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Entscheidung 2 K 735/17.A


Metadaten

Gericht VG Cottbus 2. Kammer Entscheidungsdatum 30.01.2023
Aktenzeichen 2 K 735/17.A ECLI ECLI:DE:VGCOTTB:2023:0130.2K735.17.A.00
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen § 3ff AsylVfG 1992

Tenor

Soweit der Kläger die Klage zurückgenommen hat und die Beteiligten den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt haben, wird das Verfahren eingestellt.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens, für welches Gerichtskosten nicht erhoben werden, tragen der Kläger zu 2/3 und die Beklagte zu 1/3.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand

Der Kläger begehrt nach teilweiser Klagerücknahme und teilweiser übereinstimmender Hauptsachenerledigungserklärung noch die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise die Gewährung subsidiären Schutzes.

Der am 3. Juli 1992 geborene Kläger ist afghanischer Staatsangehöriger tadschikischer Volkszugehörigkeit sunnitisch-islamischen Glaubens. Er stammt eigenen Angaben zufolge aus der Stadt Kabul und reiste am 5. Dezember 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Am 18. April 2016 stellte er einen förmlichen Asylantrag.

In seiner Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (nachfolgend: Bundesamt) am 2. November 2016 gab der Kläger im Wesentlichen an, er sei von unbekannten Personen mit langen Bärten, die ein Attentat auf das Parlament geplant hätten, aufgefordert worden, in seinem Wohnhaus, welches gegenüber dem Parlamentsgebäude gelegen habe, Waffen und Ausrüstungsgegenstände zu verwahren. Da er dem nicht Folge geleistet habe, sei er von diesen Personen bedroht worden. Die Verfolgungen hätten etwa sieben Monate vor seiner Ausreise begonnen. Auf Frage, ob er sich an die Polizei gewandt habe, erklärte der Kläger, dies sei der Fall gewesen, die Polizei habe daraufhin auch ihr Haus zwei bis drei Tage bewacht. Der Kläger legte eine Bescheinigung des Innenministeriums sowie des stellvertretenden Präsidiums für Sicherheitswesen im Kampf gegen Schwerverbrechen vom 03.08.1394 (entspricht dem 24. Oktober 2015) in Kopie vor, in welchem bestätigt wurde, dass er bedroht und verfolgt worden sei. Auf Frage, wann er zuletzt bedroht worden sei, erklärte er, dies sei am 3. November 2015 gewesen. Sie hätten ihm gesagt, er solle mit ihnen zusammenarbeiten. Einen Tag zuvor hätten sie ihn verfolgt und am Hals festgehalten. Insgesamt sei er 15- bis 16-mal bedroht worden, sie hätten immer gewollt, dass er ihr Haus zur Verfügung stelle. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan befürchte er, ermordet zu werden.

Mit Bescheid vom 13. März 2017, zugestellt am 14. März 2017, lehnte das Bundesamt die Anträge auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und auf Asylanerkennung ab (Ziffern 1. und 2.) und erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Ziffer 3.) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) nicht vorlägen (Ziffer 4.). Der Kläger wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung bzw. im Fall einer Klageerhebung nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen. Für den Fall der Nichteinhaltung dieser Ausreisefrist wurde ihm die Abschiebung nach Afghanistan oder in einen anderen Staat, in den er einreisen dürfe oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet sei, angedroht (Ziffer 5.). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 6.).

Zur Begründung führte das Bundesamt im Wesentlichen aus, die Angaben des Klägers seien vage und oberflächlich. An dem geschilderten Verfolgungsgeschehen bestünden erhebliche Zweifel, da die Umgebung des afghanischen Parlaments streng bewacht werde, so dass ein mehrmaliges Auftreten der Taliban in der Gegend habe auffallen müssen. Es sei auch nicht nachvollziehbar, dass der Kläger sich trotz der Drohungen weiterhin zu Hause aufgehalten habe. Auch erscheine unwahrscheinlich, dass die Taliban einer Person, die sich ihrem Willen widersetze, über den angegebenen langen Zeitraum die Möglichkeit einer Weigerung gegeben hätten. Schließlich sei völlig unplausibel, dass die Taliban sich über einen längeren Zeitraum dem Risiko eines Verrats durch den Kläger ausgesetzt hätten. Dem Kläger drohe bei einer Rückkehr nach Kabul auch keine erhebliche individuelle Gefahr aufgrund eines etwaigen innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.

Der Kläger hat am 24. März 2017 Klage erhoben. Er lässt zur Begründung vortragen, er habe im Rahmen seiner Möglichkeiten den Sachverhalt detailliert und hinreichend konkret geschildert. Zudem habe er angegeben, dass er polizeilichen Schutz gesucht habe, welcher ihm auch vorübergehend gewährt worden sei. Es sei davon auszugehen, dass die Bewachung seines Hauses durch die Polizei und die nunmehr nachdrückliche Aufforderung durch die Taliban zur Zusammenarbeit in zeitlichem Zusammenhang stünden. Bei einem Verbleib in Afghanistan hätten ihm weitere Verfolgung durch die Taliban mit der Gefahr schwersten Schadens gedroht. Insofern sei er vorverfolgt ausgereist. Aus Sicht der Taliban seien Personen, die sich ihrem religiös motivierten Kampf gegen die (vormalige) Regierung nicht angeschlossen hätten Ungläubige, so dass die Verfolgungshandlungen religiös, wenn nicht sogar politisch motiviert seien. Unabhängig hiervon habe er als Rückkehrer aus dem westlichen Ausland mit besonderer Aufmerksamkeit zu rechnen, da die Taliban-Regierung, aber auch die afghanische Bevölkerung diesen Personenkreis besonders argwöhnisch betrachteten. Rückkehrern werde - unabhängig von einer etwaigen Tätigkeit für die frühere Regierung – grundsätzlich eine Abkehr von der islamischen Lebensweise unterstellt. Insofern sei zu befürchten, dass er bei einer Einreise über den Flughafen in Kabul bei einer näheren Befragung preiszugeben habe, dass er in unmittelbarer Nähe der alten Nationalversammlung gelebt habe, worin die Taliban einen sicherheitsrelevanten Aspekt sehen dürften, so dass mit weiteren Nachfragen seitens ihrer Sicherheitskräfte zu rechnen sei. Angesichts seiner insbesondere in der mündlichen Verhandlung gezeigten profunden Deutschkenntnisse sei bei der zu erwartenden eingehenden Befragung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten, dass die Nähe zur westlichen Lebensweise einerseits und der frühere Wohnort andererseits asylrechtlich relevante Verfolgungsmaßnahmen durch die Sicherheitskräfte der Taliban auslösen würden.

