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Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche


Metadaten

Gericht VG Cottbus 8. Kammer Entscheidungsdatum 09.02.2023
Aktenzeichen 8 L 329/22 ECLI ECLI:DE:VGCOTTB:2023:0209.8L329.22.00
Dokumententyp Beschluss Verfahrensgang -
Normen § 123 VwGO, § 35a SGB 8

Tenor

Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, über den Antrag des Antragstellers vom 28. April 2022 auf Weitergewährung von Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche gemäß § 35 a des Achten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VIII) in Form einer autismusspezifischen Fachberatung und Förderung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.

Die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden, tragen die Beteiligten je zur Hälfte.

Gründe

Die Entscheidung ergeht gemäß § 87a Abs. 2 und 3 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) im Einverständnis mit den Beteiligten durch die Vorsitzende der Kammer als Berichterstatterin.

Der sinngemäße Antrag des Antragstellers,

den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung im Hauptsacheverfahren Eingliederungshilfe gemäß § 35 a SGB VIII in Form einer autismusspezifischen Fachberatung und Förderung im bisherigen Umfang zu gewähren,

ist nach § 123 Abs. 1 Satz 2, Abs. 5 VwGO statthaft und auch im Übrigen zulässig, nachdem der Antragsgegner eine Fortführung der ursprünglich mit Bescheiden vom 24. September 2020 und 21. Oktober 2021 bewilligten Eingliederungshilfe in Form einer autismusspezifischen Fachberatung und Förderung über den 30. September 2022 hinaus mit Bescheid vom 1. September 2022 abgelehnt hat und in der Hauptsache hiergegen eine Verpflichtungsklage im Sinne von § 42 Abs. 1 VwGO in Form der Versagungsgegenklage zu erheben war und von dem Antragsteller unter dem Aktenzeichen VG 8 K 1039/22 auch fristgemäß erhoben worden ist.

Der Antrag ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.

Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Der von dem Antragsteller geltend gemachte Anspruch (Anordnungsanspruch) und die Notwendigkeit einer vorläufigen Regelung, also eine besondere Eilbedürftigkeit (Anordnungsgrund) sind von ihm glaubhaft zu machen, § 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung (ZPO). Erstrebt der Antragsteller – wie hier – eine der Funktion des vorläufigen Rechtsschutzes grundsätzlich widersprechende teilweise oder gänzliche Vorwegnahme der Entscheidung der Hauptsache, kommt eine einstweilige Anordnung dabei nur ausnahmsweise in Betracht, wenn nämlich das Begehren in der Hauptsache schon auf Grund der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes anzustellenden summarischen Prüfung des Sachverhaltes mit größter Wahrscheinlichkeit Erfolg haben wird und dem Antragsteller ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schlechthin unzumutbare, nicht anders abwendbare Nachteile entstünden (vgl. Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28. Juni 2010 – 4 S 98.09 -, juris Rn. 17 ff.; Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 25. Juli 2012 – 1 M 65/12 -, juris Rn. 3).

Hier hat der Antragsteller zwar nicht hinreichend dargelegt und glaubhaft gemacht, dass die von ihm begehrte Fortführung der autismusspezifischen Fachberatung und Förderung in der bisherigen Art und Weise die einzig vertretbare fachliche Maßnahme ist (hierzu unter 1.). Allerdings ist davon auszugehen, dass die Ablehnung seines entsprechenden Antrages vom 28. April 2022 auch unter Berücksichtigung des nur eingeschränkten gerichtlichen Prüfungsmaßstabes mit der gegebenen Begründung rechtswidrig war und der Antragsteller deshalb einen Anspruch auf Neubescheidung seines Begehrens hat (hierzu unter 2.), den er auch im Wege der einstweiligen Anordnung sichern kann (hierzu unter 3.).

