Gericht | VG Cottbus 6. Kammer | Entscheidungsdatum | 09.12.2022 | |
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Aktenzeichen | VG 6 K 939/17.A | ECLI | ECLI:DE:VGCOTTB:2022:1209.6K939.17.00 | |
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 79 AsylVfG 1992, § 60 Abs 5 AufenthaltG, § 8 VwZG |
Soweit der Kläger die Klage zurückgenommen hat, wird das Verfahren eingestellt.
Die Beklagte wird unter Aufhebung der Ziffern 4. bis 6. ihres Bescheides vom 27. Dezember 2016 verpflichtet, festzustellen, dass zugunsten des Klägers ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 des AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorliegt.
Die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens tragen der Kläger zu 2/3 und die Beklagte zu 1/3.
Der Gerichtsbescheid ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Der Kläger begehrte mit seiner Klage ursprünglich die Verpflichtung der Beklagten zur Flüchtlingsanerkennung bzw. Gewährung subsidiären Schutzes sowie hilfsweise die Feststellung, dass Abschiebungsverbote hinsichtlich seines Herkunftslandes Afghanistan vorliegen.
Der Kläger ist afghanischer Staatsangehöriger und wurde nach eigenen Angaben am 1. Januar 1987 in der Provinz Balkh etwa 30 km nördlich der Stadt Mazar-e Sharif im Dorf Koche Siahgerd in Afghanistan geboren. Er sei schiitischer Tadschike. Afghanistan habe er bereits im Jahr 2001 verlassen und habe anschließend in der Stadt Mashhad im Iran gelebt. Dort habe er sich bis zu seiner Ausreise aufgehalten. Seit er Afghanistan verlassen habe, sei er nie wieder in seinem Heimatland gewesen. Der Kläger sei vier Jahre lang zur Schule gegangen und habe anschließend im Iran als Schweißer auf einer Baustelle gearbeitet. Die iranischen Behörden hätten sein Aufenthaltstitel eingezogen und den Kläger nach Syrien in einen Kampfeinsatz schicken wollen. Der Kläger habe deswegen den Iran Ende 2015 gemeinsam mit seinem Vater, seiner Mutter, seinem Bruder, zwei Schwestern, einem Schwager und dessen Kindern verlassen und sei im Dezember 2015 über den Landweg in die Bundesrepublik Deutschland eingereist. Für die Reise habe er 3.000 $ gezahlt. Die wirtschaftliche Situation des Klägers sei gut gewesen. Er habe gearbeitet, einen Aufenthaltstitel und eine Arbeitserlaubnis gehabt sowie ein Auto besessen.
Am 23. März 2016 stellte der Kläger einen Asylantrag.
Im Rahmen seiner persönlichen Anhörung in der Außenstelle des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am 29. November 2016 gab der Kläger an, dass er niemanden mehr in Afghanistan habe, da er bereits jung ausgereist sei. In Afghanistan sei seine Familie aufgrund ihres schiitischen Glaubens durch die Taliban verfolgt worden. So sei seine Mutter geschlagen und seine Schwester geschubst worden, da sie entgegen den Anweisungen der Taliban nicht ohne männliche Begleitung das Haus verlassen hätten. Auch sei sein Vater für einige Tage von den Taliban entführt worden. Schließlich sei eines Tages der Mann seiner Tante mütterlicherseits ermordet worden. Daraufhin habe die gesamte Familie im Jahr 2001 Afghanistan verlassen und sei in den Iran gegangen. Etwa im Jahr 2011 seien die Eltern des Klägers zurück nach Afghanistan gegangen, um zu schauen, ob ein Leben dort möglich geworden sei. Dort hätten sie allerdings festgestellt, dass das Familienhaus mittlerweile weggenommen worden sei. Im Iran hätten der Kläger und seine Großfamilie ein gutes Leben geführt. Als jedoch der Krieg in Syrien begonnen habe, seien die Afghanen von der iranischen Regierung aufgefordert worden in den Krieg nach Syrien zu gehen. Die Afghanen seien von der iranischen Regierung unter Druck gesetzt worden. Dem Kläger, wie auch anderen Afghanen, sei der Aufenthaltstitel und die Arbeitserlaubnis entzogen worden. Der Kläger sei vor die Wahl gestellt worden, nach Syrien zu gehen oder nach Afghanistan zurückgeschoben zu werden. So sei ein Schwager des Klägers nach Afghanistan abgeschoben worden. Ein Freund des Klägers sei nach Syrien geschickt und dort ermordet worden. Im Iran sei er dann als Märtyrer beigesetzt worden und habe eine schwangere Frau und ein Kind hinterlassen. Vor diesem Hintergrund könne der Kläger auch nicht im Iran bleiben.
Mit Bescheid vom 27. Dezember 2016 versagte die Beklagte – vertreten durch das Bundesamt – die Flüchtlingseigenschaft, lehnte den Antrag auf Asylanerkennung ab und erkannte keinen subsidiären Schutzstatus zu. Darüber hinaus stellte das Bundesamt in seinem Bescheid fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 S. 1 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorliegen. Der Kläger wurde zudem aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe dieser Entscheidung zu verlassen. Der Kläger wurde darauf hingewiesen, dass falls er die Ausreisefrist nicht einhalten werde, er nach Afghanistan abgeschoben werden wird. Darüber hinaus wurde das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. Zur Begründung seiner Entscheidung führte das Bundesamt im Wesentlichen aus, dass die vom Kläger vorgetragenen Gründe sich in erster Linie auf seinen Aufenthalt im Iran bezögen, wo er sich seit seinem 14. Lebensjahr aufhalte. Diese seien jedoch flüchtlingsrechtlich nicht relevant. Hinsichtlich der Geschehnisse in Afghanistan habe der Kläger keine staatliche politische Verfolgung geltend gemacht. Ferner lägen die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nicht vor. Der Kläger müsse keine ernsthafte individuelle Bedrohung seines Lebens oder seiner körperlichen Unversehrtheit befürchten. Schließlich seien keine Abschiebungsverbote gegeben. Namentlich führten die derzeitigen humanitären Bedingungen in Afghanistan nicht zu der Annahme, dass bei der Abschiebung des Klägers eine Verletzung des Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention vorliege.
Mit seiner am 13. März 2017 beim Verwaltungsgericht Potsdam erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Zur Begründung führt er aus, dass die Klage zulässig und insbesondere fristgemäß erhoben worden sei. Der angegriffene Bescheid sei dem Kläger nicht förmlich zugestellt worden. Der Kläger wohne seit dem 9. Juni 2016 in einer Unterkunft in der F ... . Eine Zustellung dorthin sei nicht erfolgt. Dies werde durch ein Schreiben der Heimleitung vom 10. März 2017 bestätigt, wonach der Kläger laut lückenloser Postausgabedokumentation im Zeitraum von Dezember 2016 bis Februar 2017 keine Post per Einschreiben in der Gemeinschaftsunterkunft erhalten habe, sodass davon ausgegangen werde, dass dem Kläger auch keine Bescheide vom Bundesamt oder der Ausländerbehörde in diesem Zeitraum zugestellt worden seien. Es befinde sich in der Postausgabedokumentation lediglich eine Eintragung vom 25. Oktober 2016, wonach dem Kläger ein Einschreiben, nämlich die Ladung zur persönlichen Anhörung, ausgehändigt worden sei. Von dem Ablehnungsbescheid der Beklagten habe der Kläger erstmals erfahren, als er seine Aufenthaltsgestattung von der Ausländerbehörde nicht verlängert bekommen habe, sondern ihm eine Grenzübertrittsbescheinigung vom 2. März 2017 ausgehändigt worden sei. Dabei sei ihm eine Kopie des Bescheides mitgegeben worden. Erst im Wohnheim habe er durch die Übersetzung eines Sozialarbeiters erfahren, dass sein Asylantrag abgelehnt worden sei. Die nunmehr, während des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens erfolgte nachträgliche Zustellung des Bescheids heile die bisher mangelhafte Zustellung, sodass das Verfahren weitergeführt werden soll. In der Sache führt der Kläger aus, dass er in Afghanistan kein familiäres Netzwerk mehr habe. Seine Familie lebe in Deutschland, er sei mit einer Afghanin verheiratet und habe mit ihr ein gemeinsames Kind. Seine Frau habe mittlerweile ein Abschiebungsverbot nach § 25 Abs. 3 AufenthG erhalten.
