Gericht | VG Cottbus 6. Kammer | Entscheidungsdatum | 14.09.2022 | |
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Aktenzeichen | 6 K 199/17.A | ECLI | ECLI:DE:VGCOTTB:2022:0914.6K199.17.A.00 | |
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 60 Abs 5 AufenthG |
Soweit der Kläger die Klage zurückgenommen hat, wird das Verfahren eingestellt.
Die Beklagte wird unter Aufhebung der Ziffern 4. bis 6. ihres Bescheides vom 17. Januar 2017 verpflichtet, festzustellen, dass zugunsten des Klägers ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorliegt.
Die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens tragen der Kläger zu 2/3 und die Beklagte zu 1/3.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Der Kläger begehrte mit seiner Klage ursprünglich die Verpflichtung der Beklagten zur Flüchtlingsanerkennung bzw. Gewährung internationalen Schutzes sowie hilfsweise die Feststellung, dass Abschiebungsverbote hinsichtlich seines Herkunftslandes Afghanistan vorliegen.
Der Kläger ist afghanischer Staatsbürger und wurde nach eigenen Angaben am 26. Februar 1997 im Distrikt Taloqan in der Provinz Takhar in Afghanistan geboren. Er gehöre dem Volk der Tadschiken an und sei sunnitischer Moslem. Der Vater des Klägers sei bereits vor Jahren verstorben. Er habe in Afghanistan zuletzt gemeinsam mit seiner Mutter, einem älteren Bruder und zwei Schwestern sowie seiner Großfamilie gelebt. Er habe die Schule bis zur 8. Klasse besucht und anschließend selbstständig mit seinem Computer Handys repariert bzw. Software aktualisiert. Afghanistan habe er am 15. August 2015 verlassen und sei über den Iran, die Türkei, Griechenland und die Balkanroute über den Landweg am 25. Oktober 2015 nach Deutschland eingereist. Für seine Reise habe er 3.000 $ gezahlt.
Am 16. Dezember 2015 stellte der Kläger einen Asylantrag.
Im Rahmen seiner persönlichen Anhörung in der Außenstelle des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am 2. November 2016 gab der Kläger im Wesentlichen an, dass er etwa drei Jahre vor seiner Ausreise aus Afghanistan von dem Kommandeur einer lokalen Miliz (sog. Arbak-Miliz) von zu Hause mitgenommen und gezwungen worden sei, zur Belustigung der Miliz als Tanzknabe zu arbeiten. Dieser Kommandeur habe den Kläger über Monate hin unzählige Male sexuell missbraucht. Nachdem der Kläger trotz mehrmaliger Fluchtversuche immer wieder unter Drohungen gegenüber ihm und seiner Familie von der Miliz zurückgeholt, verprügelt und mit einem Messer verletzt worden sei, sei es ihm letzten Endes während eines Einsatzes dieser privaten Sicherheitsbehörde dennoch gelungen, zu fliehen. Er habe sich danach zwei bis drei Wochen bei seiner Mutter versteckt gehalten und sei anschließend nach Kabul gegangen. Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan habe der Kläger Angst von dem Kommandeur, dem ca. 2000 Soldaten unterstellt seien, getötet zu werden.
Mit Ablehnungsbescheid vom 17. Januar 2017, der dem Kläger am 23. Januar 2017 zugestellt wurde, versagte die Beklagte – vertreten durch das Bundesamt – die Flüchtlingseigenschaft, lehnte den Antrag auf Asylanerkennung ab und erkannte keinen subsidiären Schutzstatus zu. Darüber hinaus stellte das Bundesamt in seinem Bescheid fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 S. 1 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorliegen. Der Kläger wurde zudem aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe dieser Entscheidung zu verlassen. Der Kläger wurde darauf hingewiesen, dass falls er die Ausreisefrist nicht einhalten werde, er nach Afghanistan abgeschoben werden wird. Darüber hinaus wurde das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. Zur Begründung seiner Entscheidung führte das Bundesamt im Wesentlichen aus, dass der Kläger als sogenannter Tanzknabe Afghanistan zwar vorverfolgt verlassen habe, da er das asylerhebliche Merkmal der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, dass auch vorliegen könne, wenn sie allein an das Geschlecht und die geschichtliche Identität anknüpfe, er jedoch nunmehr als Erwachsener, nicht mehr als sogenannter Tanzknabe in Betracht komme. Nach der Auskunftslage würden nur Jungen im Alter zwischen elf und 16 Jahren im Rahmen der sogenannten „Batscha Basi“ missbraucht. Sobald der Bartwuchs einsetze, würden diese Jungen gegen jüngere ausgetauscht werden. Eine Wiederholung der vorgetragenen fluchtauslösenden Ereignisse gegen den Kläger aufgrund der sogenannten „Batscha Basi“ könne daher bei einer Rückkehr nach Afghanistan nicht mit der erforderlichen hinreichenden Wahrscheinlichkeit angenommen werden. Doch selbst wenn der Kläger aufgrund seiner Flucht vor dem Kommandeur von diesen verfolgt werden würde, müsse er sich auf den internen Schutz im Sinne des § 3e AsylG verweisen lassen. Es sei dem Kläger zuzumuten, sich bei einer Rückkehr nach Afghanistan in einem staatlich kontrollierten Teil von Afghanistan aufzuhalten Auch lägen die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nicht vor. Der Kläger müsse keine ernsthafte individuelle Bedrohung seines Lebens oder seiner körperlichen Unversehrtheit befürchten. Schließlich seien keine Abschiebungsverbote gegeben.