Mit Bescheid vom 12. Juli 2022 hob das Bundesamt Ziffern 4. bis 6. des Bescheides vom 13. März 2017 auf und stellte fest, dass das Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 5 des Aufenthaltsgesetzes hinsichtlich Afghanistans vorliege.

Der Kläger hat mit Schriftsatz vom 21. Juli 2022 den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt, soweit er auf die Zuerkennung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 des Aufenthaltsgesetzes gerichtet war. Die Beklagte hat der Erledigungserklärung des Klägers innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung des die Hauptsachenerledigungserklärung enthaltenden Schriftsatzes und einer Belehrung gemäß § 161 Abs. 2 Satz 2 der Verwaltungsgerichtsordnung nicht widersprochen.

Der Kläger hat die Klage in der mündlichen Verhandlung vom 9. Dezember 2022 zurückgenommen, soweit sie auf eine Verpflichtung der Beklagten, ihn als Asylberechtigten anzuerkennen, gerichtet war.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 13. März 2017 zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,

hilfsweise die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des vorgenannten Bescheides zu verpflichten, ihm den subsidiären Schutz zuzuerkennen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie verweist zur Begründung auf die Ausführungen des angefochtenen Bescheides.

Mit Beschluss vom 10. Mai 2017 hat die Kammer den Rechtsstreit der Berichterstatterin als Einzelrichterin zur Entscheidung übertragen.

Das Gericht hat den Kläger in der mündlichen Verhandlung am 9. Dezember 2022 informatorisch angehört. Insoweit wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung verwiesen.

Der Kläger hat mit Schriftsatz vom 12. Dezember 2022 mitgeteilt, dass er auf die Durchführung einer (weiteren) mündlichen Verhandlung verzichtet.

Die Beklagte hat mit Schriftsatz vom 16. Dezember 2022 mitgeteilt, dass sie auf die Durchführung einer (weiteren) mündlichen Verhandlung verzichtet.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, den Inhalt der beigezogenen Akten des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge und der Zentralen Ausländerbehörde des Landes Brandenburg sowie den Inhalt der aus der den Beteiligten übersandten Erkenntnismittelliste Afghanistan, Stand: 5. Dezember 2022, ersichtlichen Erkenntnismittel Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Entscheidung ergeht aufgrund des Einzelrichterübertragungsbeschlusses vom 10. Mai 2017 gem. § 76 Abs. 1 des Asylgesetzes (AsylG) durch die Berichterstatterin als Einzelrichterin.

Das Gericht entscheidet mit dem Einverständnis der Beteiligten ohne (weitere) mündliche Verhandlung, § 101 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).

Soweit der Kläger die Klage bezogen auf die Anerkennung als Asylberechtigter zurückgenommen hat und die Beteiligten den Rechtsstreit bezogen auf die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots übereinstimmend für erledigt erklärt haben, ist das Verfahren in unmittelbarer bzw. entsprechender Anwendung des § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen.

Die Klage im Übrigen hat keinen Erfolg.

Die Versagung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist nicht rechtswidrig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO. Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) keinen Anspruch gem. § 3 Abs. 4 AsylG auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, regelmäßig die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet. Bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, ist es unerheblich, ob er tatsächlich die Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinen Verfolgern zugeschrieben werden (§ 3b Abs. 2 AsylG). Eine solche Verfolgung kann vom Staat ausgehen (§ 3c Nr. 1 AsylG), von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (§ 3c Nr. 2 AsylG), oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (§ 3c Nr. 3 AsylG).

Bei der gebotenen Verfolgungsprognose kommt es auf den Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit an. Hierfür ist erforderlich, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine individuelle Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Diese Würdigung ist auf der Grundlage einer „qualifizierenden“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung vorzunehmen. Hierbei sind gemäß Art. 4 Abs. 3 Richtlinie 2011/95/EU neben den Angaben des Antragstellers und seiner individuellen Lage auch alle mit dem Herkunftsland verbundenen flüchtlingsrelevanten Tatsachen zu berücksichtigen. Entscheidend ist, ob in Anbetracht der Gesamtumstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 – BVerwG 1 C 33.18 – juris Rn. 14 ff. m.w.N.).

Bei der gebotenen Prognose, ob die Furcht des Ausländers vor Verfolgung im Rechtssinne begründet ist, ihm also Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, ist es Aufgabe des Gerichts, die Prognosetatsachen zu ermitteln, diese im Rahmen einer Gesamtschau zu bewerten und sich auf dieser Grundlage gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO eine Überzeugung zu bilden (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 11. April 2018 – A 11 S 1729/17 – juris Rn. 30).