Nachdem der Kläger die Klage teilweise zurückgenommen hat, beantragt er zuletzt schriftsätzlich,
die Beklagte unter teilweiser Aufhebung ihres Bescheides vom 27. Dezember 2016, zu verpflichten, festzustellen, dass die Voraussetzungen für Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes hinsichtlich Afghanistans vorliegen.
Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte ist dem klägerischen Vorbringen entgegengetreten. Zur Begründung bezieht sie sich im Wesentlichen auf ihre Ausführungen im Ablehnungsbescheid vom 27. Dezember 2016. Ergänzend führt sie aus, dass die Postzustellungsurkunde vom 29. Dezember 2016 mit dem Vermerk an das Bundesamt gesandt worden sei, dass die Institution bis zum 1. Januar 2017 geschlossen sei. Der Bescheid sei somit nie zugestellt worden. Vor diesem Hintergrund habe die Beklagte den Bescheid vom 27. Dezember 2016 diesmal an den Prozessbevollmächtigten des Klägers am 15. Juli 2020 zugestellt.
Mit Beschluss vom 6. Juni 2019 wurde der Rechtsstreit nach Anhörung der Beteiligten auf den Berichterstatter als Einzelrichter übertragen.
Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten bezüglich des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte, den Verwaltungsvorgang des Bundesamtes sowie die Erkenntnismittelliste für Afghanistan Bezug genommen. Sämtliche Unterlagen waren Gegenstand der Entscheidungsfindung des Gerichts.
Über die Klage konnte nach erfolgter Anhörung der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entschieden werden, § 84 Abs. 1 S. 1 und 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
Die Entscheidung war gemäß § 76 Abs. 1 des Asylgesetzes (AsylG) durch den Einzelrichter zu treffen, dem der Rechtsstreit nach Anhörung der Beteiligten mit unanfechtbarem Beschluss der Kammer vom 6. Juni 2019 übertragen wurde.
Soweit der Kläger die Klage zurückgenommen hat, wird das Verfahren eingestellt, § 92 Abs. 3 S. 1 VwGO.
Soweit der Kläger die Klage nicht zurückgenommen hat und das Verfahren nicht eingestellt wurde, hat sie Erfolg.
Die Klage ist zunächst zulässig und insbesondere am 13. März 2017 fristgemäß erhoben worden.
Nach § 74 Abs. 1 1. HS AsylG muss die Klage gegen Entscheidungen nach dem AsylG grundsätzlich innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung der Entscheidung erhoben werden.
Die § 31 Abs. 1 S. 1 Asylgesetz zwingend vorgeschriebene förmliche Zustellung des Ablehnungsbescheides des Bundesamtes vom 27. Dezember 2017 wird durch § 10 AsylG modifizieren. So hat nach § 10 Abs. 1 AsylG der Ausländer während der Dauer des Asylverfahrens vorzusorgen, dass ihn Mitteilung des Bundesamtes stets erreichen können. Vor diesem Hintergrund muss er nach § 10 Abs. 2 S. 1 AsylG Zustellungen unter der letzten Anschrift, die dem Bundesamt aufgrund seines Asylantrags bekannt ist, gegen sich gelten lassen, wenn er für das Verfahren weder einen Bevollmächtigten bestellt noch einen Empfangsberechtigten benannt hat oder diesen nicht zugestellt werden kann.
Hiernach wäre vorliegend auf eine Zustellung an die Unterkunft des Klägers abzustellen, die der Kläger nämlich gelten lassen müsste. Den Ausführungen der Beklagten sowie der Stellungnahme der Leitung der Gemeinschaftsunterkunft – in der der Kläger zum Zeitpunkt der vermeintlichen Zustellung gelebt hat – folgend, konnte jedoch eine Zustellung des streitgegenständlichen Bescheides vom 27. Dezember 2016 am 29. Dezember 2016 nicht erfolgen, da ausweislich des Vermerks des Mitarbeiters der Deutschen Post AG die „Institution bis 1. Januar 2017 geschlossen“ war.
Nach § 8 Alt. 1 des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) gilt ein Dokument, dessen formgerechte Zustellung sich nicht nachweisen lässt oder das unter Verletzung zwingender Zustellungsvorschriften zugegangen ist, als in dem Zeitpunkt zugestellt, in dem es dem Empfangsberechtigten tatsächlich zugegangen ist. Diese Voraussetzungen liegen hier vor.
Der streitgegenständliche Bescheid ist ein schriftliches Dokument i.S.v. §§ 8, 2 Abs. 1 VwZG i.V.m. § 31 Abs. 1 Satz 1 und 2 AsylG, dessen formgerechte Zustellung nicht nachgewiesen ist. Die nach § 31 Abs. 1 Satz 3 AsylG vorgeschriebene Zustellung richtet sich nach dem Verwaltungszustellungsgesetz des Bundes (§ 1 Abs. 1 VwZG). Bei der hier vom BAMF gewählten (vgl. § 2 Abs. 3 Satz 1 VwZG) Zustellung durch die Post mit Zustellungsurkunde gelten gemäß § 3 Abs. 2 Satz 1 VwZG für die Ausführung der Zustellung die §§ 177 bis 182 der Zivilprozessordnung (ZPO) entsprechend. Einen Bevollmächtigten im Sinne des § 7 VwZG hatte der Kläger zu diesem Zeitpunkt noch nicht bestellt.
Mit Blick auf den soeben entwickelten Maßstab stellt vorliegend die Aushändigung der Kopie des an die Ausländerbehörde des Landkreises D ... adressierten Bescheides vom 27. Dezember 2016 durch die Ausländerbehörde des Landkreises D ... an den Kläger im März 2017 eine Heilung der nicht erfolgten Zustellung dar.
Für den Eintritt der Heilungswirkung nach § 8 Alt. 1 VwZG reicht es aus, dass dem Kläger eine mit dem Original übereinstimmende Kopie des Bescheides tatsächlich zugegangen ist (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 9. Dezember 2021 – 2 B 6/20 –, Rn. 18 - 30, juris).
Nach der Rechtsprechung u.a. des Bundesverwaltungsgerichts und Teilen des Schrifttums genügt der Zugang einer Fotokopie, die das Original nach Inhalt und Fassung vollständig wiedergibt, um die Heilung zu erreichen, weil damit der Zweck der Bekanntgabe, nämlich dem Adressaten zuverlässige Kenntnis vom Inhalt des Bescheids zu verschaffen, erreicht wird (vgl. zur Vorgängervorschrift d. § 9 VwZG: BVerwG, Urteil vom 18. April 1997 – 8 C 43/95 –, juris Rn. 29; BFH, Urteil vom 19. Mai 1976 – I R 154/74 –, juris Rn. 14; ebenso zu § 8 VwZG: OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 6. April 2017 – OVG 11 S 18.17 –, juris Rn. 3; OVG Hamburg, Beschluss vom 29. Oktober 2004 – 4 Bs 392/04 –, juris Rn. 4; Olthaus in Sadler/Tillmanns, VwVG/VwZG, 10. Aufl. 2020, § 8 VwZG Rn. 7; Ronellenfitsch in: BeckOK VwVfG, Stand: Oktober 2019, § 8 VwZG Rn. 12; Stelkens in: Stelkens/Bonk, Verwaltungsverfahrensgesetz, 9. Aufl. 2018, § 37 Rn. 107 f.; Schwarz in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, Stand: Juli 2017, § 8 VwZG Rn. 7; offengelassen: Bayer.VGH, Beschluss vom 22. Februar 2018 – 5 ZB 17.31905 –, juris Rn. 8). Dem entspricht die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu der nahezu identischen Vorschrift des § 189 ZPO für den Zugang eines inhaltsgleichen Schriftstücks, etwa einer Foto- oder Faxkopie, eines Scans oder einer E-Mail (vgl. u.a. BGH, Beschluss vom 12. März 2020 – I ZB 64/19 –, juris Rn. 24; Urteil vom 20. April 2018 – V ZR 202/16 –, juris Rn. 21; Urteil vom 22. Dezember 2015 – VI ZR 79/15 –, juris Rn. 21; Dörndorfer, in: BeckOK ZPO, Stand: 1.Juli 2021, § 189 Rn. 4; Häublein/Müller, in: Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Aufl. 2020, § 189 Rn. 17).