Mit seiner zunächst in der Rechtsantragsstelle am 30. Januar 2017 erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Zur Begründung bezieht er sich im Wesentlichen auf sein Vorbringen in der persönlichen Anhörung beim Bundesamt. Ergänzend führt er aus, dass staatlicher Schutz für den Kläger in Afghanistan nicht zu erlangen sei. Bei einer etwaigen Rückkehr drohe dem Kläger wiederholt der sexuelle Missbrauch. Jedenfalls drohe ihm die Tötung, da er von dem Kommandeur und dessen Sicherheitsbehörde unerlaubt geflohen sei. Zudem habe sich die Sicherheitslage in Afghanistan dramatisch verschlechtert. Insoweit seien die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbotes erfüllt. Der Kläger sei auf sich allein gestellt nicht in der Lage durch schwere körperliche Arbeit ein Existenzminimum zu erwirtschaften, da er an erheblichen psychischen Erkrankungen leide. Insoweit gehöre er zum besonders schützenswerten Personenkreis. Letztlich habe der Kläger auch in Afghanistan kein Auffangnetz und sei, weil er keinerlei familiären oder sonstigen Rückhalt mehr in Afghanistan habe, auf sich allein gestellt. Seine Mutter sei am 1. November 2020 an Corona verstorben. Ein Bruder des Klägers lebe mittlerweile in der Bundesrepublik Deutschland. Er arbeite als Minijober auf der Baustelle. Der Kläger arbeitet zurzeit bei einer Dachbaufirma und habe vor ab November 2022 eine einjährige Ausbildung als Altenpfleger zu beginnen. Zu seinen zwei weiteren Brüdern habe er seit 2019 keinen Kontakt. Damals hätten sich seine Brüder in Pakistan befunden. Zu seinen drei Schwestern habe der Kläger seit dem Jahre 2018 keinen Kontakt. Der Kläger verfüge weder über ein nachhaltiges familiäres oder soziales Netzwerk, noch über eine nachhaltige finanzielle oder materielle Unterstützung oder ein ausreichendes Vermögen. Infolge der SARS-CoV-2 Pandemie seien zudem die Preise für Grund-Nahrungsmittel in Afghanistan erheblich gestiegen. Teehäuser, in denen eine Vielzahl von Rückkehrern Unterkunft fänden, schlössen sukzessive. Es sei auch nicht zu erkennen, wie es dem Kläger angesichts der erheblichen Preissteigerungen für Lebensmittel gelingen soll, seine Versorgung ausreichend sicherzustellen. Der Kläger wäre in Afghanistan obdachlos und ohne Unterbringungsmöglichkeit. Die Situation werde sich nicht kurzfristig ändern, so dass es beachtlich wahrscheinlich sei, dass die durch die Pandemie eingetretenen Verschlechterungen der humanitären Lage in Afghanistan sich über mehrere Jahre hinziehen werden. Diese Einschätzung gelte nicht nur für den Ankunftsort Kabul, sondern in Anbetracht der Verhältnisse Afghanistans landesweit.
Nachdem der Kläger die Klage in der mündlichen Verhandlung teilweise zurückgenommen hat, beantragt er zuletzt,
die Beklagte unter teilweiser Aufhebung ihres Bescheides vom 17. Januar 2017, zu verpflichten, festzustellen, dass die Voraussetzungen für Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes hinsichtlich Afghanistans vorliegen.
Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte ist dem klägerischen Vorbringen entgegengetreten. Zur Begründung bezieht sie sich im Wesentlichen auf ihre Ausführungen im Ablehnungsbescheid vom 17. Januar 2017. Ergänzend führt sie aus, dass es sich bei dem Kläger weiterhin um einen gesunden und grundsätzlich arbeitsfähigen jungen Mann handele, für welchen auch nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan zum jetzigen Zeitpunkt nicht pauschal und generell ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG festgestellt werden könne. Besondere individuelle Umstände in der Person des Klägers, die eine hiervon abweichende Bewertung zu Gunsten des Klägers rechtfertigen würden, könnten im Falle des Klägers nicht ausgemacht werden, da der Kläger aktuell im Bundesgebiet einer Erwerbstätigkeit nachgehe.
Mit unanfechtbarem Kammerbeschluss vom 6. Juni 2019 wurde der Rechtsstreit nach Anhörung der Beteiligten auf den Berichterstatter als Einzelrichter übertragen.
In der mündlichen Verhandlung hat das Gericht den Kläger informatorisch angehört. Wegen der Einzelheiten wird auf die Sitzungsniederschrift in der Gerichtsakte verwiesen. Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten bezüglich des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte, den Verwaltungsvorgang des Bundesamtes sowie die Erkenntnismittelliste für Afghanistan Bezug genommen. Sämtliche Unterlagen waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Entscheidungsfindung des Gerichts.
Über die Klage konnte in Abwesenheit eines Vertreters der Beklagten verhandelt und entschieden werden, weil die Beklagte auf diese Folge mit der Ladung vom 16. August 2022 zum Termin zur mündlichen Verhandlung ausdrücklich hingewiesen wurde, § 102 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
Die Entscheidung war gemäß § 76 Abs. 1 des Asylgesetzes (AsylG) durch den Einzelrichter zu treffen, dem der Rechtsstreit nach Anhörung der Beteiligten mit unanfechtbarem Beschluss der Kammer vom 6. Juni 2019 übertragen wurde.
Soweit der Kläger die Klage zurückgenommen hat, wird das Verfahren eingestellt, § 92 Abs. 3 S. 1 VwGO.
Soweit die zulässige Klage nicht zurückgenommen wurde, hat sie in der Sache Erfolg. Dem Kläger steht der zuletzt geltend gemachte Anspruch zu.
Der Bescheid vom 17. Januar 2017 ist – soweit er angegriffen wurde –, einschließlich der darin enthaltenen Abschiebungsandrohung sowie des Einreise- und Aufenthaltsverbotes rechtswidrig und verletzt den Kläger insoweit auch in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 S. 1 VwGO).
Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung gemäß § 77 Abs. 1 AsylG einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes hinsichtlich Afghanistans nach § 60 Abs. 5 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG).
Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit eine Abschiebung nach den Bestimmungen der europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) unzulässig ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Vorgängerregelung in § 53 Abs. 4 AuslG (vgl. BVerwG, Urteil vom 11. November 1997 – 9 C 13.96 –, juris Rn. 8 ff.) umfasst der Verweis auf die EMRK lediglich Abschiebungshindernisse, die in Gefahren begründet liegen, welche dem Ausländer im Zielstaat der Abschiebung drohen („zielstaatsbezogene" Abschiebungshindernisse). Insbesondere sind zu nennen das Recht auf Leben (Art. 2 Abs. 1 EMRK) und das Verbot der Folter (Art. 3 EMRK).
Eine Verletzung von Art. 3 EMRK setzt die tatsächliche Gefahr der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung – für die Gefahr der Folter des Klägers bestehen keinerlei Anhaltspunkte – voraus. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte muss demnach eine ausreichende reale, nicht nur auf bloßen Spekulationen gegründete Gefahr bestehen. Die tatsächliche Gefahr („real risk“) einer Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Behandlung muss aufgrund aller Umstände des jeweiligen Einzelfalles hinreichend sicher und darf nicht hypothetisch sein (EGMR, Urteil vom 28. Juni 2011 - 8319/07 und 11449/07 [Sufi and Elmi v. The United Kingdom] -, Rn. 212 ff., Urteil vom 27. Mai 2008 - 26565/05 [N. v. The United Kingdom], Rn. 34 ff.). Der Prognosemaßstab der tatsächlichen Gefahr entspricht hierbei dem der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Beschluss vom 13. Februar 2019 - 1 B 2.19 - juris, Rn. 6; Urteil vom 27. April 2010 - 10 C 5.09 - juris, Rn. 22). Es ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 13. Februar 2019 - 1 B 2.19 - juris, Rn. 6; Urteil vom 20. Februar 2013 - 10 C 23.12 - juris, Rn. 32). Ein eindeutiger, über alle Zweifel erhabener Beweis, dass der Betroffene im Falle seiner Rückkehr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt wäre, kann hingegen nicht verlangt werden (vgl. EGMR, Urteil vom 09. Januar 2018 - 36417/16 [X. v. Sweden] -, Rn. 50; BVerwG, Beschluss vom 13. Februar 2019 - 1 B 2.19 - juris, Rn. 6; VG Freiburg (Breisgau), Urteil vom 5. März 2021 – A 8 K 3716/17 –, Rn. 35, juris).
Eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung kann sich aus einer allgemeinen Situation der Gewalt im Zielstaat ergeben, einem besonderen Merkmal des Ausländers oder einer Verbindung von beidem (vgl. BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013 - 10 C 15.12– juris Rn. 25). Soweit – wie in Afghanistan – ein für die Verhältnisse eindeutig maßgeblich verantwortlicher Akteur fehlt, können in ganz außergewöhnlichen Fällen auch schlechte humanitäre Verhältnisse im Zielstaat Art. 3 EMRK verletzen, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung zwingend sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 – 1 C 45.18 – juris Rn. 12; Beschluss vom 23. August 2018 – 1 B 42.18 – juris Rn. 9: „nur in besonderen Ausnahmefällen“). Die Voraussetzungen können erfüllt sein, wenn der Ausländer nach Würdigung aller Umstände des Einzelfalls im Zielstaat der Abschiebung seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern, kein Obdach finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalten kann (vgl. BVerwG, Beschluss vom 23. August 2018 – 1 B 42.18 – juris Rn. 11). Der EuGH stellt in seiner Rechtsprechung zu Art. 4 Grundrechte-Charta darauf ab, ob sich die betroffene Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und Unterkunft zu finden, und die ihre physische und psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (vgl. EUGH, Urteil vom 19. März 2019 – C-297/17 u.a. – juris Rn. 89 ff.). Die dargestellte Rechtsprechung macht letztlich deutlich, dass von einem sehr hohen Gefahrenniveau auszugehen ist; nur dann liegt ein „ganz außergewöhnlicher Fall“ vor, in dem die humanitären Gründe gegen die Ausweisung „zwingend“ sind (BayVGH, Urteil vom 26. Oktober 2020 – 13a B 20.31087– juris Rn. 21; Urteil vom 28. November 2019 – 13a B 19.33361 – Rn. 21 ff.; Urteil vom 8. November 2018 – 13a B 17.31918 – juris Rn. 20 m.w.N.; OVG Niedersachsen, Urteil vom 29. Januar 2019 – 9 LB 93/18 – juris Rn. 51 m.w.N.; vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 13. Februar 2019 – 1 B 2.19 – juris Rn. 10; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 18. Juni 2019 – 13 A 3930/18 – juris Rn. 111 f. m.w.N.).
Bei der Prüfung, ob ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK vorliegt, ist grundsätzlich auf den gesamten Abschiebungszielstaat abzustellen und zunächst zu prüfen, ob solche Umstände an dem Ort vorliegen, an dem die Abschiebung endet (vgl. BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013 - 10 C 15.12 - juris, Rn. 26 m.w.N.). Stellen die dortigen Verhältnisse einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK dar, ist zu prüfen, ob auch in anderen Landesteilen derartige Umstände vorliegen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 17. Dezember 2020 - A 11 S 2042/20 - juris, Rn. 28; OVG Bremen, Urteil vom 24. November 2020 - 1 LB 351/20 - juris, Rn. 27; Urteil vom 22. September 2020 - 1 LB 258/20 - juris, Rn. 27; VG Freiburg (Breisgau), Urteil vom 05. März 2021 – A 8 K 3716/17 –, Rn. 36, juris).
Für den hier zu entscheidenden Fall stellt sich mit Blick auf § 60 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 3 EMRK allein die Frage, ob der Kläger als leistungsfähiger, junger erwachsener Mann – aber auch, wie im hiesigen Falle ohne tragfähiges familiäres Netzwerk in Afghanistan (hierzu sogleich unten) –, infolge seiner Abschiebung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit derart schlechten humanitären Verhältnisse in Afghanistan ausgesetzt wäre, dass seine Abschiebung mit Blick auf Art. 3 EMRK nicht hinnehmbar wäre.