1. Der Antragsteller hat nicht hinreichend dargelegt und glaubhaft gemacht, dass allein die nach verständiger Würdigung seines Vorbringens von ihm beanspruchte Fortführung der autismusspezifischen Fachberatung und Förderung in Form der bisherigen Einzelförderung durch F... zur Deckung seines Hilfebedarfs erforderlich und geeignet und damit fachlich vertretbar ist.

Zwar hat der Antragsteller einen Eingliederungshilfebedarf.

Nach § 35 a Abs. 1 SGB VIII haben Kinder oder Jugendliche Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht (Nr. 1) und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist (Nr. 2). Diese Voraussetzungen liegen für den Antragsteller, der insbesondere an einer Autismusspektrumstörung mit stark gestörter Anpassungsfähigkeit, u.a. Verweigerungs- und Vermeidungsverhalten, und beeinträchtigter Aufmerksamkeits- und Impulssteuerung leidet und aufgrund dessen von dem Antragsgegner gegenwärtig auch Eingliederungshilfe in Form von Einzelfallhilfe (Schulbegleitung) erhält, unstreitig vor.

Bei der Entscheidung über die Notwendigkeit und Geeignetheit einer Maßnahme der Jugendhilfe handelt es sich jedoch um das Ergebnis eines kooperativen pädagogischen Entscheidungsprozesses, das nicht den Anspruch auf objektiver Richtigkeit erhebt. Es muss eine angemessene Lösung zur Bewältigung der festgestellten Belastungssituation enthalten, die fachlich vertretbar und nachvollziehbar sein muss. Der dem Träger der Jugendhilfe insoweit zustehende Beurteilungsspielraum unterliegt nur einer eingeschränkten verwaltungsgerichtlichen Kontrolle, die sich darauf zu beschränken hat, ob allgemein gültige fachliche Maßstäbe beachtet worden, sachfremde Erwägungen eingeflossen und die Leistungsadressaten in umfassender Weise beteiligt worden sind (vgl. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 24. Juni 1999 – 5 C 24/98 -, juris Rn. 39; Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 28. Oktober 2014 – 12 ZB 13.2025 -, juris Rn. 19; Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 22. Dezember 2015 – 12 B 1289/15 –, juris Rn. 17).

Dass der Beurteilungsspielraum des Antragsgegners im konkreten Einzelfall dergestalt reduziert war, dass die Fortführung der bisherigen autismusspezifischen Fachberatung und Förderung die insoweit gegenwärtig einzig geeignete und erforderliche Hilfemaßnahme darstellt, vermag die Kammer im Rahmen der hier nur möglichen, aber auch nur gebotenen summarischen Prüfung nicht festzustellen.

So lassen weder der – wie dargestellt unstreitige – grundsätzliche Hilfebedarf des zudem den Pflegegrad 3 und einen Grad der Behinderung von 50 mit dem Merkzeichen H (Hilfslosigkeit) aufweisenden Antragstellers, die als offen bzw. anstehend bezeichneten Beratungsthemen und der geltend gemachte Bedarf seiner Eltern an ihrer flankierenden Beratung hinreichende Rückschlüsse darauf zu, welche Maßnahmen fachlich vertretbar sind, um den daraus resultierenden Hilfebedarf zu decken. Zwar weist der Antragsteller in diesem Zusammenhang plausibel darauf hin, dass die sich ihm und seinen Eltern stellenden Problemlagen immer auch einen autismusspezifischen Gehalt haben dürften und demgemäß auch einer autismusspezifischen Hilfe bedürfen, die etwa durch eine mit den Auswirkungen dieser tiefgreifenden Entwicklungsstörung fachlich nicht vertrauten Person im Rahmen einer reinen psycho- oder familientherapeutischen Hilfe nicht zu gewährleisten sein wird. Dass eine solche autismusspezifische Hilfe aber allein durch die bisherige Einzelförderung durch F...geleistet werden kann, folgt hieraus noch nicht.