Danach ist § 8 VwZG auch anwendbar, wenn zwar eine förmliche Zustellung unterblieben ist, aber der Verwaltungsakt dem Adressaten gleichwohl mit dem Willen der Behörde zur Kenntnis gegeben wurde und der tatsächliche Zugang sowie dessen Zeitpunkt auch ohne Einhaltung der Förmlichkeiten des Verwaltungszustellungsgesetzes nachgewiesen sind. Denn die Heilungsvorschrift hat den Sinn, die förmlichen Zustellungsvorschriften nicht zum Selbstzweck erstarren zu lassen, sondern die Zustellung auch dann als bewirkt anzusehen, wenn der Zustellungszweck anderweitig erreicht wird (vgl. BGH, Beschluss vom 12. März 2020 – I ZB 64/19 –, juris Rn. 25 zu § 189 ZPO). Entscheidend ist, ob - wie hier - die Fotokopie das Original nach Inhalt und Fassung vollständig wiedergibt. Dies hat seinen Grund darin, dass die Zustellung nach Sinn und Zweck nur dann und insoweit unwirksam ist, als durch den Verstoß gegen die Form die Erreichung des Zwecks selbst vereitelt wird, zu dessen Sicherung die Form geschaffen wurde. Das gilt jedenfalls nicht für den mit der Zustellung verfolgten Zweck der Bekanntgabe des Schriftstücks. Hinsichtlich dieses Zweckes sind das Original und dessen vollständige Fotokopie gleichwertige Schriftstücke (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 9. Dezember 2021 – 2 B 6/20 –, Rn. 18 - 30, juris; BFH, Urteil vom 19. Mai 1976, a. a. O., Rn. 14).
Der Wortlaut des § 8 VwZG steht dem nicht entgegen. Zwar knüpft er an das Dokument als solches an, enthält aber keine Vorgabe zu dessen Form. Nach § 2 VwZG muss es sich seit der Novellierung des Verwaltungszustellungsrechts im Jahr 2005 bei dem zuzustellenden Objekt nicht mehr um ein Schriftstück in Urschrift, eine Ausfertigung oder eine beglaubigte Abschrift, sondern lediglich um ein schriftliches oder elektronisches Dokument handeln (vgl. § 2 VwZG i.d.F.v. 14. Dezember 1976; a.A. Schlatmann in: Engelhardt/App/Schlatmann, VwVG/VwZG, 12. Aufl. 2021, § 8 VwZG Rn. 5; Tegethoff in: Kopp/Ramsauer, Verwaltungsverfahrensgesetz, 22. Aufl. 2021, § 41 Rn. 78; Danker, in: Fehling/Kastner/Störmer, Verwaltungsrecht, 5. Aufl. 2021, § 8 VwZG Rn. 7; Smollich in: NK-VwVfG, 2. Aufl. 2019, § 8 VwZG Rn. 6). Soweit sich die Gegenansicht auf die Gesetzesbegründung zu § 2 VwZG beruft, nach der bei der Zustellung eines Dokuments wie bisher die Urschrift, eine Ausfertigung oder eine beglaubigte Abschrift zu übermitteln sei und die Übersendung einer bloßen Fotokopie nicht genüge (vgl. BT-Drs. 15/5216, S. 11), steht dem entgegen, dass dies in dem eindeutigen Wortlaut des neugefassten § 2 VwZG keinen Niederschlag gefunden hat (vgl. Stelkens in: Stelkens/Bonk, Verwaltungsverfahrensgesetz, 9. Aufl. 2018, § 37 Rn. 107 f.).
Ebenso wenig kommt es darauf an, ob - wie hier (vgl. § 31 Abs. 1 Satz 3 AsylG) - die Zustellung des Verwaltungsakts vorgeschrieben ist (a.A. OVG Sachsen, Beschluss vom 8. August 2016 – 3 B 161/16 –, juris Rn. 5; BFH, Beschluss vom 7. November 2008 – X B 55/08 –, juris Rn. 10; Urteil vom 6. Juni 2000 – VII R 55/99 –, juris Rn. 26; offen: OVG Bremen, Urteil vom 24. Februar 2020 – 2 B 304/19 –, juris Rn. 4). Denn die Heilungsvorschrift des § 8 VwZG erfasst nach ihrer systematischen Stellung im Verwaltungszustellungsgesetz sowie dem oben dargelegten Sinn und Zweck jede Form der (gescheiterten) Zustellung, auch die behördlich angeordnete (vgl. § 1 Abs. 2 VwZG).
Schließlich erfordert der teilweise hervorgehobene Zweck, die Authentizität des zuzustellenden Schriftstücks zu gewährleisten (vgl. Smollich, in: NK-VwVfG, 2. Aufl. 2019, § 8 VwZG Rn. 6) nicht in jedem Fall den Zugang des zuzustellenden Dokuments selbst. So ist weitgehend anerkannt, dass ein Zustellungsmangel nach § 8 VwZG grundsätzlich auch durch Akteneinsicht geheilt werden kann (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 6. Juli 2020 – OVG 3 B 2/20 –, juris Rn. 23; OVG Sachs.-Anh., Beschluss vom 19. Juni 2018 – 3 M 227/18 –, juris Rn. 6; OVG Bremen, Beschluss vom 23. April 2018 – 1 PA 89/17 –, juris Rn. 5; OVG Hamburg, Urteil vom 30. Januar 2017 – 1 Bf 115/15 –, juris Rn. 29). Auch außerhalb der Fälle einer Akteneinsicht tritt die Heilung eines Zustellungsfehlers nach § 8 VwZG mit dem Zugang einer Fotokopie ohnehin nur ein, wenn die zuständige Behörde den erforderlichen Zustellungswillen hat, dem Adressaten eine Fotokopie zugeht, die das Original nach Inhalt und Fassung vollständig wiedergibt, so dass er sich zuverlässig Kenntnis vom Inhalt des Bescheids verschaffen kann (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 9. Dezember 2021 – 2 B 6/20 –, Rn. 18 - 30, juris).
Diese Voraussetzungen liegen hier vor insbesondere war der erforderliche Zustellungswille des Bundesamtes gegeben. Zwar reicht die Aushändigung einer Kopie des Bescheids durch eine andere Behörde nicht, wenn die zuständige Behörde nicht den Willen hatte, den Bescheid dem Adressaten bekanntzugeben (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. April 1997, a. a. O., Rn. 29). Das Bundesamt hatte hier jedoch Zustellungswillen. Aus dem missglückten Zustellungsversuch ergibt sich nämlich, dass der Bescheid mit seinem Wissen und Wollen in der Absicht, Rechtsfolgen auszulösen, aus dem internen Bereich herausgegeben worden ist. Zur Heilung ist nicht erforderlich, dass auch die nachträgliche Kenntniserlangung durch den Adressaten vom Willen der Behörde erfasst wird (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 9. Dezember 2021 – 2 B 6/20 –, Rn. 18 - 30, juris BVerwG, Urteil vom 18. April 1997, a. a. O.; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 6. Juli 2020 – OVG 3 B 2/20 –, juris Rn. 23).