Das ist nach Überzeugung des Gerichts vorliegend namentlich mit Blick auf die seit der Covid-19-Pandemie und der Machtübernahme der Taliban veränderten Lage in Afghanistan der Fall. Der Kläger muss befürchten, aufgrund der nunmehr extrem angespannten wirtschaftlichen Lage in Afghanistan unter Berücksichtigung seiner individuellen Situation einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung im Falle einer Abschiebung ausgesetzt zu sein.
Die obergerichtliche Rechtsprechung ging zunächst für den Zeitraum vor der Covid-19-Pandemie davon aus, dass im Falle leistungsfähiger, erwachsener Männer ohne Unterhaltsverpflichtungen bei der Rückkehr aus dem westlichen Ausland die hohen Anforderungen des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 3 EMRK nicht erfüllt sind, sofern nicht besondere, individuell erschwerende Umstände festgestellt werden konnten (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29. Oktober 2019 - A 11 S 1203/19 - juris, Rn. 102; Urteil vom 26. Juni 2019 - A 11 S 2108/18 - juris, Rn. 106 ff.; Urteil vom 12. Dezember 2018 - A 11 S 1923/17 - juris, Rn. 191 ff.; Urteil vom 12. Oktober 2018 - A 11 S 316/17 - juris, Rn. 392; Urteil vom 09. November 2017 - A 11 S 789/17 - juris, Rn. 244; OVG Bremen, Urteil vom 12. Februar 2020 - 1 LB 276/19 - juris, Rn. 55 ff.; Bayerischer VGH, Urteil vom 06. Februar 2020 - 13a B 19.33510 - juris, Rn. 17 ff.; Beschluss vom 25. Februar 2019 - 13a ZB 18.32203 -, juris; OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 22. Januar 2020 - 13 A 11356/19 - juris, Rn. 68; Urteil vom 12. Oktober 2018 - A 11 S 316/17 -, juris; Urteil vom 11. April 2018 – A 11 S 924/17, juris; Urteil vom 12. Oktober 2018 – A 11 S 316/17, juris; Hessischer VGH, Urteil vom 23. August 2019 - 7 A 2750/15.A - juris, Rn. 149 f.; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 18. Juni 2019 - 13 A 3930/18.A - juris, Rn. 198 ff.; Sächsisches OVG, Urteil vom 18. März 2019 - 1 A 348/18.A - juris, Rn. 68 ff.; OVG Niedersachsen, Urteil vom 29. Januar 2019 - 9 LB 93/18 - juris, Rn. 55 f.).
Folgendes galt seinerzeit zur Lage in Afghanistan: Afghanistan, das etwa 27 Millionen Einwohner hat, von denen 47,3 Prozent unter 15 Jahre und 60 Prozent unter 25 Jahre alt sind, war eines der ärmsten Länder der Welt. Im Human Development Index aus dem Jahr 2018 rangiert Afghanistan auf dem 168. Platz von insgesamt 189 Plätzen (UN Development Program, Human Development Indices and Indicators, 2018 Statistical Update). Dennoch hatten sich für viele Afghanen die Lebensbedingungen in absoluten Zahlen über die letzten 15 Jahre deutlich verbessert. Seit 2002 erzielte Afghanistan wichtige Fortschritte beim Aufbau seiner Wirtschaft, bleibt aber weiterhin arm und abhängig von Hilfeleistungen. Die Armutsrate sank auf nationaler Ebene und konnte im Norden und Westen des Landes reduziert werden, während sie in Nordostafghanistan in sehr hohem Maße stieg. Die aus Konflikten und chronischer Unterentwicklung resultierenden Folgeerscheinungen im Süden und Osten haben dazu geführt, dass dort ca. eine Million oder fast ein Drittel aller Kinder als akut unterernährt gelten. Der Dienstleistungs- und Industriesektor wuchs in 2017 um 3,4 bzw. 1,8 Prozent, während der Agrarsektor aufgrund ungünstiger klimatischer Bedingungen zurückging. Ungefähr drei Viertel der Bevölkerung lebte in ländlichen und ungefähr ein Viertel in städtischen Gebieten. Für ungefähr ein Drittel der Bevölkerung war die Landwirtschaft die Haupteinnahmequelle. Mindestens 39 Prozent der Bevölkerung des Landes leben unterhalb der Armutsgrenze. Es galten über 40 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung als arbeitslos oder unterbeschäftigt. Seit 2001 wurden zwar viele neue Arbeitsplätze geschaffen, jedoch waren diese landesweit ungleich verteilt und 80 Prozent davon waren sog. unsichere Stellen. Generell waren für sämtliche Lebensbereiche (Unterkunft, Arbeit usw.) Netzwerke erforderlich, ohne die eine „Wiedereingliederung“ in die afghanische Gesellschaft jedenfalls erheblich erschwert war. Zur Erlangung eines der wenigen vorhandenen Arbeitsplätze waren nicht schulische oder berufliche Ausbildung, Qualifikation oder Erfahrung ausschlaggebend, sondern Beziehungen. Dies galt für den gesamten Arbeitsmarkt einschließlich des Staatsdienstes. Eine staatliche Arbeitsvermittlung oder gar eine Arbeitslosenunterstützung nach westlichen Vorstellungen existierte nicht. Die Wohnkosten in den Städten waren bereits allgemein im Verhältnis zum Einkommen hoch. Bei der Wohnungssuche benötigte man außergewöhnliche finanzielle Ressourcen, um eine Chance auf eine winterfeste Unterkunft zu haben, aber auch soziale Netzwerke. Es gibt keine NGOs oder öffentliche Organisationen, die bei der Wohnungssuche unterstützen. Immobilienmakler bieten einen entsprechenden Service im Austausch für eine Monatsmiete von Mieter und Vermieter an. Außerhalb der Hauptstadt Kabul und der Provinzhauptstädte fehlt es oft an grundlegender Infrastruktur für Energie, Trinkwasser und Transport. Ein Anteil von schätzungsweise 45 Prozent der Bevölkerung hatte keinen Zugang zu Trinkwasser. Verschärft werden die humanitäre Lage und die Versorgungsprobleme durch eine große Anzahl Binnenvertriebener (2016 ca. 650.000, 2017 ca. 501.000) sowie durch Rückkehrer aus Pakistan und Iran (2016 ca. eine Million, 2017 ca. 610.000, 2018 ca. 530.000). Seit 2002 waren laut UNHCR ca. 5,8 Millionen afghanischer Flüchtlinge in ihr Heimatland zurückgekehrt, vor allem aus Pakistan und Iran. Laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) waren 2019 bis zum 6. Juni etwa 100.000 Personen aus dem Iran freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt, etwa 128.000 wurden zurückgeführt (Auswärtiges Amt, a.a.O., S. 22). Wegen dieses erheblichen Zustroms war Wohnraum knapp, so dass etwa drei Viertel der Menschen in Slums leben (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt Afghanistan vom 29. Juni 2018 mit letzten Kurzinformationen vom 22. August 2018).