Wegen des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich Betroffene insbesondere hinsichtlich verfolgungsrelevanter Vorgänge im Herkunftsland vielfach befinden, genügt für diese Vorgänge in der Regel Glaubhaftmachung. Dies bedeutet, dass das Gericht keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit verlangen darf, sondern sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen muss, der den Zweifeln Schweigen gebietet, auch wenn sie nicht völlig auszuschließen sind. Darüber hinaus ist die besondere Beweisnot des nach den allgemeinen Grundsätzen des Verwaltungsprozessrechts mit der materiellen Beweislast hinsichtlich der guten Gründe für seine Verfolgungsfurcht beschwerten Schutzsuchenden zu berücksichtigen, indem dessen eigenen Erklärungen größere Bedeutung beizumessen ist, als dies meist sonst in der Prozesspraxis bei Bekundungen einer Partei der Fall ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. April 1985 – 9 C 109/84 – juris Rn. 16). Es ist dabei Sache des jeweiligen Schutzsuchenden darzulegen, dass in seinem Falle die tatsächlichen Grundlagen für eine Schutzgewährung gegeben sind. Eine Glaubhaftmachung derjenigen Umstände, die seinen eigenen Lebensbereich betreffen, erfordert insoweit einen substantiierten, im Wesentlichen widerspruchsfreien und nicht wechselnden Tatsachenvortrag, der geeignet ist, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen, und der auch mit den objektiven Umständen in Einklang zu bringen ist. Er hat seine guten Gründe für eine ihm drohende Verfolgung unter Angabe genauer Einzelheiten und in sich stimmig zu schildern (vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. März 1991 – 9 B 56/91 – juris Rn.5). Hierbei bildet der Vortrag im behördlichen und im gerichtlichen Verfahren eine Einheit (vgl. BVerwG; Urteil vom 12. November 1985 - 9 C 27.85 - juris Rn. 17).

Die begründete Furcht vor Verfolgung kann sowohl auf tatsächlich erlittener oder unmittelbar drohender Verfolgung vor der Ausreise im Herkunftsstaat (Vorverfolgung) als auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem oder weil der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat (Nachfluchtgründe).

Soweit ein Kläger vorverfolgt ausgereist ist, kommt ihm die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU zugute. Danach besteht bei ihm eine tatsächliche Vermutung, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist. Diese Vermutung kann widerlegt werden; hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe dagegen sprechen, dass ihm erneut eine derartige Verfolgung droht (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 – BVerwG 1 C 33.18 – juris Rn. 14 ff. m.w.N.).

Dies zugrunde gelegt, ist dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft nicht zuzuerkennen.

Das Gericht vermochte nicht mit der erforderlichen Überzeugungsgewissheit i.S.d. § 108 Abs. 1 VwGO festzustellen, dass der Kläger Afghanistan vorverfolgt verlassen hat.

Sein Vortrag zu der Verfolgung durch „unbekannte Personen mit Bärten“, die einen Anschlag auf das (alte) Parlamentsgebäude geplant haben sollen, zu welchem der Kläger zu Unterstützungsleistungen genötigt werden sollte, welche der Kläger aber verweigert habe, weshalb er von diesen Personen tätlich angegriffen worden sei, erscheint - wie bereits in dem angefochtenen Bescheid ausgeführt - insgesamt wenig detailliert und vage.

So gab der Kläger vor dem Bundesamt lediglich an, er habe lange Zeit unter Verfolgung gestanden. Die besagten Personen hätten von ihm verlangt, mit ihnen zusammenzuarbeiten, sie hätten ihre kriegerische Ausrüstung in seinem Wohnhaus aufbewahren und von dort aus Attentate durchführen wollen. Er sei über einen Zeitraum von ca. sieben Monaten insgesamt 15- bis 16-mal bedroht worden. Das letzte Mal sei er am 3. November 2015 aufgefordert worden, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Einen Tag vorher - abends - hätten sie ihn am Hals festgehalten. Er sei nach Hause geflüchtet.

Erscheint dieser Vortrag vor dem Bundesamt bereits wenig substantiiert, fielen die Angaben des Klägers in der informatorischen Anhörung des Gerichts noch spärlicher aus, indem er ausführte, er sei vielleicht sieben Monate vor seiner Ausreise verfolgt worden und habe die unbekannten Personen 13- oder 15-mal gesehen.

Lediglich den abendlichen Angriff durch die unbekannten Personen schilderte er in der informatorischen Anhörung des Gerichts deutlich detaillierter als vor dem Bundesamt, allerdings mit gravierenden Abweichungen gegenüber seinen Angaben in der Bundesamtsanhörung, welche der Kläger nicht nachvollziehbar zu erklären vermochte, weshalb sein Vortrag auch insoweit nicht überzeugend erscheint.

So datierte er diesen Vorfall in der Anhörung vor dem Bundesamt auf den 2. November 2015, während er in der informatorischen Anhörung des Gerichts angab, der Angriff habe sich im Oktober 2015 ereignet. Soweit er auf Vorhalt des Gerichts angab, dieser Widerspruch müsse dadurch entstanden sein, dass etwas in der Anhörung vor dem Bundesamt durcheinandergekommen sei, weil er zu diesem Zeitpunkt nicht in einer gesundheitlich guten Verfassung gewesen sei, überzeugt dies schon angesichts dessen nicht, dass der Kläger zu Beginn der Anhörung vor dem Bundesamt angab, sich trotz seiner – ausweislich des Anhörungsprotokolls auch zum damaligen Zeitpunkt bereits ausdrücklich geltend gemachten – gesundheitlichen Probleme zur Durchführung der Anhörung in der Lage zu fühlen. Auch bei Rückübersetzung des Anhörungsprotokolls sah der Kläger keine Veranlassung zur Richtigstellung. Schließlich wäre auch zu erwarten gewesen, dass der Kläger im Rahmen der Klagebegründung auf den Fehler hingewiesen hätte, da in dem ablehnenden Bescheid des Bundesamtes ausdrücklich festgehalten worden war, der Kläger habe angegeben, der Vorfall habe sich drei Tage vor seiner Ausreise ereignet.