Zur Heilung ist nicht erforderlich, dass auch die nachträgliche Kenntniserlangung durch den Adressaten vom Willen der Behörde erfasst wird (vgl. Bayerischer VGH, Beschluss vom 28. September 2021 – 23 ZB 20.30279 –, Rn. 14 - 19, juris; BVerwG, Urteil vom 14. April 1997, a.a.O.; BVerwG, Urteil vom 15. Januar 1988 – 8 C 8.86 - NJW 1988, 1612 = juris Rn. 11; BFH, Urteil vom 28 Auslöser 90 – VII R 59/89 - NVwZ-RR 1991, 660 = juris Rn. 36, zu § 9 VwZG a.F.).
Somit ist mit Blick auf den klägerischen Vortrag von einer Bekanntgabe des streitgegenständlichen Bescheides vom 27. Dezember 2016 jedenfalls spätestens am 7. März 2017, dem Zeitpunkt der Mandatierung des Prozessbevollmächtigten, und frühestens am 2. März 2017, dem Zeitpunkt der Ausstellung der Grenzübertrittsbescheinigung durch die Ausländerbehörde anzunehmen. Es mag dahinstehen und bedarf keiner Entscheidung, an welchen Tag genau die Fotokopie des Bescheides dem Kläger ausgehändigt wurde, da gemäß § 57 Abs. 2 VwGO, § 222 Abs. 1 ZPO, §§ 188 Abs. 2, 187 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) Klagefrist entweder am 15. März 2017 oder aber am 20. März 2017 endete und der jedenfalls am 13. März 2017 – und somit jedenfalls innerhalb der Zweiwochenfrist nach § 74 Abs. 1 1. HS AsylG – beim Verwaltungsgericht Potsdam Klage erhoben hat.
Unschädlich mit Blick auf die Fristwahrung ist vorliegend auch, dass der Kläger Klage beim Verwaltungsgericht Potsdam und insoweit beim örtlich unzuständigen Verwaltungsgericht erhoben hat, obwohl er seinen Wohnsitz im Landkreis D ... und somit im Sprengel des Verwaltungsgerichts Cottbus hatte.
Wie sich aus § 83 Satz 1 VwGO i.V.m. § 17 b Abs. 1 Satz 2 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) ergibt, ist die Klagefrist nämlich auch dann gewahrt, wenn die Klage bei einem örtlich unzuständigen Verwaltungsgericht eingeht, sofern der Kläger es für zuständig hielt und die Sache später an das zuständige Gericht verwiesen wird (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 29. August 1995 – 25 A 4760/95.A –, Rn. 3, juris). Auch diese Voraussetzungen sind hier gegeben. Der Kläger hat seine Klage ausdrücklich an das Verwaltungsgericht Potsdam adressiert, welches den Rechtsstreit mit Beschluss vom 10. April 2017 an das zuständige Verwaltungsgericht Cottbus verwiesen hat.
Die Klage hat auch in der Sache Erfolg. Dem Kläger steht der zuletzt geltend gemachte Anspruch zu.
Der Bescheid vom 27. Dezember 2016 ist – soweit er angegriffen wurde –, einschließlich der darin enthaltenen Abschiebungsandrohung sowie des Einreise- und Aufenthaltsverbotes rechtswidrig und verletzt den Kläger insoweit auch in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 S. 1 VwGO).
Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung gemäß § 77 Abs. 1 AsylG einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes hinsichtlich Afghanistans nach § 60 Abs. 5 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG).
Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit eine Abschiebung nach den Bestimmungen der europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) unzulässig ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Vorgängerregelung in § 53 Abs. 4 AuslG (vgl. BVerwG, Urteil vom 11. November 1997 – 9 C 13.96 –, juris Rn. 8 ff.) umfasst der Verweis auf die EMRK lediglich Abschiebungshindernisse, die in Gefahren begründet liegen, welche dem Ausländer im Zielstaat der Abschiebung drohen („zielstaatsbezogene" Abschiebungshindernisse). Insbesondere sind zu nennen das Recht auf Leben (Art. 2 Abs. 1 EMRK) und das Verbot der Folter (Art. 3 EMRK).
Eine Verletzung von Art. 3 EMRK setzt die tatsächliche Gefahr der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung – für die Gefahr der Folter des Klägers bestehen keinerlei Anhaltspunkte – voraus. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte muss demnach eine ausreichende reale, nicht nur auf bloßen Spekulationen gegründete Gefahr bestehen. Die tatsächliche Gefahr („real risk“) einer Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Behandlung muss aufgrund aller Umstände des jeweiligen Einzelfalles hinreichend sicher und darf nicht hypothetisch sein (EGMR, Urteil vom 28. Juni 2011 - 8319/07 und 11449/07 [Sufi and Elmi v. The United Kingdom] -, Rn. 212 ff., Urteil vom 27. Mai 2008 - 26565/05 [N. v. The United Kingdom], Rn. 34 ff.). Der Prognosemaßstab der tatsächlichen Gefahr entspricht hierbei dem der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Beschluss vom 13. Februar 2019 - 1 B 2.19 - juris, Rn. 6; Urteil vom 27. April 2010 - 10 C 5.09 - juris, Rn. 22). Es ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 13. Februar 2019 - 1 B 2.19 - juris, Rn. 6; Urteil vom 20. Februar 2013 - 10 C 23.12 - juris, Rn. 32). Ein eindeutiger, über alle Zweifel erhabener Beweis, dass der Betroffene im Falle seiner Rückkehr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt wäre, kann hingegen nicht verlangt werden (vgl. EGMR, Urteil vom 09. Januar 2018 - 36417/16 [X. v. Sweden] -, Rn. 50; BVerwG, Beschluss vom 13. Februar 2019 - 1 B 2.19 - juris, Rn. 6; VG Freiburg (Breisgau), Urteil vom 5. März 2021 – A 8 K 3716/17 –, Rn. 35, juris).
Eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung kann sich aus einer allgemeinen Situation der Gewalt im Zielstaat ergeben, einem besonderen Merkmal des Ausländers oder einer Verbindung von beidem (vgl. BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013 - 10 C 15.12– juris Rn. 25). Soweit – wie in Afghanistan – ein für die Verhältnisse eindeutig maßgeblich verantwortlicher Akteur fehlt, können in ganz außergewöhnlichen Fällen auch schlechte humanitäre Verhältnisse im Zielstaat Art. 3 EMRK verletzen, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung zwingend sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 – 1 C 45.18 – juris Rn. 12; Beschluss vom 23. August 2018 – 1 B 42.18 – juris Rn. 9: „nur in besonderen Ausnahmefällen“). Die Voraussetzungen können erfüllt sein, wenn der Ausländer nach Würdigung aller Umstände des Einzelfalls im Zielstaat der Abschiebung seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern, kein Obdach finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalten kann (vgl. BVerwG, Beschluss vom 23. August 2018 – 1 B 42.18 – juris Rn. 11). Der EuGH stellt in seiner Rechtsprechung zu Art. 4 Grundrechte-Charta darauf ab, ob sich die betroffene Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und Unterkunft zu finden, und die ihre physische und psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (vgl. EUGH, Urteil vom 19. März 2019 – C-297/17 u.a. – juris Rn. 89 ff.). Die dargestellte Rechtsprechung macht letztlich deutlich, dass von einem sehr hohen Gefahrenniveau auszugehen ist; nur dann liegt ein „ganz außergewöhnlicher Fall“ vor, in dem die humanitären Gründe gegen die Ausweisung „zwingend“ sind (BayVGH, Urteil vom 26. Oktober 2020 – 13a B 20.31087– juris Rn. 21; Urteil vom 28. November 2019 – 13a B 19.33361 – Rn. 21 ff.; Urteil vom 8. November 2018 – 13a B 17.31918 – juris Rn. 20 m.w.N.; OVG Niedersachsen, Urteil vom 29. Januar 2019 – 9 LB 93/18 – juris Rn. 51 m.w.N.; vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 13. Februar 2019 – 1 B 2.19 – juris Rn. 10; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 18. Juni 2019 – 13 A 3930/18 – juris Rn. 111 f. m.w.N.).