Dass die Hilfe bislang als geeignet und erforderlich erachtet worden ist und ausweislich der Einschätzungen sowohl der Eltern des Antragstellers als auch der Fachberaterin eine positive Entwicklung des Antragstellers erfolgreich unterstützt hat, zwingt deren Fortsetzung noch nicht. Zwar weist der Antragsteller zu Recht darauf hin, dass der Erfolg einer Maßnahme zunächst einmal für deren Tauglichkeit spricht und dass, solange noch ein Bedarf vorhanden ist, erreichte Erfolge eine Hilfe nicht ohne weiteres unnötig machen. Andererseits stellt die Bewilligung von Kinder- und Jugendhilfe – wie generell im sozialen Leistungsrecht –- eine zeitabschnittsweise Hilfegewährung dar, die bei Vorliegen der Voraussetzungen im Zeitpunkt ihrer erstmaligen Bewilligung nicht ein für alle Mal zugesprochen wird, sondern deren Voraussetzungen auf Grundlage der jeweils bestehenden, ggf. geänderten Verhältnisse vom Träger der Jugendhilfe zeitabschnittsweise neu zu prüfen sind (vgl. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 8. Juni 1995 – 5 C 30/93 -, juris Rn. 11; Oberverwaltungsgericht Lüneburg, Beschluss vom 19. Januar 2011 - 4 LB 154/10 –, juris Rn 24).

Die im Rahmen dieser Prüfung anlässlich des Hilfeplangespräches vom 28. April 2022 getroffenen Feststellungen und Vereinbarungen geben keine hinreichende Grundlage dafür, die bisher gewährte Hilfe als alternativlos zu bewerten. Das Protokoll selbst enthält als Empfehlung für die Fallberatung nur den Antrag des Antragstellers bzw. seiner Sorgeberechtigten auf Weitergewährung der Eingliederungshilfe und die Terminierung des nächsten Hilfeplangespräches. Die als Anlage beigefügte Gesprächsnotiz vom selben Tage lässt lediglich erkennen, dass die Frage der Weiterführung der Hilfe thematisiert und erörtert worden ist, wobei ersichtlich maßgeblich Eindrücke und Vorstellungen der an der Weiterführung der Hilfe interessierten Eltern des Antragstellers protokolliert wurden. Anhaltspunkte dafür bzw. ein Konsens dergestalt, dass die Weiterführung der Hilfe aus der Perspektive aller Beteiligter und insbesondere des Jugendamtes des Antragsgegners als einzig geeignete Maßnahme betrachtet werden muss, werden auch hieraus nicht hinreichend erkennbar. Hiergegen spricht auch, dass sich die die Hilfe zuletzt durchführende Beratungsstelle bereits am darauffolgenden Tag an das Jugendamt gewandt, die Frage des weiteren Hilfeverlaufs erneut aufgeworfen und dabei eine differenzierte Einschätzung zur weiteren Eignung der Maßnahme abgegeben hat. Auch der Vermerk zu einem weiteren Gespräch mit der Fachberaterin F...am 20. Juni 2022 und der Abschlussbericht der Beratungsstelle vom 4. Oktober 2022 stellen die weitere Erforderlichkeit und Eignung der Hilfe in der bisherigen Form in Frage, so dass davon auszugehen ist, dass dem Antragsgegner ein Beurteilungsspielraum eröffnet war, in dessen Rahmen die geäußerten gegenläufigen Interessen und Einschätzungen zu berücksichtigen waren. Auch die von dem Antragsteller in Bezug genommene Stellungnahme des Sozialpädiatrischen Zentrums (SPZ) am C... vom 30. November 2022 zeigt nicht auf, dass die darin befürwortete Fortführung der bisherigen Hilfe die einzig fachlich vertretbare Maßnahme sei.