Darüber hinaus konnten seinerzeit Rückkehrer von Unterstützungsmaßnahmen profitieren, die der übrigen Bevölkerung nicht zugänglich sind. Die IOM bot in Deutschland verschiedene Rückkehrhilfen an. Es gab zwei Programme für Geldzahlungen bei freiwilliger Rückkehr. Auch von Seiten der afghanischen Regierung gab es Unterstützung, so eine Arbeitsvermittlung, rechtlichen Beistand sowie bei Fragen von Grund und Boden und Obdach. Im März 2017 wurde ein von der EU gefördertes Programm in Höhe von 18 Millionen Euro gestartet. Weiter boten nichtstaatliche Organisationen Unterstützung für freiwillige und abgeschobene Rückkehrer an, so IPSO (International Psychosocial Organisation) und AMASO (Afghanistan Migrants Advice & Support Organisation), u.a. kostenlose psychosoziale Unterstützungsangebote, Programme zur Alphabetisierung, Weiterbildung und Existenzgründung vor Ort sowie die Möglichkeit einer Unterkunft für mehr als zwei Wochen. Von 2012 bis Ende 2018 waren laut IOM 3,2 Millionen Afghanen aus dem Ausland nach Afghanistan zurückgekehrt. Im Rahmen seines freiwilligen Rückkehrprogramms hat UNHCR im Zeitraum 2002 bis 2018 über 5,26 Millionen Menschen bei der Rückkehr nach Afghanistan assistiert. Somit hatte eine große Zahl der afghanischen Bevölkerung einen Flucht- und Migrationshintergrund (vgl. Auswärtiges Amt, a.a.O., Seite 29; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt Afghanistan vom 29. Juni 2018 mit letzten Kurzinformationen vom 22. August 2018, Seite 333 ff).
Hierbei war zu berücksichtigen, dass seit dem Jahr 2003 mit Unterstützung der IOM insgesamt 15.041 Personen aus verschiedenen Ländern Europas, darunter aus dem Vereinigten Königreich, Norwegen, Niederlande, Deutschland, Schweden, Dänemark, Frankreich, Belgien und Österreich, freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt sind. Allein im Jahr 2016 unterstützte die IOM 6.864 Personen bei ihrer Rückkehr aus Europa nach Afghanistan, davon über 3.000 Personen aus Deutschland. Die meisten dieser Rückkehrer, 78 Prozent bzw. 5.382 Personen, waren dabei junge Männer, von denen wiederum ein erheblicher Anteil zwischen 19 und 26 Jahre alt war, nämlich 2.781 Personen. Bei weiteren 2.101 Personen handelte es sich um Jugendliche mit bis zu 18 Jahren. Die Zahl der zurückgekehrten Familien wurde mit 733 angegeben (vgl. VGH Mannheim, Urteil vom 12. Oktober 2018 – A 11 S 316/17 – juris, Rn. 400-401 m.w.N.). Bis Juli 2017 kehrten nach Angaben der IOM aus Europa und der Türkei 41.803 Personen nach Afghanistan zurück (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt Afghanistan vom 29. Juni 2018 mit letzten Kurzinformationen vom 22. August 2018, Seite 331).
Auf die Inanspruchnahme finanzieller Hilfen im Falle der freiwilligen Rückkehr musste sich seinerzeit aber auch derjenige verweisen lassen, der eine freiwillige Ausreise nicht in Betracht zieht, sondern abgeschoben wird. Denn grundsätzlich bedarf derjenige keines Schutzes in der Bundesrepublik Deutschland, der eine geltend gemachte Gefährdung in seinem Heimatland durch zumutbares eigenes Verhalten abwenden kann, wozu insbesondere die freiwillige Ausreise und Rückkehr in den Heimatstaat gehört (BVerwG, Urteil vom 15. April 1997 - 9 C 38.96 - juris, Rn. 27; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 17. Dezember 2020 - A 11 S 2042/20 - juris, Rn. 110).
Selbst wenn ein Rückkehrer im ersten Jahr keinerlei Einkünfte durch eine Arbeit als Tagelöhner erzielen hätte können oder keine Anstellung finden konnte, war seinerzeit nicht davon auszugehen, dass ein junger, gesunder arbeitsfähiger Mann ohne Unterhaltsverpflichtungen unter Berücksichtigung der Rückkehrhilfen unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in eine Situation extremer materieller Not geraten würde. Dessen ungeachtet sprach damals vielmehr Überwiegendes dafür, dass es Rückkehrern mit den oben beschriebenen Merkmalen innerhalb eines Jahres möglich sein wird, ein gewisses soziales Netzwerk aufzubauen, das es ihnen ermöglichen wird, in zunehmendem Maße Erwerbseinkommen zu erzielen (vgl. VG Freiburg (Breisgau), Urteil vom 05. März 2021 – A 8 K 3716/17 –, Rn. 80, juris).