Bei der Prüfung, ob ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK vorliegt, ist grundsätzlich auf den gesamten Abschiebungszielstaat abzustellen und zunächst zu prüfen, ob solche Umstände an dem Ort vorliegen, an dem die Abschiebung endet (vgl. BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013 - 10 C 15.12 - juris, Rn. 26 m.w.N.). Stellen die dortigen Verhältnisse einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK dar, ist zu prüfen, ob auch in anderen Landesteilen derartige Umstände vorliegen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 17. Dezember 2020 - A 11 S 2042/20 - juris, Rn. 28; OVG Bremen, Urteil vom 24. November 2020 - 1 LB 351/20 - juris, Rn. 27; Urteil vom 22. September 2020 - 1 LB 258/20 - juris, Rn. 27; VG Freiburg (Breisgau), Urteil vom 05. März 2021 – A 8 K 3716/17 –, Rn. 36, juris).
Für den hier zu entscheidenden Fall stellt sich mit Blick auf § 60 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 3 EMRK die Frage, ob der Kläger als junger erwachsener Mann mit Unterhaltspflichten gegenüber seiner Ehefrau und seinem minderjährigen Kind, denen gegenüber das Bundesamt nach dem unbestritten gebliebenen klägerischen Vortrag Abschiebungsverbote hinsichtlich Afghanistans festgestellt hat – aber auch, wie im hiesigen Falle ohne tragfähiges familiäres Netzwerk in Afghanistan (hierzu sogleich unten) –, infolge seiner Abschiebung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit derart schlechten humanitären Verhältnisse in Afghanistan ausgesetzt wäre, dass seine Abschiebung mit Blick auf Art. 3 EMRK nicht hinnehmbar wäre.
Das ist nach Überzeugung des Gerichts vorliegend namentlich mit Blick auf die seit der Covid-19-Pandemie und der Machtübernahme der Taliban veränderten Lage in Afghanistan der Fall. Der Kläger muss befürchten, aufgrund der nunmehr extrem angespannten wirtschaftlichen Lage in Afghanistan unter Berücksichtigung seiner individuellen Situation einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung im Falle einer Abschiebung ausgesetzt zu sein.
Die obergerichtliche Rechtsprechung ging zunächst für den Zeitraum vor der Covid-19-Pandemie davon aus, dass im Falle leistungsfähiger, erwachsener Männer ohne Unterhaltsverpflichtungen bei der Rückkehr aus dem westlichen Ausland die hohen Anforderungen des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 3 EMRK nicht erfüllt sind, sofern nicht besondere, individuell erschwerende Umstände festgestellt werden konnten (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29. Oktober 2019 - A 11 S 1203/19 - juris, Rn. 102; Urteil vom 26. Juni 2019 - A 11 S 2108/18 - juris, Rn. 106 ff.; Urteil vom 12. Dezember 2018 - A 11 S 1923/17 - juris, Rn. 191 ff.; Urteil vom 12. Oktober 2018 - A 11 S 316/17 - juris, Rn. 392; Urteil vom 09. November 2017 - A 11 S 789/17 - juris, Rn. 244; OVG Bremen, Urteil vom 12. Februar 2020 - 1 LB 276/19 - juris, Rn. 55 ff.; Bayerischer VGH, Urteil vom 06. Februar 2020 - 13a B 19.33510 - juris, Rn. 17 ff.; Beschluss vom 25. Februar 2019 - 13a ZB 18.32203 -, juris; OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 22. Januar 2020 - 13 A 11356/19 - juris, Rn. 68; Urteil vom 12. Oktober 2018 - A 11 S 316/17 -, juris; Urteil vom 11. April 2018 – A 11 S 924/17, juris; Urteil vom 12. Oktober 2018 – A 11 S 316/17, juris; Hessischer VGH, Urteil vom 23. August 2019 - 7 A 2750/15.A - juris, Rn. 149 f.; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 18. Juni 2019 - 13 A 3930/18.A - juris, Rn. 198 ff.; Sächsisches OVG, Urteil vom 18. März 2019 - 1 A 348/18.A - juris, Rn. 68 ff.; OVG Niedersachsen, Urteil vom 29. Januar 2019 - 9 LB 93/18 - juris, Rn. 55 f.).
Folgendes galt seinerzeit zur Lage in Afghanistan: Afghanistan, das etwa 27 Millionen Einwohner hat, von denen 47,3 Prozent unter 15 Jahre und 60 Prozent unter 25 Jahre alt sind, war eines der ärmsten Länder der Welt. Im Human Development Index aus dem Jahr 2018 rangiert Afghanistan auf dem 168. Platz von insgesamt 189 Plätzen (UN Development Program, Human Development Indices and Indicators, 2018 Statistical Update). Dennoch hatten sich für viele Afghanen die Lebensbedingungen in absoluten Zahlen über die letzten 15 Jahre deutlich verbessert. Seit 2002 erzielte Afghanistan wichtige Fortschritte beim Aufbau seiner Wirtschaft, bleibt aber weiterhin arm und abhängig von Hilfeleistungen. Die Armutsrate sank auf nationaler Ebene und konnte im Norden und Westen des Landes reduziert werden, während sie in Nordostafghanistan in sehr hohem Maße stieg. Die aus Konflikten und chronischer Unterentwicklung resultierenden Folgeerscheinungen im Süden und Osten haben dazu geführt, dass dort ca. eine Million oder fast ein Drittel aller Kinder als akut unterernährt gelten. Der Dienstleistungs- und Industriesektor wuchs in 2017 um 3,4 bzw. 1,8 Prozent, während der Agrarsektor aufgrund ungünstiger klimatischer Bedingungen zurückging. Ungefähr drei Viertel der Bevölkerung lebte in ländlichen und ungefähr ein Viertel in städtischen Gebieten. Für ungefähr ein Drittel der Bevölkerung war die Landwirtschaft die Haupteinnahmequelle. Mindestens 39 Prozent der Bevölkerung des Landes leben unterhalb der Armutsgrenze. Es galten über 40 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung als arbeitslos oder unterbeschäftigt. Seit 2001 wurden zwar viele neue Arbeitsplätze geschaffen, jedoch waren diese landesweit ungleich verteilt und 80 Prozent davon waren sog. unsichere Stellen. Generell waren für sämtliche Lebensbereiche (Unterkunft, Arbeit usw.) Netzwerke erforderlich, ohne die eine „Wiedereingliederung“ in die afghanische Gesellschaft jedenfalls erheblich erschwert war. Zur Erlangung eines der wenigen vorhandenen Arbeitsplätze waren nicht schulische oder berufliche Ausbildung, Qualifikation oder Erfahrung ausschlaggebend, sondern Beziehungen. Dies galt für den gesamten Arbeitsmarkt einschließlich des Staatsdienstes. Eine staatliche Arbeitsvermittlung oder gar eine Arbeitslosenunterstützung nach westlichen Vorstellungen existierte nicht. Die Wohnkosten in den Städten waren bereits allgemein im Verhältnis zum Einkommen hoch. Bei der Wohnungssuche benötigte man außergewöhnliche finanzielle Ressourcen, um eine Chance auf eine winterfeste Unterkunft zu haben, aber auch soziale Netzwerke. Es gibt keine NGOs oder öffentliche Organisationen, die bei der Wohnungssuche unterstützen. Immobilienmakler bieten einen entsprechenden Service im Austausch für eine Monatsmiete von Mieter und Vermieter an. Außerhalb der Hauptstadt Kabul und der Provinzhauptstädte fehlt es oft an grundlegender Infrastruktur für Energie, Trinkwasser und Transport. Ein Anteil von schätzungsweise 45 Prozent der Bevölkerung hatte keinen Zugang zu Trinkwasser. Verschärft werden die humanitäre Lage und die Versorgungsprobleme durch eine große Anzahl Binnenvertriebener (2016 ca. 650.000, 2017 ca. 501.000) sowie durch Rückkehrer aus Pakistan und Iran (2016 ca. eine Million, 2017 ca. 610.000, 2018 ca. 530.000). Seit 2002 waren laut UNHCR ca. 5,8 Millionen afghanischer Flüchtlinge in ihr Heimatland zurückgekehrt, vor allem aus Pakistan und Iran. Laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) waren 2019 bis zum 6. Juni etwa 100.000 Personen aus dem Iran freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt, etwa 128.000 wurden zurückgeführt (Auswärtiges Amt, a.a.O., S. 22). Wegen dieses erheblichen Zustroms war Wohnraum knapp, so dass etwa drei Viertel der Menschen in Slums leben (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt Afghanistan vom 29. Juni 2018 mit letzten Kurzinformationen vom 22. August 2018).
