und 2021 9,4 Prozent (https://ec.europa.eu/eurostat/de/web/lfs/data/database; Abruf am 10. März 2022). Zum anderen arbeiten Migranten ohne EU-Staatsangehörigkeit überwiegend in Bereichen, in denen die Corona-Pandemie nicht zu einer Reduzierung des Arbeitskräftebedarfs geführt hat. Die größten Beschäftigungssektoren sind der Pflegedienstleistungssektor (47,2 Prozent), die Landwirtschaft (18,6 Prozent), das Baugewerbe (16,6 Prozent) sowie der Sektor Handel, Verkehr, Wohnungswesen und Gastronomie (16,2 Prozent) (Sächsisches OVG, Urteil vom 22. März 2022 – 4 A 389/20.A – Juris Rn. 59 unter Hinweis auf Dotsey/Lumley-Sapanski, Temporality, refugees and housing: The effects of temporary assistance on refugee housing outcomes in Italy, Cities 2021, S. 4; ähnliche Zahlen werden in anderen Veröffentlichungen benannt, vgl. de Sario, Migration at the crossroads - the inclusion of asylum seekers and refugees in the labour market in Italy, 2020, S. 206). Bezogen auf diese Sektoren wurden substantielle Nachfragereduzierungen durch die Corona-Pandemie nur in den Bereichen Handel, Verkehr und Gastronomie ausgelöst. Eine zukünftige Steigerung der Arbeitslosenquote von international Schutzberechtigten infolge des Kriegs zwischen der Russischen Föderation und der Ukraine kann zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht prognostiziert werden. Die wirtschaftlichen Folgen in Italien sind von einer Vielzahl von Faktoren, insbesondere dem Kriegsverlauf, dem Umfang der Sanktionen sowie von staatlichen Kompensationsmaßnahmen und dem Verhalten der Konsumenten, abhängig. Eine signifikante Verschlechterung ist derzeit nicht absehbar.
Neben einer Tätigkeit im regulären Arbeitsmarkt können sich international Schutzberechtigte auch um eine Arbeit in der Schattenwirtschaft bemühen. Schwarzarbeit ist in Italien weit verbreitet; etwa zehn Prozent der Bevölkerung arbeitet in diesem Bereich (OVG NRW, Urt. v. 20. Juli 2021 - 11 A 1674/20.A - Juris Rn. 130 f.). Insbesondere in der Landwirtschaft sollen viele Migrantinnen und Migranten bei der saisonalen Ernte irregulär arbeiten (borderline-europe, Die Situation der Geflüchteten auf Sizilien, 2019, S. 42 ff.). Die Aufnahme von Tätigkeiten in der Schattenwirtschaft ist grundsätzlich zumutbar (BVerwG, Beschl. v. 17. Januar 2022 - 1 B 66.21 - Juris Rn. 29 m. w. N.). Schwarzarbeit gilt in Italien weiterhin als „Kavaliersdelikt“ (Handelsblatt, Italien forciert den Kampf gegen Steuerhinterziehung, Artikel vom 18. August 2020, www.handelsblatt.com; Abruf am 10. März 2022). Unzumutbar ist die Tätigkeit in der Schattenwirtschaft auch nicht im Hinblick auf das Ziel der Bekämpfung von Schwarzarbeit (a. A. OVG NRW, Urt. v. 20. Juli 2021 - 11 A 1674/20.A -, juris Rn. 136). Das ergibt sich schon daraus, dass derzeit etwa eine Million Haushalte in Italien ausschließlich von irregulärer Arbeit leben (Handelsblatt, Italien forciert den Kampf gegen Steuerhinterziehung, Artikel vom 18. August 2020). In dieser Situation kann eine effektive Bekämpfung von Schwarzarbeit nicht mehr durch das Verhalten von Einzelpersonen, sondern nur noch durch engmaschige staatliche Kontrollen und spürbare Sanktionierungen von Arbeit- und Auftraggebern bei Verstößen erreicht werden (vgl. zum Ganzen Sächsisches OVG, Urteil vom 22. März 2022 – 4 A 389/20.A – Juris Rn. 61; bestätigt durch BVerwG, Beschluss vom 1. August 2022 – 1 B 52.22 –).