Rückkehrer aus Europa oder dem westlichen Ausland wurden von der afghanischen Gesellschaft häufig misstrauisch wahrgenommen. Dem Auswärtigen Amt sind jedoch keine Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nachweislich aufgrund ihres Aufenthalts in Europa Opfer von Gewalttaten wurden. Auch EASO berichtet hierzu von unbestätigten Einzelfällen. EASO liegen aber einzelne Berichte über versuchte Entführungen aufgrund der Vermutung, der Rückkehrer sei im Ausland zu Vermögen gekommen, vor (Auswärtiges Amt, a.a.O., Seite 31).
Mit Beginn der Covid-19-Pandemie hat sich die wirtschaftliche Situation in Afghanistan namentlich mit Blick auf die Ernährungssicherheit und die Lage auf den Arbeitsmarkt stark verschlechtert, so dass der ursprünglich geltende Grundsatz in der Rechtsprechung nicht mehr pauschal aufrecht erhalten wurde, mit der Folge, dass es obergerichtlich umstritten war, ob im Hinblick auf junge, erwachsene, gesunde, alleinstehende und nicht zum Unterhalt verpflichtete Männer regelhaft die sehr hohen Voraussetzungen des Art. 3 EMRK im Hinblick auf eine drohende Verelendung vorliegen, wenn in ihrer Person keine begünstigenden Umstände vorliegen (vgl. VG Greifswald, Urteil vom 21. Januar 2022 – 3 A 194/19 HGW –, Rn. 29, juris). |
Diese Situation hat sich nun durch die landesweite Machtübernahme durch die Taliban maßgeblich – und hier entscheidungsrelevant – verändert, sodass im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung – auf den hier wegen § 77 Abs. 1 AsylG abzustellen ist – unter keinen Umständen mehr davon ausgegangen werden kann, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan in der Lage sein wird, etwa durch Gelegenheitsarbeiten ein kleines Einkommen zu erwirtschaften und damit ein Leben am Rande des Existenzminimums zu bestreiten.
Durch die Machtübernahme der Taliban hat sich die ohnehin extrem angespannte wirtschaftliche Situation weiterhin und zwar in drastischem Maße dergestalt verschlechtert, dass ein nicht zur vulnerablen Gruppe gehörender junger, gesunde alleinstehender Mann ohne Unterhaltsverpflichtungen im Falle eines fehlenden familiären und sozialen Netzwerks in Afghanistan, nicht mehr in der Lage sein wird, das Existenzminimum zu erwirtschaften.
Die bereits vor der Machtübernahme durch die Taliban schwache, wenig diversifizierte afghanische Wirtschaft war in hohem Maße von ausländischen Einkünften abhängig. Diese umfasste – wie oben ausführlich darstellt – neben ziviler Hilfe, finanzieller Unterstützung für die afghanischen nationalen Sicherheitskräfte (ANSF) und Geld, das von ausländischen Armeen im Land ausgegeben wurde (AAN 11.11.2021; Bundesamt für fremden Wesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation Afghanistan, Datum der Veröffentlichung: 28. Januar 2022, S. 155), auf die insbesondere auch derjenige zugreifen konnte, der über kein familiäres Netz mehr in Afghanistan – wie der Kläger – verfügt. Diese Hilfen sind nunmehr nicht mehr erreichbar, sodass davon auszugehen ist, dass im Falle eines fehlenden familiären Netzwerks eine Existenzsicherung ausgeschlossen ist.
Nach der Machtübernahme der Taliban bleiben nämlich die Banken geschlossen, so haben die Vereinigten Staaten der Taliban-Regierung den Zugang zu praktisch allen Reserven der afghanischen Zentralbank in Höhe von 9 Mrd. $ (7,66 Mrd. €) verwehrt, die größtenteils in den USA gehalten werden. Auch der Internationale Währungsfonds (IWF) hat Afghanistan nach der Eroberung Kabuls durch die Taliban den Zugang zu seinen Mitteln verwehrt. Im November 2021 sagte der Präsident der Weltbank, dass es unwahrscheinlich sei, dass sie die direkte Hilfe für Afghanistan wiederaufnehmen werde, da das Zahlungssystem des Landes Probleme aufweise (Bundesamt für fremden Wesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation Afghanistan, Datum der Veröffentlichung 28. Januar 2022, S. 155).
Da seit der Machtübernahme der Taliban keine neuen Dollarlieferungen eintreffen, um die Währung zu stützen, ist die afghanische Währung Ende August 2021 auf ein Rekordtief gefallen und hat die Preise in die Höhe getrieben. Die Preise für Grundnahrungsmittel wie Mehl, Öl und Reis sind deswegen innerhalb weniger Tage um bis zu 10-20 % gestiegen (DW 24.8.2021). Dieser Trend setzte sich auch im Dezember 2021 fort, als die afghanische Währung gegenüber dem Dollar in nur einer Woche 30 % des Wertes verloren (Bundesamt für fremden Wesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation Afghanistan, Datum der Veröffentlichung 28. Januar 2022, S. 159).
Nach der Machtübernahme der Taliban wurden Bank- und Geldüberweisungsdienste weithin ausgesetzt. Aus Kabul wird berichtet, dass die Geldautomaten leer sind und Geldwechsel nicht möglich ist und dass einige Menschen seit Monaten keinen Lohn mehr erhalten hätten. Vor den Banken bilden sich lange Schlangen, aber diese bleiben geschlossen. Die Taliban haben einen kommissarischen Leiter der Zentralbank ernannt, der helfen soll, die wirtschaftlichen Turbulenzen zu lindern. Anfang November 2021 hat die Taliban-Regierung die Nutzung fremder Währungen im Land verboten (Bundesamt für fremden Wesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation Afghanistan, Datum der Veröffentlichung 28. Januar 2022, S. 167). Gelder aus dem Westen – von welchen die afghanische Regierung zu 75% finanziert wurde (vgl. https://www.crisisgroup.org/asia/south-asia/afghanistan/taliban-rule-begins-afghanistan) – wurden größtenteils eingestellt (vgl. https://www.capital.de/wirtschaft-politik/die-wirtschaft-der-taliban-woher-kommt-das-viele-geld) bzw. ausländische Reserven in Höhe von 9 Mrd. US-Dollar von den USA eingefroren (vgl. BAMF, Briefing Notes vom 20. September 2021).