Mit seinem Hinweis, dass die seit Februar 2021 als seine Fachberaterin wirkende F...– anders als die zuvor tätigen Fachberaterinnen der Lebenshilfe C...– einen Zugang zu ihm gefunden hat, der eine produktive Arbeit ermöglichte, zeigt der Antragsteller ebenfalls nicht auf, dass diese Hilfeleistung die einzig geeignete ist. Denn dies schließt für sich genommen nicht aus, dass auch in einem anderen Rahmen ein Zugang zu ihm und eine wirksame Hilfeleistung möglich sind, wie etwa die ersichtlich ebenso stützende und förderliche Tätigkeit der – wiederum für die Lebenshilfe C...tätigen – Schulbegleiterin zeigt. Dass Veränderungen für autistische Menschen regelmäßig erhebliche Herausforderungen darstellen, ist zu berücksichtigen, vermag aber Veränderungen, wo sie geboten oder unvermeidbar erscheinen, nicht zu hindern. Diesbezüglich ist darauf hinzuweisen, dass die Initiative, die Fortführung der bisherigen Hilfe zu überdenken, hier gerade von der Fachberatung ausging, die ausweislich des von dem Antragsgegner zur Akte gereichten Telephonvermerks vom 13. Januar 2023 eine weitere Einzelförderung des Antragstellers mittlerweile offenbar ausschließt und hierzu nicht gezwungen werden kann.

Letztlich hat der Antragsteller auch selbst die Möglichkeit anderer Hilfeformen – etwa eines Gruppensettings – nicht ausgeschlossen.

2. Es spricht jedoch Überwiegendes dafür, dass der Bescheid vom 1. September 2022 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. November 2022, mit dem der Antragsgegner den Antrag des Antragstellers auf Weitergewährung der Eingliederungshilfe in Form der autismusspezifischen Fachberatung und Förderung abgelehnt hat, rechtswidrig ist und dass der Antragsgegner den ihm zustehenden Beurteilungsspielraum zur Auswahl geeigneter Maßnahmen zur Deckung des Eingliederungshilfebedarfs des Antragstellers nicht hinreichend ausgeübt hat.

Der Antragsgegner hat in seiner Ablehnungsentscheidung ausdrücklich festgestellt, dass der Antragsteller die Anspruchsvoraussetzungen des § 35 a Abs. 1 SGB VIII für die Gewährung von Eingliederungshilfe erfülle und trotz gemachter Fortschritte in seiner Teilhabe insbesondere in den Lebensbereichen Schule und Familie beeinträchtigt sei. Die trotzdem erfolgte Ablehnung des Antrages des Antragstellers vom 28. April 2022 hat er mit der inzwischen mangelnden Geeignetheit der autismusspezifischen Fachberatung und Förderung begründet und sich hierfür ersichtlich ausschließlich auf die Einschätzungen der Fachberaterin gestützt.

Dies vermag nicht zu überzeugen.

Zum einen hat der Antragsgegner schon nicht berücksichtigt, dass der Antragsteller durch die ersatzlose Beendigung der autismusspezifischen Fachberatung und Förderung jeglicher Hilfe jedenfalls hinsichtlich seines im familiären Bereich bestehenden Eingliederungshilfebedarfes entbehrt. Der wiederholte Hinweis der Fachberatung, dass der Antragsteller in Schule und Hort gut integriert sei, geht insoweit ebenso wie die Feststellung, dass die schulische Förderung hinreichend durch die Einzelfallhilfe gewährleistet werde, daran vorbei, dass auch eine – hier seitens des Antragsgegners festgestellte – Teilhabebeeinträchtigung im familiären Bereich einen Anspruch auf Eingliederungshilfe begründet, der durch die allein verbliebene Einzelfallhilfe in Schule und Hort nicht erfüllt wird. Angesichts des in den hier streitgegenständlichen Bescheiden ausdrücklich festgestellten Eingliederungshilfebedarfs auch im familiären Bereich erscheint das Ergebnis der Fallberatung des Jugendamtes vom 20. Juli 2022, der Antragsteller sei eingegliedert und habe keine Nöte und Bedarfe, diese seien vielmehr gedeckt und die Hilfeziele erreicht, nicht nachvollziehbar. Soweit der Ablehnungsbescheid vom 1. September 2022 sodann die Empfehlung enthält, sich „im Bedarfsfall“ an die Autismus Beratungsstelle der Lebenshilfe C...zu wenden, bleibt offen, welcher Bedarfsfall, für den der Antragsgegner sich in seiner Funktion als öffentlicher Eingliederungshilfe-Träger für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche offensichtlich nicht zuständig hält, damit gemeint sein soll.