Für das erkennende Gericht liegt als Erklärung für die Angabe eines geänderten Zeitpunkts des Angriffs gegenüber dem Gericht vielmehr nahe, dass dem Kläger, der beim Bundesamt eine Kopie eines Schreibens des afghanischen Innenministeriums sowie stellvertretenden Präsidiums für Sicherheitswesen im Kampf gegen Schwerverbrechen vom 24. Oktober 2015 vorgelegt hatte, bei welchem es sich nach den Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung um das Protokoll der Anzeige nach dem Überfall im Oktober 2015 gehandelt haben soll, die mangelnde Plausibilität im Hinblick auf das vor dem Bundesamt angegebene Datum des Vorfalls selbst aufgefallen war, so dass er in der informatorischen Anhörung des Gerichts angab, dieses Ereignis habe bereits im Oktober 2015 stattgefunden.

Ein weiterer Widerspruch, welchen der Kläger nicht überzeugend aufgelöst hat, ist darin zu sehen, dass der Kläger in der Anhörung vor dem Bundesamt auf die Frage, wie er auf den Überfall reagiert habe, angab, er sei nach Hause geflüchtet, während er in der informatorischen Anhörung des Gerichts erklärte, die Polizei sei gekommen und habe ihn nach Hause gebracht.

Ein weiterer Widerspruch, welchen der Kläger ebenfalls nicht überzeugend aufzulösen vermochte, ist darin zu sehen, dass er gegenüber dem Bundesamt angab, er sei letztmalig von den unbekannten Personen am 3. November 2015 bedroht worden, während er in der informatorischen Anhörung des Gerichts angab, er habe die Männer nach dem Vorfall im Oktober 2015 nochmals am 3. November 2015 in der Innenstadt von Kabul getroffen, dort habe er sie aber nur gesehen, womit er implizit einen Gesprächskontakt mit diesen Personen und damit auch eine Bedrohung durch sie ausgeschlossen hat.

Eine Würdigung des Inhalts der Kopie des vorgenannten Schreibens vom 24. Oktober 2015 ist schon angesichts dessen nicht möglich, dass der Kläger davon abgesehen hat, dieses in der Bundesamtsakte nicht enthaltene Schriftstück im gerichtlichen Verfahren erneut vorzulegen. Im Übrigen geht das Gericht davon aus, dass im Asylverfahren vorgelegte Dokumente staatlicher Stellen aus Afghanistan zwar einen glaubhaften Vortrag stützen können, ihnen bei einem nicht stimmigen oder unglaubhaften Vortrag jedoch kein Beweiswert irgendwelcher Art zukommt, da Schriftstücke dieser Art in Afghanistan leicht gefälscht und käuflich erworben werden können. Vieles deutet darauf hin, dass es mittlerweile einen regen Handel mit staatlichen Dokumenten aus Afghanistan gibt. Die Authentizität derartiger Schreiben ist oft zweifelhaft und kann mangels geeigneter Beweismittel auch nicht weiter aufgeklärt werden (vgl. insgesamt zum Vorstehenden: VG Cottbus, Urteil vom 8. September 2020 - 3 K 1500/16.A - juris Rn. 28; VG München, Urteil vom 21. April 2020 - M 16 K 17.41340 - juris Rn. 14; Verwaltungsgericht des Saarlandes, Urteil vom 11. September 2018 - 5 K 2596/16 - juris Rn. 26 m.w.N.).

Ist danach der Kläger nicht vorverfolgt aus Afghanistan ausgereist, werden auch weder von ihm nach seiner Flucht eingetretene Umstände geltend gemacht, wegen derer ihm bei einer Rückkehr nach Afghanistan Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, noch sind solche anderweitig ersichtlich.

Soweit der Kläger unter Hinweis auf seine Eigenschaft als Rückkehrer aus dem westlichen Ausland, eine ihm aufgrund seiner profunden Deutschkenntnisse ggf. auch nur unterstellte Nähe zur westlichen Lebensweise sowie seinen vormaligen Wohnsitz in der Nähe des alten Parlamentsgebäudes geltend macht, er habe bei einer Einreise über den Flughafen in Kabul mit asylrechtlich relevanten Verfolgungsmaßnahmen durch die Sicherheitskräfte der Taliban zu rechnen, lassen die genannten Aspekte weder für sich genommen noch im Rahmen einer Gesamtschau eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung des Klägers in Anknüpfung an ein flüchtlingsrechtlich relevantes Merkmal in dessen Person durch die derzeitigen Machthaber oder andere Akteure in Afghanistan beachtlich wahrscheinlich erscheinen.

So kommt zunächst eine Flüchtlingsanerkennung von Rückkehrern aus dem westlichen Ausland unter dem Gesichtspunkt der Gruppenverfolgung nicht in Betracht, da die aus dem westlichen Ausland nach Afghanistan Zurückkehrenden auch unter Berücksichtigung einer etwaigen „westlichen Prägung“ keine bestimmte soziale Gruppe i.S.d. §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG bilden, mithin ein Verfolgungsgrund nicht allein aus der Zugehörigkeit zu diesem Personenkreis hergeleitet werden kann.

Nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 HS 1 AsylG gilt eine Gruppe insbesondere als bestimmte soziale Gruppe, wenn a) die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und b) die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Die mit den Buchstaben a) und b) gekennzeichneten Voraussetzungen des § 3b Abs. 1 Nr. 4 HS. 1 AsylG müssen kumulativ erfüllt sein (vgl. BVerwG, Urteil vom 19. April 2018 – 1 C 29/17 – juris Rn. 29). Das selbständige Erfordernis der „deutlich abgegrenzten Identität“ schließt eine Auslegung aus, nach der eine „soziale Gruppe“ im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG/Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2011/95/EU allein dadurch begründet wird, dass eine Mehr- oder Vielzahl von Personen in vergleichbarer Weise von etwa als Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3a Abs. 1 oder 2 AsylG/Art. 9 Abs. 1 oder 2 RL 2011/95/EU zu qualifizierenden Maßnahmen betroffen wird; nach seinem insoweit eindeutigen Wortlaut greift auch § 3b Abs. 2 AsylG/Art. 10 Abs. 2 RL 2011/95/EU erst bei der tatsächlichen oder zugeschriebenen Zugehörigkeit zu einem der im jeweiligen Absatz 1 genannten Verfolgungsgründe, nicht für die Konstitution der „sozialen Gruppe“ selbst (vgl. BVerwG, Beschluss vom 23. September 2019 – 1 B 54/19 – juris Rn. 8).

Eine im vorgenannten Sinne deutlich abgegrenzte bzw. abgrenzbare Gruppe der westlich geprägten Rückkehrer i.S.d. §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG gibt es in Afghanistan nicht. Die Mitglieder der Gruppe der Rückkehrenden aus dem westlichen Ausland haben keine angeborenen Merkmale gemein und keinen gemeinsamen unveränderbaren Hintergrund und teilen keine für die Identität oder das Gewissen bedeutsamen unverzichtbaren Merkmale oder Glaubensüberzeugungen. Der vorgenannten Gruppe fehlt eine deutlich abgegrenzte Identität, nach der sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet würde (vgl. VG Hamburg, Urteil vom 14. November 2019 - 1 A 2610/17 - juris Rn. 21). Der unbestimmte und pauschale Begriff der „westlichen Prägung“ lässt sich zudem nicht allgemein definieren. Ab wann bzw. kraft welcher Art „westlicher Prägung“ eine Person wegen ihrer angeblich deutlich abgegrenzten Identität von der afghanischen Gesellschaft als andersartig betrachtet werden soll, ist völlig unklar (vgl. VG Berlin, Urteil vom 10. Februar 2022 - 9 K 818.18 A - n.v., S. 11 EA).

Für das erkennende Gericht ist ferner auch nicht beachtlich wahrscheinlich, dass dem Kläger als Rückkehrer aus dem westlichen Ausland in Anknüpfung an eine ihm ggf. auch nur zugeschriebene religiöse, weltanschauliche oder politische Überzeugung i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1, 3b Abs. 1 Nr. 1, Nr. 5 AsylG flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung durch die Taliban als derzeitige Machthaber in Afghanistan oder Dritte, ohne dass ihm diesen gegenüber Schutz durch die derzeitigen Machthaber gewährt werden würde, droht.

Zu der Frage, welche Merkmale Rückkehrern aus dem Ausland durch die afghanische Bevölkerung im Allgemeinen sowie die Taliban im Besonderen zugeschrieben werden, lässt sich den in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln Folgendes entnehmen:

Rückkehrer aus Europa oder dem westlichen Ausland werden von der afghanischen Gesellschaft teilweise misstrauisch wahrgenommen (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht Afghanistan, Stand: Mai 2021 vom 15. Juli 2021, S. 24) und stehen unter dem Verdacht, sich einen westlichen, unmoralischen Lebensstil angeeignet zu haben (vgl. Ronte/Suwelack, Factsheet Afghanistan, September 2022, S. 11). Zurückgeführte Personen aus Europa werden von religiösen Extremisten bezichtigt, verwestlicht zu sein und viele werden der Spionage verdächtigt (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Country of Origin Information, Afghanistan, 10. August 2022, S.194; Stahlmann, Erfahrungen und Perspektiven abgeschobener Afghanen, 2. Auflage, August 2022, S. 4). Viele Taliban und ihre Sympathisanten sind der Ansicht, dass Personen, die Afghanistan verlassen haben, keine islamischen Werte und keine Wurzeln in Afghanistan haben (vgl. Schweiz, Staatssekretariat für Migration [SEM], Verfolgung durch die Taliban: Potentielle Risikoprofile, 15. Februar 2022, S. 44). Unter den Taliban gibt es zwei Darstellungen über Personen, die das Land verlassen, um in westlichen Ländern zu leben. Einerseits jene, die auf eine bessere wirtschaftliche Lage in westlichen Ländern hoffen, andererseits jene, die sich als „Eliten“ gegen die Bevölkerung stellen und als korrupte „Marionetten“ der „Besatzung“ angesehen werden. Letzteres kann neben ehemaligen Regierungsbeamten auch Aktivisten, Medienschaffende und Intellektuelle betreffen. Diese Narrative gibt es auch in der allgemeinen Bevölkerung, da eine Wut auf die vorherige Regierung und die Eliten aufgrund von Korruption und Versagen herrscht (vgl. EUAA, Afghanistan - Targeting of Individuals, Country of Origin Information Report, August 2022, S. 50). Andererseits ist aber auch festzustellen, dass die Taliban Pässen für Afghanen, die im Ausland arbeiten wollen, den Vorrang einräumen (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Country of Origin Information, Afghanistan, 10. August 2022, S.195), was darauf hindeutet, dass ihnen der wirtschaftliche Aspekt der Auswanderung durchaus bewusst ist (vgl. EUAA, Afghanistan - Targeting of Individuals, Country of Origin Information Report, August 2022, S. 50).