Darüber hinaus konnten seinerzeit Rückkehrer von Unterstützungsmaßnahmen profitieren, die der übrigen Bevölkerung nicht zugänglich sind. Die IOM bot in Deutschland verschiedene Rückkehrhilfen an. Es gab zwei Programme für Geldzahlungen bei freiwilliger Rückkehr. Auch von Seiten der afghanischen Regierung gab es Unterstützung, so eine Arbeitsvermittlung, rechtlichen Beistand sowie bei Fragen von Grund und Boden und Obdach. Im März 2017 wurde ein von der EU gefördertes Programm in Höhe von 18 Millionen Euro gestartet. Weiter boten nichtstaatliche Organisationen Unterstützung für freiwillige und abgeschobene Rückkehrer an, so IPSO (International Psychosocial Organisation) und AMASO (Afghanistan Migrants Advice & Support Organisation), u.a. kostenlose psychosoziale Unterstützungsangebote, Programme zur Alphabetisierung, Weiterbildung und Existenzgründung vor Ort sowie die Möglichkeit einer Unterkunft für mehr als zwei Wochen. Von 2012 bis Ende 2018 waren laut IOM 3,2 Millionen Afghanen aus dem Ausland nach Afghanistan zurückgekehrt. Im Rahmen seines freiwilligen Rückkehrprogramms hat UNHCR im Zeitraum 2002 bis 2018 über 5,26 Millionen Menschen bei der Rückkehr nach Afghanistan assistiert. Somit hatte eine große Zahl der afghanischen Bevölkerung einen Flucht- und Migrationshintergrund (vgl. Auswärtiges Amt, a.a.O., Seite 29; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt Afghanistan vom 29. Juni 2018 mit letzten Kurzinformationen vom 22. August 2018, Seite 333 ff).
Hierbei war zu berücksichtigen, dass seit dem Jahr 2003 mit Unterstützung der IOM insgesamt 15.041 Personen aus verschiedenen Ländern Europas, darunter aus dem Vereinigten Königreich, Norwegen, Niederlande, Deutschland, Schweden, Dänemark, Frankreich, Belgien und Österreich, freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt sind. Allein im Jahr 2016 unterstützte die IOM 6.864 Personen bei ihrer Rückkehr aus Europa nach Afghanistan, davon über 3.000 Personen aus Deutschland. Die meisten dieser Rückkehrer, 78 Prozent bzw. 5.382 Personen, waren dabei junge Männer, von denen wiederum ein erheblicher Anteil zwischen 19 und 26 Jahre alt war, nämlich 2.781 Personen. Bei weiteren 2.101 Personen handelte es sich um Jugendliche mit bis zu 18 Jahren. Die Zahl der zurückgekehrten Familien wurde mit 733 angegeben (vgl. VGH Mannheim, Urteil vom 12. Oktober 2018 – A 11 S 316/17 – juris, Rn. 400-401 m.w.N.). Bis Juli 2017 kehrten nach Angaben der IOM aus Europa und der Türkei 41.803 Personen nach Afghanistan zurück (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt Afghanistan vom 29. Juni 2018 mit letzten Kurzinformationen vom 22. August 2018, Seite 331).
Auf die Inanspruchnahme finanzieller Hilfen im Falle der freiwilligen Rückkehr musste sich seinerzeit aber auch derjenige verweisen lassen, der eine freiwillige Ausreise nicht in Betracht zieht, sondern abgeschoben wird. Denn grundsätzlich bedarf derjenige keines Schutzes in der Bundesrepublik Deutschland, der eine geltend gemachte Gefährdung in seinem Heimatland durch zumutbares eigenes Verhalten abwenden kann, wozu insbesondere die freiwillige Ausreise und Rückkehr in den Heimatstaat gehört (BVerwG, Urteil vom 15. April 1997 - 9 C 38.96 - juris, Rn. 27; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 17. Dezember 2020 - A 11 S 2042/20 - juris, Rn. 110).
Selbst wenn ein Rückkehrer im ersten Jahr keinerlei Einkünfte durch eine Arbeit als Tagelöhner erzielen hätte können oder keine Anstellung finden konnte, war seinerzeit nicht davon auszugehen, dass ein junger, gesunder arbeitsfähiger Mann unter Berücksichtigung der Rückkehrhilfen unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in eine Situation extremer materieller Not geraten würde. Dessen ungeachtet sprach damals vielmehr Überwiegendes dafür, dass es Rückkehrern mit den oben beschriebenen Merkmalen innerhalb eines Jahres möglich sein wird, ein gewisses soziales Netzwerk aufzubauen, das es ihnen ermöglichen wird, in zunehmendem Maße Erwerbseinkommen zu erzielen (vgl. VG Freiburg (Breisgau), Urteil vom 05. März 2021 – A 8 K 3716/17 –, Rn. 80, juris).
Rückkehrer aus Europa oder dem westlichen Ausland wurden von der afghanischen Gesellschaft häufig misstrauisch wahrgenommen. Dem Auswärtigen Amt sind jedoch keine Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nachweislich aufgrund ihres Aufenthalts in Europa Opfer von Gewalttaten wurden. Auch EASO berichtet hierzu von unbestätigten Einzelfällen. EASO liegen aber einzelne Berichte über versuchte Entführungen aufgrund der Vermutung, der Rückkehrer sei im Ausland zu Vermögen gekommen, vor (Auswärtiges Amt, a.a.O., Seite 31).
Mit Beginn der Covid-19-Pandemie hat sich die wirtschaftliche Situation in Afghanistan namentlich mit Blick auf die Ernährungssicherheit und die Lage auf den Arbeitsmarkt stark verschlechtert, so dass der ursprünglich geltende Grundsatz in der Rechtsprechung nicht mehr pauschal aufrecht erhalten wurde, mit der Folge, dass es obergerichtlich umstritten war, ob im Hinblick auf am wenigsten vulnerabel Gruppen der jungen, erwachsenen, gesunden, alleinstehenden und nicht zum Unterhalt verpflichteten Männer regelhaft die sehr hohen Voraussetzungen des Art. 3 EMRK im Hinblick auf eine drohende Verelendung vorliegen, wenn in ihrer Person keine begünstigenden Umstände vorliegen (vgl. VG Greifswald, Urteil vom 21. Januar 2022 – 3 A 194/19 HGW –, Rn. 29, juris). |
Diese Situation hat sich nun durch die landesweite Machtübernahme durch die Taliban maßgeblich – und hier entscheidungsrelevant – verändert, sodass im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung – auf den hier wegen § 77 Abs. 1 AsylG abzustellen ist – unter keinen Umständen mehr davon ausgegangen werden kann, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan in der Lage sein wird, etwa durch Gelegenheitsarbeiten ein kleines Einkommen zu erwirtschaften und damit ein Leben am Rande des Existenzminimums zu bestreiten.
Durch die Machtübernahme der Taliban hat sich die ohnehin extrem angespannte wirtschaftliche Situation weiterhin und zwar in drastischem Maße dergestalt verschlechtert, dass selbst ein nicht zur vulnerablen Gruppe gehörender junger, gesunde alleinstehender Mann ohne Unterhaltsverpflichtungen im Falle eines fehlenden familiären und sozialen Netzwerks in Afghanistan, nicht mehr in der Lage sein wird, das Existenzminimum zu erwirtschaften.