Hinzu kommt, dass jedenfalls F...den Antragsteller erst seit Oktober 2020 betreut hat, nachdem die Zusammenarbeit mit dem vorigen Träger nicht optimal funktioniert hatte. Nach den Einschätzungen des Antragsgegners und der Fachberatung benötigte sie das erste Jahr, um sich „mühsam“ das Vertrauen des Antragstellers und seiner Familie zu erarbeiten. Auch insoweit erscheint es wenig plausibel und nachvollziehbar, dass nur ein weiteres Jahr ausgereicht haben soll, um die Hilfeziele der autismusspezifischen Fachberatung und Förderung vollständig zu erreichen, zumal der Antragsteller – ebenfalls nach den Feststellungen des Antragsgegners – innerhalb der Diagnose Autismusspektrumstörung „enorm auffällig und sehr betroffen“ ist.

Dementsprechend sieht es die Fachberaterin noch in ihrem Zwischenbericht vom 27. April 2022 für den weiteren Verlauf der Hilfe jedenfalls als wichtig an, namentlich das Thema Wut mit dem – seine Handlungsimpulse häufig nicht steuern könnenden, teilweise herausfordernde und autoaggressive Verhaltensweisen zeigenden – Antragsteller gemeinsam zu bearbeiten. Nach Abschluss dieses Themas seien zunächst alle relevanten Themen mit dem Antragsteller bearbeitet, jedoch sei es sinnvoll, für den Bedarfsfall für die Kindeseltern eine Ansprechperson für autismusspezifische Probleme zu haben. Im Hilfeplangespräch vom 28. April 2022 werden sowohl das Thema Wut als auch die Selbst- und Fremdwahrnehmung des Antragstellers, um Bedürfnisse anderer erkennen und berücksichtigen zu können, als offen bewertet und vereinbart, dass die Eltern weitere Themen erarbeiten, deren Priorisierung und Vermittlung an die richtige Stelle gemeinsam mit der Fachberaterin erfolgen soll. Diesbezüglich hat die Fachberaterin „zusätzlich“ ein familientherapeutisches Angebot oder eine Erziehungsberatung empfohlen, um in der Bearbeitung der Erziehungsziele erfolgreicher zu sein und da es sich bei der insoweit erforderlichen Beratung – so ihre Einschätzung in dem Telephonat am 20. Juni 2022, nachdem die Eltern des Antragstellers ihre Themenliste vorgelegt hatten – um „keine reine“ Leistung der autismusspezifischen Fachberatung und Förderung handele.

Der Antragsgegner hat es offenkundig unterlassen, auf die im Nachgang zu dem Hilfeplangespräch vom 28. April 2022 seitens der Fachberatung erfolgte Intervention eine nochmalige umfassende Prüfung unter Einbeziehung aller Beteiligter vorzunehmen, um im Rahmen des gebotenen kooperativen Entscheidungsprozesses zu einer fachlich vertretbaren Lösung zu gelangen. Weder insbesondere der Antragsteller und seine Eltern noch etwa das SPZ oder die Schulbegleiterin wurden über die Einwände der Fachberatung informiert und konsultiert; in den beigezogenen Verwaltungsvorgängen des Antragsgegners finden sich diesbezüglich vielmehr nur die wiederholten Stellungnahmen und Berichte der Fachberatung, deren Standpunkt der Antragsgegner ersichtlich einseitig übernommen hat. Gerade die dabei maßgeblich benannte Problematik, dass die Eltern des Antragstellers eine völlig andere Wahrnehmung von der Entwicklung ihres Sohnes und der Aufgabe und Zielrichtung der Hilfe hätten, hätte den Antragsgegner aber veranlassen müssen, Stand und Möglichkeiten der Hilfe mit allem Beteiligten noch einmal zu erörtern, um den im Ergebnis des Hilfeplangespräches vom 28. April 2022 offensichtlich verbliebenen Dissens zu klären. Letztlich drängt sich der Eindruck auf, dass der Antragsgegner die Maßnahme ohne eigene fundierte Prüfung der Bedarfslage nur auf Initiative und Wunsch der Fachberatung beendet hat (vgl. etwa die Formulierung „Trägerbeendigung“ im Betreff des Telephonvermerks vom 24. Juni 2022 oder die Notiz im Telephonvermerk vom 4. Oktober 2022, dass die Fachkraft „aus der Tretmühle der Elternkonflikte aussteigen“ möchte).