Hieraus ist zu schließen, dass es im jeweiligen Einzelfall zwar möglich ist, dass einem Rückkehrer nach einem längeren Aufenthalt im westlichen Ausland eine unislamische Haltung bzw. eine Abkehr vom Islam oder womöglich sogar eine oppositionelle Haltung zu den Taliban unterstellt wird, da aber ebenso der wirtschaftliche Aspekt des Auslandsaufenthalts - jedenfalls bei nicht zur (vormaligen) „Elite“ zählenden Rückkehrern, wie vorliegend dem Kläger - sowohl in der afghanischen Bevölkerung als auch bei den Taliban bekannt ist, erscheint es aus Sicht des Gerichts nicht beachtlich wahrscheinlich, dass Rückkehrern aus dem westlichen Ausland allein aufgrund ihres Auslandsaufenthalts pauschal unterstellt wird, in politischer und/oder religiös/weltanschaulicher Opposition zu den Taliban zu stehen (so im Ergebnis auch: VG Berlin, Urteil vom 24. März 2022 - 20 K 666.17 A - juris Rn. 51; VG München, Urteil vom 24. August 2021 - M 16 K 17.36736 - juris Rn. 47). Zudem obliegt es dem Kläger, sich als Rückkehrer den neuen Gegebenheiten und den - auch unausgesprochenen - sozialen Normen in Afghanistan anzupassen, eine westliche Erscheinung etwa in Kleidung und Haarschnitt sowie westliches Verhalten (z.B. Alkoholkonsum) zu vermeiden und auch keine entspannte oder gar ablehnende Haltung gegenüber der Religion anzuzeigen (i.d.S auch: VG München, Urteil vom 24. August 2021 - M 16 K 17.36736 - juris Rn. 47). Der Kläger macht nicht geltend, dass ihm dies nicht möglich oder nicht zuzumuten wäre.

Ist danach ein Verfolgungsgrund in der Person des Klägers i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1, 3b Abs. 1 Nr. 1, Nr. 5 AsylG als Rückkehrer aus dem westlichen Ausland nicht beachtlich wahrscheinlich, droht ihm darüber hinaus auch nicht aufgrund seines Aufenthalts im westlichen Ausland und einer daraus folgenden - ggf. unterstellten - „Verwestlichung“ eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung i.S.d. §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 3a AsylG mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit.

Da seit der Taliban-Machtübernahme praktisch keine Afghanen mehr aus westlichen Ländern zurückgekehrt sind (vgl. Schweiz, Staatssekretariat für Migration [SEM], Verfolgung durch die Taliban: Potentielle Risikoprofile, 15. Februar 2022, S. 44), liegen keine Erfahrungswerte dazu vor, wie die Taliban und die übrige Bevölkerung in Afghanistan mit Rückkehrern umgehen, die sie als „verwestlicht“ wahrnehmen. Die von dem Kläger angeführte Studie aus der Zeit vor der Machtergreifung durch die Taliban (Stahlmann, Erfahrungen und Perspektiven abgeschobener Afghanen, 2. Auflage, August 2022), nach welcher 52,3 % der Befragten angaben, Gewalterfahrungen aufgrund des Aufenthalts in Europa erlitten zu haben, bietet für eine zuverlässige Prognose keine hinreichende Grundlage. So wurden in der quantitativen Analyse der Studie letztlich nur die Angaben von 63 aus Deutschland abgeschobenen Personen berücksichtigt, obwohl während des Erhebungszeitraums (Dezember 2016 bis März 2020) allein aus Deutschland insgesamt 908 Personen abgeschoben wurden. Schon im Hinblick darauf erscheint die geringe Anzahl der Befragten als nicht repräsentativ. Dies muss erst Recht unter Berücksichtigung dessen gelten, dass in dem genannten Zeitraum auch aus anderen europäischen Ländern und der Türkei Abschiebungen nach Afghanistan erfolgten. Unklar ist auch, aus welchen Umständen die Betroffenen geschlossen haben, dass die erlittene Gewalt gerade in ihrem Status als Rückkehrer aus dem westlichen Ausland begründet war. Insbesondere bei den als „sonstige Täter“ erfassten Kreditgebern von Krediten für die Flucht dürfte die ggf. enttäuschte Erwartung einer Rückzahlung des Kredits und nicht eine vermeintliche „Verwestlichung“ der Betroffenen ursächlich für die Gewaltausübung gewesen sein. Dasselbe dürfte im Hinblick auf Gewalttätigkeiten durch Angehörige der eigenen Familie bzw. derjenigen der Ehepartnerin bei Eheschließung in Deutschland oder durch Familienangehörige der ehemaligen Verlobten bei Auflösung eines vormals in Afghanistan geschlossenen Verlöbnisses gelten. Darüber hinaus wurden in der quantitativen Auswertung der Studie als durch den Aufenthalt in Europa begründete Gewalterfahrungen nicht nur solche der befragten Abgeschobenen selbst aufgenommen, sondern auch solche, welche ihre Familienangehörigen betrafen, wodurch ein Rückschluss auf den Grad der Gefährdung der Betroffenen selbst nicht mehr möglich ist. Schließlich können die Ergebnisse der vorgenannten Studie für den Fall des Klägers auch deshalb nicht der Prognose einer beachtlich wahrscheinlichen Gefährdungslage zugrunde gelegt werden, weil in der Studie ausschließlich die Aussagen abgeschobener Afghanen dokumentiert wurden. Demgegenüber ist vom Kläger - wie bereits ausgeführt - zu erwarten, dass er sich bei einer etwaigen Ausreiseverpflichtung rechtskonform verhält und sich selbst um seine Rückkehr kümmert und insofern auch auf eine Reintegration in sein Herkunftsland vorbereitet. Soweit nach den Ausführungen der Studie auch Gespräche mit sechs freiwilligen Rückkehrern sowie Angehörigen, Freunden und Unterstützerinnen bzw. Unterstützern von acht weiteren freiwilligen Rückkehrern geführt wurden, fehlen Angaben dazu, inwieweit bei der Personengruppe der freiwilligen Rückkehrer vergleichbare Erfahrungen vorliegen - zumal die Tatsache der Abschiebung selbst als ein Risikofaktor für Gewalterfahrungen gewertet wird - und inwiefern darüber hinaus die Erfahrungen dieser geringen Anzahl von insgesamt lediglich 14 Personen verallgemeinerungsfähig sind (vgl. insgesamt zum Vorstehenden: Stahlmann, Erfahrungen und Perspektiven abgeschobener Afghanen, 2. Auflage, August 2022, insbes. S. 20 f., 34, 36, 49 ff., 96).