Die bereits vor der Machtübernahme durch die Taliban schwache, wenig diversifizierte afghanische Wirtschaft war in hohem Maße von ausländischen Einkünften abhängig. Diese umfasste – wie oben ausführlich darstellt – neben ziviler Hilfe, finanzieller Unterstützung für die afghanischen nationalen Sicherheitskräfte (ANSF) und Geld, das von ausländischen Armeen im Land ausgegeben wurde (AAN 11.11.2021; Bundesamt für fremden Wesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation Afghanistan, Datum der Veröffentlichung: 28. Januar 2022, S. 155), auf die insbesondere auch derjenige zugreifen konnte, der über kein familiäres Netz mehr in Afghanistan – wie der Kläger – verfügt. Diese Hilfen sind nunmehr nicht mehr erreichbar, sodass davon auszugehen ist, dass im Falle eines fehlenden familiären Netzwerks eine Existenzsicherung ausgeschlossen ist.
Nach der Machtübernahme der Taliban bleiben nämlich die Banken geschlossen, so haben die Vereinigten Staaten der Taliban-Regierung den Zugang zu praktisch allen Reserven der afghanischen Zentralbank in Höhe von 9 Mrd. $ (7,66 Mrd. €) verwehrt, die größtenteils in den USA gehalten werden. Auch der Internationale Währungsfonds (IWF) hat Afghanistan nach der Eroberung Kabuls durch die Taliban den Zugang zu seinen Mitteln verwehrt. Im November 2021 sagte der Präsident der Weltbank, dass es unwahrscheinlich sei, dass sie die direkte Hilfe für Afghanistan wiederaufnehmen werde, da das Zahlungssystem des Landes Probleme aufweise (Bundesamt für fremden Wesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation Afghanistan, Datum der Veröffentlichung 28. Januar 2022, S. 155).
Da seit der Machtübernahme der Taliban keine neuen Dollarlieferungen eintreffen, um die Währung zu stützen, ist die afghanische Währung Ende August 2021 auf ein Rekordtief gefallen und hat die Preise in die Höhe getrieben. Die Preise für Grundnahrungsmittel wie Mehl, Öl und Reis sind deswegen innerhalb weniger Tage um bis zu 10-20 % gestiegen (DW 24.8.2021). Dieser Trend setzte sich auch im Dezember 2021 fort, als die afghanische Währung gegenüber dem Dollar in nur einer Woche 30 % des Wertes verloren (Bundesamt für fremden Wesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation Afghanistan, Datum der Veröffentlichung 28. Januar 2022, S. 159).
Nach der Machtübernahme der Taliban wurden Bank- und Geldüberweisungsdienste weithin ausgesetzt. Aus Kabul wird berichtet, dass die Geldautomaten leer sind und Geldwechsel nicht möglich ist und dass einige Menschen seit Monaten keinen Lohn mehr erhalten hätten. Vor den Banken bilden sich lange Schlangen, aber diese bleiben geschlossen. Die Taliban haben einen kommissarischen Leiter der Zentralbank ernannt, der helfen soll, die wirtschaftlichen Turbulenzen zu lindern. Anfang November 2021 hat die Taliban-Regierung die Nutzung fremder Währungen im Land verboten (Bundesamt für fremden Wesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation Afghanistan, Datum der Veröffentlichung 28. Januar 2022, S. 167). Gelder aus dem Westen – von welchen die afghanische Regierung zu 75% finanziert wurde (vgl. https://www.crisisgroup.org/asia/south-asia/afghanistan/taliban-rule-begins-afghanistan) – wurden größtenteils eingestellt (vgl. https://www.capital.de/wirtschaft-politik/die-wirtschaft-der-taliban-woher-kommt-das-viele-geld) bzw. ausländische Reserven in Höhe von 9 Mrd. US-Dollar von den USA eingefroren (vgl. BAMF, Briefing Notes vom 20. September 2021).
Hinzu kommt, dass sich Afghanistans langwierige Nahrungsmittelkrise weiter vertieft und ausgeweitet hat (IPC, Afghanistan: Akute Ernährungsunsicherheit September - Oktober 2021 und Prognose für November 2021 - März 2022). Zwischen September und Oktober 2021 erlebten fast 19 Millionen ein hohes Maß an akuter Ernährungsunsicherheit, die im Rahmen der von Hilfsorganisationen zur Bestimmung des Ausmaßes von Nahrungsmittelunsicherheit verwendeten Integrated Food Security Phase Classification (IPC) in die IPC-Phasen 3 oder 4 eingestuft wurden (IPC, Afghanistan: Akute Ernährungsunsicherheit September - Oktober 2021 und Prognose für November 2021 - März 2022). Der auf den Phasen 3 und 4 beruhende Grad akuter Nahrungsmittelunsicherheit bedeutet nach der IPC-Klassifikation, dass diese Menschen als zur Sicherstellung ihrer Ernährung dringend humanitärer Hilfsleistungen bedürftig gelten (vgl. VG Greifswald, Urteil vom 21. Januar 2022 – 3 A 194/19 HGW –, Rn. 62, juris). Bestand das Risiko einer Hungersnot früher hauptsächlich in ländlichen Gebieten, sind nun auch die Menschen in den Städten betroffen (vgl. BAMF, Briefing Notes vom 22. November 2021, S. 2; vgl. VG München, Urteil vom 25. Januar 2022 – M 6 K 21.30037 –, Rn. 20, juris).
Laut eines aktuellen Aufrufs der UN besteht im Jahr 2022 ein Bedarf an humanitären Hilfen in Höhe von nahezu 5 Mrd. US-$ (vgl. https://www.aljazeera.com/news/2022/1/11/un-wants-5-bn-aid-for-afghanistan-in-2022). Afghanische Wirtschaftsanalysten glauben zudem, dass die internationalen Hilfen die wirtschaftliche Krise nicht verhindern können, solange die westlichen Gelder eingefroren bleiben (vgl. https://tolonews.com/afghanistan-175366). Selbst wenn alle Hilfsgelder ankommen würden – bislang hätten Berichten der UN zufolge 60 Mio. US-$ ihr Ziel erreicht (vgl. BAMF, Briefing Notes vom 28. November 21, S. 3; https://tolonews.com/afghanistan-175656) – würde die Summe von 8,5 Mrd. US-$ nicht erreicht, die Afghanistan zuvor aus dem Ausland erhalten hat (vgl. Afghanistan Analysts Network, Report v. 11. November 2021, a.a.O.). Vor diesem Hintergrund vermögen auch z.B. die 36 Tonnen an Hilfslieferungen aus Russland (u.a. Weizen, Zucker und Tee) sowie die einmalige Ausgabe von etwa 265 US-$ an Hilfsgeldern für 1.000 bedürftige Familien in Kabul (vgl. BAMF, Briefing Notes vom 6. Dezember 2021, S. 2) die katastrophale humanitäre Lage nicht nennenswert verbessern (vgl. VG München, Urteil vom 25. Januar 2022 – M 6 K 21.30037 –, Rn. 20, juris).
Bei der hier anzustellenden Prognose, welche Gefahren einem Ausländer bei Rückkehr in den Herkunftsstaat drohen, ist zudem immer eine - zwar notwendig hypothetische, aber doch - realitätsnahe Rückkehrsituation zugrunde zu legen (vgl. BVerwG, Urteile vom 8. September 1992 - 9 C 8.91 - BVerwGE 90, 364 <368 f.> und vom 16. August 1993 - 9 C 7.93 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 163 S. 391 f.).