Hinzu kommt, dass sich Afghanistans langwierige Nahrungsmittelkrise weiter vertieft und ausgeweitet hat (IPC, Afghanistan: Akute Ernährungsunsicherheit September - Oktober 2021 und Prognose für November 2021 - März 2022). Zwischen September und Oktober 2021 erlebten fast 19 Millionen ein hohes Maß an akuter Ernährungsunsicherheit, die im Rahmen der von Hilfsorganisationen zur Bestimmung des Ausmaßes von Nahrungsmittelunsicherheit verwendeten Integrated Food Security Phase Classification (IPC) in die IPC-Phasen 3 oder 4 eingestuft wurden (IPC, Afghanistan: Akute Ernährungsunsicherheit September - Oktober 2021 und Prognose für November 2021 - März 2022). Der auf den Phasen 3 und 4 beruhende Grad akuter Nahrungsmittelunsicherheit bedeutet nach der IPC-Klassifikation, dass diese Menschen als zur Sicherstellung ihrer Ernährung dringend humanitärer Hilfsleistungen bedürftig gelten (vgl. VG Greifswald, Urteil vom 21. Januar 2022 – 3 A 194/19 HGW –, Rn. 62, juris). Bestand das Risiko einer Hungersnot früher hauptsächlich in ländlichen Gebieten, sind nun auch die Menschen in den Städten betroffen (vgl. BAMF, Briefing Notes vom 22. November 2021, S. 2; vgl. VG München, Urteil vom 25. Januar 2022 – M 6 K 21.30037 –, Rn. 20, juris).
Laut eines aktuellen Aufrufs der UN besteht im Jahr 2022 ein Bedarf an humanitären Hilfen in Höhe von nahezu 5 Mrd. US-$ (vgl. https://www.aljazeera.com/news/2022/1/11/un-wants-5-bn-aid-for-afghanistan-in-2022). Afghanische Wirtschaftsanalysten glauben zudem, dass die internationalen Hilfen die wirtschaftliche Krise nicht verhindern können, solange die westlichen Gelder eingefroren bleiben (vgl. https://tolonews.com/afghanistan-175366). Selbst wenn alle Hilfsgelder ankommen würden – bislang hätten Berichten der UN zufolge 60 Mio. US-$ ihr Ziel erreicht (vgl. BAMF, Briefing Notes vom 28. November 21, S. 3; https://tolonews.com/afghanistan-175656) – würde die Summe von 8,5 Mrd. US-$ nicht erreicht, die Afghanistan zuvor aus dem Ausland erhalten hat (vgl. Afghanistan Analysts Network, Report v. 11. November 2021, a.a.O.). Vor diesem Hintergrund vermögen auch z.B. die 36 Tonnen an Hilfslieferungen aus Russland (u.a. Weizen, Zucker und Tee) sowie die einmalige Ausgabe von etwa 265 US-$ an Hilfsgeldern für 1.000 bedürftige Familien in Kabul (vgl. BAMF, Briefing Notes vom 6. Dezember 2021, S. 2) die katastrophale humanitäre Lage nicht nennenswert verbessern (vgl. VG München, Urteil vom 25. Januar 2022 – M 6 K 21.30037 –, Rn. 20, juris).
Vor diesem Hintergrund kann mit Blick auf die individuelle Situation des Klägers, der zwar nicht alleinstehend ist, aber – und nur darauf kommt es vorliegend an dieser Stelle an, da eine Unterstützung aus dem Ausland nicht mehr in Reichweite ist (hierzu unten) – über kein belastbares und insoweit hinreichend tragfähiges familiäres Netzwerk mehr in Afghanistan verfügt, nicht davon ausgegangen werden, dass er durch Gelegenheitsarbeiten in Kabul in der Lage sein wird, ein Existenzminimum zu erwirtschaften. Nach beklagtenseits unbestrittenem und insoweit glaubhaftem Vortrag des Klägers ist er ohne Vater aufgewachsen, was ihn in seiner Kindheit hilflos der Gewalt eines lokalen Arbaki-Kommandeurs ausgeliefert hat, da seine mehrfach verheiratete Mutter nicht in der Lage gewesen ist, ihn entsprechend zu schützen. Seine Mutter ist im Jahr 2020 gestorben. Sein älterer Halbbruder wohnt bereits seit längerem in Berlin. Seine jüngeren Brüder hätten wegen der allgemeinen Bedrohungslage Afghanistan verlassen. Ein Kontakt zu seinen mittlerweile verheirateten Schwestern bestehe nicht mehr. Insoweit wäre der Kläger im Falle einer Rückkehr zunächst auf sich allein gestellt.
Es ist zudem nicht anzunehmen, dass er sich auf dem extrem angespannten afghanischen Arbeitsmarkt gegen andere Mitbewerber wird durchzusetzen können, da er einerseits – wie soeben ausgeführt – auf ein unterstützendes Netzwerk nicht wird zurückgreifen können und andererseits nach Überzeugung des Gerichts nicht in der Lage sein wird, sich in die afghanische Gesellschaft namentlich aber auch in den afghanischen Arbeitsmarkt wird wieder eingliedern können. Das Gericht ist aufgrund der mündlichen Verhandlung zur Überzeugung gelangt, dass das Gesamterscheinungsbild, die Art zu gestikulieren und der sprachliche Duktus des Klägers, innerhalb der afghanischen Gesellschaft Rückschlüsse auf seine Tätigkeit als Tanzknabe zulassen werden. Insoweit dürfte der Kläger im Falle einer Rückkehr bereits aufgrund seines Erscheinungsbildes besonderen Problemen, wenn nicht gar einer Bedrohungslage ausgesetzt sein. Schriftsätzlich hat der Kläger in diesem Zusammenhang – und nach Überzeugung des Gerichts auch glaubhaft – ausgeführt, dass er in Deutschland bereits von Afghanen bedroht worden sei, weil er von diesen für homosexuell gehalten wurde. Vor diesem Hintergrund ist mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Kläger auch wegen der zu erwartenden Ausgrenzung und der damit verbundenen besonderen Probleme bei der Arbeitssuche nicht in der Lage sein wird, ein Leben über dem Existenzminimum zu führen.