Soweit in der vom Kläger zitierten Studie auf eine Ankündigung der Taliban, Scharia-verletzendes Verhalten nach einer Rückkehr aus Europa strafrechtlich verfolgen zu wollen, hingewiesen wird (vgl. Stahlmann, Erfahrungen und Perspektiven abgeschobener Afghanen, 2. Auflage, August 2022, S. 7), ist gegenwärtig nicht ersichtlich, ob und in welchem Einzelfall eine Bestrafung erfolgen wird, zumal auch nach der Scharia selbst im Falle einer als „ungeheuerliche Straftat“ geltenden Apostasie dem Betroffenen vor einer Bestrafung die Möglichkeit eines Widerrufs eingeräumt werden muss (vgl. Landinfo, Afghanistan, The situation of Christian converts, 7. April 2021, S. 23 f.), es also selbst bei einer Unterstellung der Abkehr vom Islam nicht ohne Weiteres zu einer ggf. unverhältnismäßigen Strafverfolgung kommen würde.

Soweit der Kläger befürchtet, als Rückkehrer aus dem westlichen Ausland bei einer Einreise über den Flughafen Kabul einer eingehenden Befragung durch die Sicherheitskräfte der Taliban unterzogen zu werden, in deren Rahmen er seinen früheren Wohnsitz in der Nähe des alten Parlamentsgebäudes preiszugeben habe, worin durch die Taliban ein sicherheitsrelevanter Aspekt gesehen werde, weshalb mit weiteren Nachfragen durch die Sicherheitskräfte zu rechnen sei, vermag das Gericht auch insoweit nicht die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer flüchtlingserheblichen Verfolgung in Anknüpfung an ein flüchtlingserhebliches Merkmal in der Person des Klägers zu erkennen. Eine eingehende Befragung und auch weitere Nachfragen bei der Einreise erreichen schon nicht die Intensität von Verfolgungshandlungen i.S.d. § 3a Abs. 1 AsylG. Darüber hinaus ist auch nichts dafür ersichtlich, dass der Wohnsitz einer Person in der Nähe des (vormaligen) Parlamentsgebäudes bei den Taliban zu Sicherheitsbedenken führen oder ein bestehendes Misstrauen steigern oder bestätigen könnte. Bei der Straße Darulaman, an welcher das vormalige Parlamentsgebäude gelegen ist, handelt es sich um eine zentrale Straße in Kabul, entlang derer ausweislich des in der mündlichen Verhandlung eingesehenen Kartenauszugs von Google Maps dichte Bebauung angesiedelt ist, welche auch diverse staatliche und private Einrichtungen aufweist bzw. aufwies, wie z.B. Ministerien, ein Fast-Food-Restaurant, Supermärkte oder universitäre Einrichtungen, es handelt sich mithin um ein typisches innerstädtisches Gebiet einer Hauptstadt, so dass nicht ersichtlich ist, weshalb ein Wohnsitz in diesem Gebiet überhaupt Sicherheitsbedenken bei den Taliban auslösen sollte. Der Kläger macht auch nicht geltend, dass sein Wohngebäude in einem besonderen Sicherheitsbereich o.ä. gelegen habe.

Auch die in der mündlichen Verhandlung gezeigten profunden Deutschkenntnisse des Klägers vermögen nicht die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer flüchtlingserheblichen Verfolgung in Anknüpfung an ein flüchtlingserhebliches Merkmal in der Person des Klägers zu begründen. So ist schon nicht ersichtlich, inwiefern die in Deutschland erworbenen Sprachkenntnisse des Klägers für die afghanische Gesellschaft oder die Sicherheitskräfte der Taliban überhaupt ohne - vermeidbares - Zutun des Klägers erkennbar sein sollen. Zudem dürfte es eine Selbstverständlichkeit sein, dass ein Rückkehrer die Sprache des Landes, in dem er sich für längere Zeit aufgehalten hat, mehr oder weniger gut beherrscht, wobei der Grad des Spracherwerbs ohnehin für etwaige Akteure in Afghanistan nicht erkennbar sein dürfte.

Vermögen demnach weder die Eigenschaft des Klägers als Rückkehrer aus dem westlichen Ausland, noch eine ihm aufgrund seiner profunden Deutschkenntnisse ggf. auch nur unterstellte Nähe zur westlichen Lebensweise noch sein vormaliger Wohnsitz in der Nähe des alten Parlamentsgebäudes für sich genommen eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung des Klägers in Anknüpfung an ein flüchtlingsrechtlich relevantes Merkmal in dessen Person beachtlich wahrscheinlich erscheinen lassen, ist auch bei einer Gesamtschau der vorgenannten Aspekte keine andere Beurteilung geboten, da nach den vorstehenden Ausführungen jedenfalls den beiden letztgenannten Kriterien keine risikoerhöhende Wirkung zukommt.