Dabei vermögen selbst die Einschätzungen der Fachberaterin die von dem Antragsgegner getroffene Entscheidung nicht hinreichend zu stützen. So wurde etwa das Thema Wut fortlaufend mit dem Antragsteller bearbeitet, ohne dass bis zum Erlass des Ablehnungsbescheides vom 1. September 2022 eine – fundiert begründete – Einschätzung vorlag, dass dieses Thema seinen Abschluss gefunden hat. Vielmehr wird noch in der Fallberatung am 20. Juli 2022 festgestellt, dass das Thema „aktuell intensiv bearbeitet“ werde. Angesichts dessen ist nicht nachvollziehbar, wie die Mitarbeitenden des Jugendamtes des Antragsgegners in derselben Teamsitzung zu dem Ergebnis gelangen konnten, dass alle Hilfeziele erreicht seien.

Soweit die Fachberaterin erstmals in einem Telephonat am 4. Oktober 2022 darauf verweist, der Antragsteller habe kein Interesse, das Thema weiter zu bearbeiten und habe mit Verweigerung gedroht, dürfte allein dies nicht genügen, um einen mangelnden Bedarf zu begründen, zumal eine stark gestörte Anpassungsfähigkeit mit Verweigerungs- und Vermeidungsverhalten zum diagnostizierten Leidensbild des Antragstellers gehört. So heißt es im Abschlussbericht der Fachberatung ebenfalls vom 4. Oktober 2022, dass das Thema Wut bis vor den Sommerferien gut bearbeitet worden sei. Obwohl der Antragsteller sich nicht gern mit diesem Thema beschäftige, habe seine Frustrationstoleranz deutlich gesteigert werden können. Dennoch komme es gegenüber seinem Bruder zu – von beiden Kindern gleichermaßen provozierten – Konflikten. Dieser von den Eltern des Antragsellers immer wieder als Hilfebedarf thematisierte und auch von der Fachberaterin als hoch bezeichnete, wohl auch physische Auseinandersetzungen einschließende Konflikt ist bislang gänzlich unbearbeitet geblieben – der 2016 geborene Bruder sei noch zu jung, um sich mit dem Thema Autismus zu beschäftigen – und spricht jedenfalls dafür, dass auch auf Seiten des Antragstellers noch Förderbedarf insoweit besteht. Gleiches gilt für seine mangelnde Frustrationstoleranz bei Grenzsetzungen im Alltag, auch wenn insoweit bereits Verhaltensverbesserungen beschrieben werden. Entsprechend hat die Fachberaterin keineswegs jeglicher autismusspezifischer Förderung eine Absage erteilt, sondern vielmehr lediglich eine Einzelförderung als momentan nicht mehr notwendig angesehen. Das – etwa durch Aufklärung über die bei Wutausbrüchen im menschlichen Gehirn ablaufenden neuropsychologischen Vorgänge – theoretisch Erlernte sollte ihrer Einschätzung zufolge im Gruppensetting spielerisch angewendet und reflektiert werden, um Handlungsperspektiven anderer besser zu verstehen und darauf angemessen reagieren zu können (Generalisierung). Auch in dem Telephonvermerk vom 4. Oktober 2022 ist festgehalten, dass ein Gruppensetting zur praxisnahen Bearbeitung notwendig sei, um zum Beispiel Themen wie Freundschaft und Empathie zu bearbeiten.