Angesichts Art. 30 der Richtlinie 2011/95/EU besteht auch im Falle anerkannter Schutzberechtigter eine starke unionsrechtliche Vermutung dafür, dass die ihnen in Italien gebotene medizinische Versorgung angemessen sein wird (vgl. EuGH, Urteil vom 16. Februar 2017 – C-578/16 PPU – Rn. 70 zu Art. 17 bis 19 der Richtlinie 2013/22/EU). Die dem Gericht vorliegenden Erkenntnisse bestätigen diese Vermutung. Bei der Gesundheitsversorgung werden anerkannte Flüchtlinge in Italien wie italienische Bürger behandelt. Der kostenlose Zugang zur Notfallversorgung steht ihnen immer zur Verfügung (Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 24. August 2016 – 13 A 63/16.A – Juris Rn. 94). Auch psychische Erkrankungen sind als weit verbreitete Erkrankungen in Italien behandelbar. Auch hätte die Klägerin Zugang zur dortigen medizinischen Versorgung. Wie ausgeführt, ist in Italien anerkannten Flüchtlingen der Zugang zum staatlichen Gesundheitssystem eröffnet. Insbesondere sind eine kostenfreie Notversorgung sowie die Versorgung sonstiger ernsthafter, auch chronischer Erkrankungen mit den erforderlichen Medikamenten und der notwendigen ärztlichen Behandlung gesichert. Dem steht der geforderte Selbstbehalt (sog. "Ticket") nicht entgegen. Um eine Befreiung zu erhalten, muss sich der Flüchtling lediglich offiziell arbeitslos melden. Abgesehen davon besteht über eine sog. STP-Karte, die bei einer öffentlichen lokalen Gesundheitsorganisation oder in einem großen Krankenhaus zu beantragen ist, ein Zugang zur kostenlosen medizinischen Behandlung, wenn diese wegen schwerer Erkrankungen dringend erforderlich ist. Soweit schließlich eingewandt wird, dass sich die medizinische Versorgung in Italien wegen der Covid-Pandemie verschlechtert habe, wäre dies jedenfalls nicht auf die Gleichgültigkeit des italienischen Staates zurückzuführen, sondern wäre Ausdruck einer allgemeinen Notlage, was auch die aktuelle Diskussion zur Triage in Deutschland zeigt. Im Übrigen weist die Klägerin keinen aktuellen Behandlungsbedarf auf. Soweit sie anwaltlich vorträgt, an einer chronischen Appendizitis zu leiden, wird dies durch den von ihr selbst vorgelegten Endgültigen Arztbrief vom 29. Juli 2021 widerlegt. Darin wird nämlich berichtet, dass sich die Klägerin vor mehr als einem Jahr einer operativen Appendektomie unterzogen hat und „mit regelrechter primärer Wundheilung“ entlassen wurde.
Die Abschiebungsandrohung findet ihre Rechtsgrundlage in §§ 34, 35 AsylG. Danach erlässt das Bundesamt nach den §§ 59 und 60 Abs. 10 des AufenthG eine schriftliche Abschiebungsandrohung, wenn der Ausländer nicht als Asylberechtigter anerkannt wird, dem Ausländer nicht die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird, dem Ausländer kein subsidiärer Schutz gewährt wird, die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG nicht vorliegen und der Ausländer keinen Aufenthaltstitel besitzt. Diese Voraussetzungen liegen vor. Es liegt weder ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG noch ein solches nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG vor.
Gem. § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Im Falle einer Abschiebung nach Italien droht keine konventionswidrige Behandlung. Dagegen streitet die im Kontext des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems geltende Vermutung, dass die Behandlung der Personen, die internationalen Schutz beantragen, in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Charta, der Genfer Konvention und der EMRK steht. Dies gilt insbesondere bei der Anwendung von Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrensrichtlinie, in dem im Rahmen des mit dieser Richtlinie eingerichteten gemeinsamen Asylverfahrens der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zum Ausdruck kommt (EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-297/17 u.a. – Juris Rn. 85). Diese Vermutung wird nach dem Vorstehenden vorliegend nicht widerlegt.
Ebenso wenig greift ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ein. Danach soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Das normative Vergewisserungskonzept des Art. 16a Abs. 2 GG umfasst auch solche Gefährdungen; einer Prüfung bedarf es deshalb vor einer Aufenthaltsbeendigung in sichere Drittstaaten, wozu auch Italien als Mitglied der EU gehört, auch insoweit nicht (vgl. zu § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996 – 2 BvR 1938/93 –, BVerfGE 94, 49-114, Rn. 186). Nichts Anderes gilt mit Blick auf die Covid-19-Krankheitswelle. Selbst wenn pandemiebedingt erneut Einreisebeschränkungen verhängt werden sollten, begründete dies kein Abschiebungsverbot, weil die Unmöglichkeit der Abschiebung kein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis bildet (vgl. BVerwG, Beschluss vom 29. Juni 1998 – 9 B 604.98 – Juris; BVerwG, Beschluss vom 01. September 1998 – 1 B 41.98 – Buchholz 402.240 § 50 AuslG 1990 Nr 4; vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 11. Mai 1998 – 9 B 409.98 – InfAuslR 1999, 525-526). Dies gilt erst recht bei absehbar vorübergehenden Hindernissen. Wegen der behaupteten Appendizitis wird auf die Ausführungen zur medizinischen Versorgung in Italien Bezug genommen.
Schließlich stellt sich hier die Frage, die zur Vorlage an den EuGH durch das BVerwG führte (vgl. BVerwG, EuGH-Vorlage vom 8. Juni 2022 – 1 C 24.21 – NVwZ-RR 2022, 835-838), nicht. Abgesehen davon, dass es vorliegend an dauerhaften Abschiebungshindernissen für die übrigen Familienmitglieder fehlt, stellt die Abschiebungsandrohung keine Rückkehrentscheidung i.S.d. Art. 3 Nr. 3 und 4 der Richtlinie 2008/115/EG dar.
Soweit sich die Klägerin schließlich auf mehrere Entscheidungen des 11. Senates des OVG NW beruft, vermag das Gericht der dortigen Einschätzung nicht zu folgen, schließt sich vielmehr insoweit den Ausführungen des VG Würzburg (vgl. Urteil vom 10. Juni 2022 – W8 K22.50113 – Seite 14ff. zit. nach Juris) an.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben, § 83b AsylG.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.