Die Versagung der Zuerkennung subsidiären internationalen Schutzes ist nicht rechtswidrig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO. Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) keinen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 AsylG.

Dem im Zeitpunkt seiner Ausreise nicht vorverfolgten Kläger droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan weder die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe gem. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG noch unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG. Weder besteht die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung durch die Sicherheitskräfte der Taliban noch droht eine derartige Gefahr durch andere Akteure. Auf die vorherigen Ausführungen wird Bezug genommen.

Auch mit Blick auf die schlechte Versorgungslage in Bezug auf Nahrung, Wohnraum und Gesundheitsversorgung in seinem Herkunftsland kann der Kläger nicht eine den subsidiären Schutz begründende Gefahr eines ernsthaften Schadens in Form von unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG begründen. Eine derartige Gefahr muss nach § 4 Abs. 3 AsylG stets von einem Akteur i.S.d. § 3c AsylG ausgehen. Insofern bedarf es eines zielgerichteten und bewussten Handelns bzw. Unterlassens eines Akteurs, das die schlechte humanitäre Lage hervorruft oder erheblich verstärkt (vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Mai 2020 – 1 C 11/19 – juris Rn. 11 ff.). Dies lässt sich für Afghanistan nicht feststellen.

Die schlechte Versorgungslage in Afghanistan wird durch die schlechte wirtschaftliche Entwicklung, die dort herrschenden Umweltbedingungen, die Folgen der Covid-19-Pandemie sowie durch die infolge der Machtübernahme durch die Taliban zu verzeichnenden internationalen Sanktionen negativ beeinflusst und bestimmt. Insofern ist nicht festzustellen, dass den nunmehr in Afghanistan herrschenden Taliban ein wesentlicher Beitrag direkt oder indirekt anzulasten wäre und eine Verhaltensänderung zu einer unmittelbaren Verbesserung der Lage führen könnte. Insbesondere wird weder die notwendige medizinische oder humanitäre Versorgung gezielt vorenthalten noch werden all diese Umstände gezielt herbeigeführt. Soweit in den Jahrzehnte währenden bewaffneten Konflikten und damit in Handlungen staatlicher und nicht-staatlicher Akteure i.S.d. § 3c AsylG eine Ursache für die schlechte humanitäre Situation zu sehen ist, genügt eine reine Kausalität alleine für die Zuerkennung subsidiären Schutzes nicht (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 11. April 2018 – A 11 S 924/17 – juris Rn. 69 - 75).

Dem Kläger droht schließlich auch keine individuelle und konkrete Gefahr eines ernsthaften Schadens infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts gem. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG.

Bei der insoweit gebotenen wertenden Gesamtbetrachtung der Sicherheitslage in Afghanistan ist im Hinblick auf die allgemeine Gefahrendichte im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt festzustellen, dass einhergehend mit dem Abzug der internationalen Truppen aus Afghanistan und der Übernahme der (faktischen) Regierungsgewalt und der Gebietskontrolle durch die Taliban unter Beendigung der Kampfhandlungen zwischen diesen und den afghanischen Sicherheitskräften seit Mitte August 2021 die allgemeine Gefahrendichte extrem abgenommen hat. So ging die Zahl der sicherheitsrelevanten Zwischenfälle nach dem 15. August 2021 deutlich zurück, von 600 auf weniger als 100 Zwischenfälle pro Woche. Aus den verfügbaren Daten für den Zeitraum bis Ende 2021 geht hervor, dass bewaffnete Zusammenstöße gegenüber demselben Zeitraum im Vorjahr um 98% von 7.430 auf 148 Vorfälle zurückgingen, Luftangriffe um 99% von 501 auf 3, Detonationen von improvisierten Sprengsätzen um 91% von 1.118 auf 101 und gezielte Tötungen um 51% von 424 auf 207 (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Country of Origin Information, Afghanistan, 10. August 2022, S. 16). Zwar gibt es im Territorium von Afghanistan gewaltsamen Widerstand gegen die Taliban, insbesondere durch den dort agierenden Ableger der Terrororganisation „Islamischer Staat“, den ISKP, welcher für Anschläge u.a. auf Moscheen und Schulen verantwortlich gemacht wird. Angesichts dessen, dass derartige Vorkommnisse aber deutlich abgenommen haben und der ISKP Schätzungen zufolge über eine Kerngruppe von lediglich 1.500 bis 2.200 Kämpfern verfügt, die sich auf autonom agierende Zellen und kleine Gruppierungen im ganzen Land verteilen (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Country of Origin Information, Afghanistan, 10. August 2022, S. 86; ACCORD, Afghanistan: Aktuelle Lage & Überblick über relevante Akteure; Situation gefährdeter Gruppen, März 2022, S. 6 f.; UK Home Office, Afghanistan, Security Situation, 09. Februar 2022, S. 16 ff.; BFA Länderinformation der Staatendokumentation, Country of Origin Information, Afghanistan, 28. Januar 2022, S. 81 f.), kann aber nicht angenommen werden, dass diese Bedrohung aktuell ein Ausmaß erreicht, bei welchem für jede Zivilperson die Gefahr eines ernsthaften Schadens bzw. einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib und Leben infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikt besteht (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 3. März 2022 - 12 N 188/21 - n.v., S. 2 f. EA; VG Bremen, Urteil vom 14. Januar 2022 – 3 K 3558/17 – juris Rn. 39).

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 2, 161 Abs. 2 Satz 1 VwGO, 83b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 der Zivilprozessordnung.