Gerade Letzteres dürfte eine weitere Leerstelle sein. Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft ist gekennzeichnet durch die aktive, selbstbestimmte und altersgemäße Ausübung sozialer Funktionen und Rollen in den das Kind oder den jugendlichen Menschen betreffenden Lebensbereichen wie Familie, Freundeskreis, Schule und Freizeit, wobei eine Störung der Teilhabe bereits dann vorliegt, wenn sich die Störung in einem der Lebensbereiche auswirkt. Sie kann nicht nur durch eine Ausgrenzung der Umwelt, sondern auch durch subjektive Schwierigkeiten des Betroffenen, aktiv am Leben teilzunehmen, bedingt werden.

In ihrem Zwischenbericht vom 2. November 2021 führt die Fachberaterin aus, dass bei dem Antragsteller Unsicherheiten bei der Kontaktaufnahme zu anderen Menschen bestünden, die er häufig zu überspielen versuche oder wegen der er in eine Vermeidungshaltung komme. Hier werde, so die Fachberaterin, weiterhin der Fokus der Maßnahme liegen. Im Protokoll des Hilfeplangespräches vom 11. November 2021 heißt es zudem, dass der Antragsteller Freunde haben wolle, aber noch nicht für wechselseitige Freundschaften bereit sei. Bis zu der insoweit ggf. förderlichen Pubertät schaffe die autismusspezifischen Fachberatung und Förderung zwischenzeitlich Kontakt zu anderen betroffenen Kindern. Soweit es im Abschlussbericht vom 4. Oktober 2022 hierzu unter Bezugnahme auf widersprüchliche Angaben des Antragstellers, ob er Freunde haben möchte oder nicht, heißt, dass er in der Förderung das Thema Freundschaft abgelehnt habe, markiert dies ersichtlich einen insoweit noch offenen Eingliederungsbedarf, der seitens des Antragstellers bzw. seiner Eltern durch den Hinweis bekräftigt wird, dass der Antragsteller keine Freunde habe und etwa auch zu Kindergeburtstagen nicht eingeladen werde. Die Vermeidung des Themas und die Aussage, keine Freunde haben zu wollen, dürften – zumal bei einem neunjährigen Kind – deutlich für eine Störung der Teilhabe an diesem sozialen Bereich und nicht für einen mangelnden Hilfebedarf sprechen.

Diese Feststellungen rechtfertigen die Annahme eines nach wie vor bestehenden Beratungs- und Förderbedarfs des Antragstellers. Hinzu kommt der ersichtlich ebenfalls fortbestehende Beratungsbedarf seiner Eltern zum Umgang mit den autismusspezifischen Verhaltensweisen, mag dieser auch „zusätzlich“ familientherapeutische oder erziehungsberatende Aspekte beinhalten. Wie oben bereits dargelegt, erscheint es ohne hinreichend begründete Feststellungen hierzu – die hier aber nicht erkennbar sind – nicht plausibel, den Beratungsbedarf der Eltern isoliert und ohne Zusammenhang zu der Autismusspektrumstörung ihres Kindes zu betrachten, zumal nicht verkannt werden darf, dass die autismusspezifische Beratung auch der Eltern nicht vordergründig diesen, sondern der Eingliederung des Antragstellers etwa in das Familiensystem zugutekommen soll.