Für den Kläger ist auch der Rückgriff zu finanzieller Unterstützung aus Rückkehrerprogrammen nicht möglich, die neben finanziellen Hilfen für einen begrenzten Zeitraum selbst eine Unterkunft bereitstellen oder bei der Suche behilflich wären. Denn diese sind – wie oben ausführlich dargelegt – aufgrund der sich stark verschlechternden Sicherheitslage in Afghanistan bis auf Weiteres seit dem 17. August 2021 ausgesetzt (vgl. https://www.returningfromgermany.de/de/countries/afghanistan/).
Gleiches gilt auch für eine mögliche Unterstützung seitens seines Halbbruders, der mittlerweile in Berlin leben soll. In Falle einer Rückkehr des Klägers nach Afghanistan ist – aus den oben dargelegten Gründen – eine finanzielle Unterstützung durch im Ausland lebende Familienangehörige von vornherein ausgeschlossen.
Zunächst dürfte mit Blick auf die schwierige wirtschaftliche Situation der Brüder im Iran bereits eine finanzielle Unterstützung des Klägers im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan an der Verfügbarkeit finanzieller Mittel scheitern.
Darüber hinaus ist die besondere Situation in Afghanistan nach der Machtübernahme durch die Taliban in den Blick zu nehmen. In Falle einer Rückkehr des Klägers nach Afghanistan ist aber – aus den oben dargelegten Gründen – eine hypothetische finanzielle Unterstützung von im Ausland lebenden Familienangehörigen – wie etwa durch seinen in Berlin lebenden Halbbruder, zu dem der Kläger allerdings keinen Kontakt mehr unterhält – von vornherein ausgeschlossen. Wie erwähnt hat die Taliban-Regierung am 3. November 2021 die Benutzung fremder Währungen im Land verboten, legale Überweisungen aus dem Ausland sind vor dem Hintergrund der einschlägigen Erkenntnismittel nicht möglich. Wenngleich ein Sprecher der Taliban am 13. Dezember 2021 die Entscheidung der USA, private Geldsendungen nach Afghanistan zu erlauben, begrüßt und Einwohnern den Zugang zu Diensten wie Western Union oder MoneyGram zugesichert hat (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 20. Dezember 21, S. 2), ist eine Verbesserung nicht eingetreten, sodass davon auszugehen ist, dass der Zugriff auf Bargeld weiterhin massiv erschwert bleibt. Afghanistan steht vor einer katastrophalen Bargeldknappheit, die Banken und Unternehmen lahmlegt, die Preise für Lebensmittel und Treibstoff in die Höhe schnellen lässt und eine verheerende Hungerkrise ausgelöst hat (vgl. o. sowie ACCORD, Anfragebeantwortung Afghanistan: Humanitäre Lage vom 6. Dezember 2021, S. 12).
Der offizielle und insoweit legale Geldverkehr ist nahezu zum Erliegen gekommen. Ein Verweisen des Klägers auf eine Unterstützung durch im westlichen Ausland lebende Familienangehörige – wie seinen Halbbruder in Berlin – über möglicherweise faktisch realisierbare Systeme illegaler Geldtransfers (sog. Hawala-System), kann dem Kläger – selbst bei Unterstellung, dass die Familienangehörigen im Ausland grundsätzlich unterstützungsfähig wären – billigerweise nicht zugemutet werden.
Gemessen an dem oben entwickelten Maßstab ergibt sich vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen in Afghanistan seit der Machtübernahme durch die Taliban, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr in sein Herkunftsland bzw. in die Hauptstadt Kabul aufgrund der dort herrschenden allgemein humanitären Verhältnisse die tatsächliche Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt sein wird, da er weder über ein familiäres Netzwerk in Afghanistan verfügt noch in den Genuss von finanziellen Hilfen aus dem Ausland kommen kann. Auf mögliche Angehörige im (westlichen) Ausland und deren Unterstützung kommt es mit Blick auf die zurzeit einschlägigen Erkenntnismittel mangels Verfügbarkeit in Afghanistan – wie oben dargelegt – nicht an.
In der Gesamtschau ist daher nicht davon auszugehen, dass der Kläger sein Existenzminimum in Afghanistan erlangen kann, so dass die Anforderungen des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK zu bejahen sind.
Ob daneben die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfüllt sind, bedarf keiner Prüfung, da es sich bei den nationalen Abschiebungsverboten um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand handelt (vgl. BVerwG, Urteil vom 8. September 2011 - 10 C 14.10 -, juris Rn. 17).
Die Klage ist in Bezug auf die Ziffern 5 und 6 des angegriffenen Bescheides ebenfalls begründet. Der Bescheid erweist sich insoweit als rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Die gesetzlichen Voraussetzungen für den Erlass der in Ziffer 5 verfügten Abschiebungsandrohung liegen wegen der Gewährung von Abschiebungsschutz nicht vor (vgl. § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylG). Demnach kann auch das in Ziffer 6 auf der Grundlage von § 75 Nr. 12, § 11 AufenthG verfügte Einreise- und Aufenthaltsverbot samt seiner Befristung keinen Bestand haben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei, sodass es einer Streitwertfestsetzung nicht bedarf.
Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 der Zivilprozessordnung (ZPO).