In seiner nochmaligen Entscheidung über den Antrag des Antragstellers zur Fortführung der autismusspezifischen Fachberatung und Förderung wird der Antragsgegner diese Aspekte unter Einbeziehung der aktualisierten Angaben aller an dem Hilfeprozess zu beteiligenden Personen zu berücksichtigen haben, um eine bedarfsgerechte Maßnahme der Eingliederungshilfe für den Antragsteller zu prüfen und zu installieren. Dabei wird er insbesondere auch den absehbar anstehenden und aller Voraussicht nach behutsam vorzubereitenden Schulwechsel des Antragstellers und die sich in diesem Zusammenhang stellenden enormen sozialen Herausforderungen zu berücksichtigen haben, soweit sich diese bereits jetzt auf den Hilfebedarf auswirken. Ob sich hierbei doch die Fortführung einer Einzelförderung oder etwa ein Gruppensetting, ein autismusspezifisches Kompetenztraining oder eine andere Maßnahme als erforderlich und geeignet erweisen werden, unterliegt – wie oben dargelegt – seinem Beurteilungsspielraum. Vorsorglich weist das Gericht aber bereits jetzt darauf hin, dass der Antragsgegner in dem Fall, dass sich der Antragsteller etwa durch eine veränderte Maßnahme überfordert fühlen sollte, verpflichtet sein wird, die prognostische Einschätzung der Geeignetheit einer bestimmten Hilfemaßnahme erneut darauf hin zu überprüfen, ob es anderer oder ergänzender Maßnahmen bedarf, um die Hilfe sinnvoll weiterzuführen (vgl. so Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 12. Juli 2022 – OVG 6 S 34/22 -, S. 4 f. EA).

3. Der in der Hauptsache hiernach voraussichtlich bestehende Neubescheidungsanspruch des Antragstellers kann auch im Rahmen des einstweiligen Rechtschutzverfahrens durch Verpflichtung des Antragsgegners zur Neubescheidung gesichert werden, was insbesondere dann in Betracht kommt, wenn – wie hier – ein berechtigtes Interesse daran besteht, dass die Behörde möglichst frühzeitig eine erneute Entscheidung trifft. Der darauf gerichtete Antrag ist im weitergehenden Verpflichtungsantrag enthalten, zumal es grundsätzlich im Ermessen des Gerichts steht, die notwendigen und zweckmäßigen Anordnungen zu treffen, § 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. § 938 Abs. 1 ZPO (vgl. zum Ganzen: Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 12. Juli 2022 – OVG 6 S 34/22 -, S. 5 f. EA; Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 28. Januar 2019 – 15 B 624/18 -, juris Rn. 67 ff.; Sächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 11. September 2002 – 4 BS 228/02 –, juris Rn. 22).

4. Auch einen Anordnungsgrund hat der Antragsteller glaubhaft gemacht. Die tenorierte Anordnung erscheint erforderlich, um wesentliche Nachteile für ihn abzuwenden, nachdem sein diesbezüglicher Hilfebedarf nach Auslaufen der bisherigen Förderung Ende September 2022 bereits seit vier Monaten ungedeckt ist und er nach seinen unwidersprochen gebliebenen Angaben im vorliegenden Verfahren bereits wieder vermehrt autoaggressive Verhaltensweisen zeigt. Dem steht, da der Antragsgegner nach wie vor an seinem Abweisungsantrag festhält, auch nicht entgegen, dass er auf Anregung des Gerichtes selbst offensichtlich einer möglichen Neubescheidung nach Abschluss des vorliegenden Verfahrens nicht mehr ablehnend gegenüber steht, zumal er die verfahrensrechtlich zu ziehenden Konsequenzen hieraus ausdrücklich dem Gericht überlässt.

Da der Antragsteller glaubhaft gemacht hat, das für das Bestehen des Anordnungsanspruches hier ein ausreichend hoher Grad an Wahrscheinlichkeit spricht, und die gegenläufigen öffentlichen Interessen der Verwaltung nicht überwiegen, steht der einstweiligen Anordnung auch mit Blick auf das Gebot des effektiven Rechtschutzes des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 des Grundgesetzes entgegen der Auffassung des Antragsgegners nicht entgegen, dass sie das mögliche Ergebnis der Entscheidung im Hauptsacheverfahren vorwegnimmt.

5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Gemäß § 188 Satz 2 VwGO ist das Verfahren gerichtskostenfrei.