Lebt der Ausländer auch in Deutschland in familiärer Gemeinschaft – wie vorliegend der Kläger mit seiner Ehefrau und dem gemeinsamen Kind – ist für die anzustellende Prognose der bei Rückkehr in das Herkunftsland drohenden Gefahren in Bezug auf die einzubeziehenden Personen auch zu berücksichtigen, unter welchen Voraussetzungen es überhaupt zu einer Rückkehr kommen kann und wird. Der grund- und konventionsrechtliche Schutz des bestehenden Kernfamilienverbandes wirkt auf diese Rückkehrkonstellation ein und lässt auch bei bestehender Bleibeberechtigung einzelner Mitglieder eine getrennte Betrachtung einzelner Familienmitglieder für den Rückkehrfall in der Regel nicht zu (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 – 1 C 45/18 –, BVerwGE 166, 113-125, Rn. 16 – 28, juris).
Diese Betrachtungsweise mindert einerseits Friktionen, die sich daraus ergeben können, dass über die Schutzanträge der einzelnen Mitglieder der Kernfamilie nicht gleichzeitig, sondern zeitversetzt entschieden wird. Dann nämlich hing es nach der mittlerweile überholten Rechtsprechung von Zufälligkeiten der Verfahrensgestaltung ab, ob für die Rückkehrprognose noch eine gemeinsame Rückkehr im Familienverband zugrunde zu legen oder wegen bestandskräftiger Schutzgewähr für einzelne Familienmitglieder eine getrennte Betrachtung vorzunehmen war (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 – 1 C 45/18 –, BVerwGE 166, 113-125, Rn. 16 – 28, juris).
Art. 6 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) schützt nämlich die Familie (auch) als Solidar-, Betreuungs- und Unterstützungsverband. Bei Mitgliedern einer häuslichen und familiären Gemeinschaft ist anzunehmen, dass diese in besonderer Weise füreinander einstehen und bereit sind, ihren Lebensunterhalt auch jenseits zwingender rechtlicher Verpflichtungen gegenseitig zu sichern (BVerfG, Beschluss vom 27. Juli 2016 - 1 BvR 371/11 - BVerfGE 142, 353 Rn. 63). Eine familiäre Lebensgemeinschaft ist eine Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft, bei der ein gegenseitiges Einstehen in den Not- und Wechselfällen des Lebens erwartet werden kann (ebd., Rn. 39).Regelmäßig werden in einem Haushalt zusammenlebende Familienangehörige umfassend "aus einem Topf" wirtschaften (vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. Juli 2016 - 1 BvR 371/11 - BVerfGE 142, 353 Rn. 53, 65).
Diese aus Art. 6 GG folgenden Unterhalts- und Unterstützungs"obliegenheiten", die in der konkret erwartbaren Rückkehrsituation ein Familienmitglied treffen und deren Erfüllung sich notwendig - positiv wie negativ - auf den gesamten Familienverband auswirkt (z.B. Anforderung an "familientaugliche" Unterkunftsverhältnisse, Versorgungsprobleme, geringere räumliche Flexibilität), prägen zumindest normativ die Rückkehrsituation. Es ist bei bestehender familiärer Gemeinschaft im Regelfall davon auszugehen, dass sich der einzelne Rückkehrer nicht nur in der verfassungsrechtlich gestützten Rechtspflicht zur Unterhaltsgewähr und Versorgung, sondern auch in einer entsprechenden sittlich-moralischen Pflicht sieht. Bei der Rückkehr im Familienverband, bei der lediglich ein Familienmitglied sein eigenes Existenzminimum (notdürftig) sichern könnte, nicht aber das seiner Angehörigen, steht dieses vor der Alternative, entweder unter Verletzung seiner Familienobliegenheiten zunächst vollständig seine eigene Existenz (hinreichend) zu sichern und dafür auch die tatsächliche Existenzgefährdung oder eine konventionswidrige Situation der von ihm abhängigen Angehörigen in Kauf zu nehmen oder unter dem Eindruck der in ihrer Existenz gefährdeten Familienmitglieder auf die hinreichende Sicherung der eigenen Existenz durch "Teilen" mit Familienangehörigen auch dann zu verzichten, wenn dies zu einer konkret drohenden Verletzung von Leib, Leben oder der Freiheit der eigenen Person führt. Entscheidet er sich für Letzteres, handelt es sich nicht um eine "freiwillige Selbstgefährdung", die eine "außergewöhnliche Notlage" im Sinne des Art. 3 EMRK ausschließt. Art. 6 GG/Art. 8 EMRK schützen jedenfalls normativ die - für die Rückkehrprognose naheliegende - Entscheidung eines Ehepartners, auf die Erfüllung grundlegender familiärer Solidarpflichten auch dann nicht zugunsten der eigenen Existenzsicherung zu verzichten, wenn damit das eigene Existenzminimum unterschritten und für die eigene Person eine mit Art. 3 EMRK unvereinbare Lage herbeigeführt wird. Die Unterschreitung auch des eigenen Existenzminimums, die in der Familiensituation aus der existenziellen Notlage für jedes einzelne Familienmitglied folgt, ist dann auch nicht eine bloß mittelbare Gefährdungssteigerung aus den "Versorgungslasten" für nahe Familienangehörige; sie bewirkt auch nicht, dass lediglich das Schutzbedürfnis eines nahen Familienangehörigen zu einer eigenen Rechtsposition des Ausländers führt (dies - für eine andere Fallkonstellation ablehnend - BVerwG, Urteil vom 16. Juni 2004 - 1 C 27.03 - Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 78 S. 129 f.).
Mit Blick auf den vom Bundesverwaltungsgericht an Art. 6 GG orientierten Maßstab ist beim Kläger in Ansatz zubringen, dass er im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan neben seinem eigenen auch den Unterhalt seiner Ehefrau und des gemeinsamen Kindes zu besorgen hätte. Es ist nämlich – wie erwähnt – davon auszugehen, dass Eheleute in Falle der Abschiebung eines Ehepartners in der Regel gemeinsam in ihr Herkunftsland zurückkehren werden.
Hiernach ist für den Kläger mit Blick auf seine individuelle Situation ein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG festzustellen, da über kein erreichbares und insoweit belastbares familiäres Netzwerk mehr in Afghanistan verfügt und auch nicht davon ausgegangen werden kann, dass er durch Gelegenheitsarbeiten in Kabul in der Lage sein wird, ein Existenzminimum für sich und seine Ehefrau sowie sein Kind zu erwirtschaften. Es ist zudem nicht anzunehmen, dass er sich auf dem extrem angespannten afghanischen Arbeitsmarkt gegen andere Mitbewerber wird durchzusetzen können, da er auf ein unterstützendes Netzwerk nicht wird zurückgreifen können.
Nach beklagtenseits unbestrittenen Vortrag hat der Kläger keine Familienangehörigen mehr in Afghanistan, da er bereits mit seiner Familie und Angehörigen der Großfamilie im Jahr 2001 Afghanistan verlassen hat und in den Iran gegangen ist. Ein Großteil der näheren Familie des Klägers lebt mittlerweile in der Bundesrepublik Deutschland.
Für den Kläger ist aber auch im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan auch der Rückgriff zu finanzieller Unterstützung aus Rückkehrerprogrammen nicht möglich, die neben finanziellen Hilfen für einen begrenzten Zeitraum selbst eine Unterkunft bereitstellen oder bei der Suche behilflich wären. Denn diese sind – wie oben ausführlich dargelegt – aufgrund der sich stark verschlechternden Sicherheitslage in Afghanistan bis auf Weiteres seit dem 17. August 2021 ausgesetzt (vgl. https://www.returningfromgermany.de/de/countries/afghanistan/).
Darüber hinaus ist die besondere Situation in Afghanistan nach der Machtübernahme durch die Taliban in den Blick zu nehmen. Wie erwähnt hat die Taliban-Regierung am 3. November 2021 die Benutzung fremder Währungen im Land verboten, legale Überweisungen aus dem Ausland sind vor dem Hintergrund der einschlägigen Erkenntnismittel nicht möglich. Wenngleich ein Sprecher der Taliban am 13. Dezember 2021 die Entscheidung der USA, private Geldsendungen nach Afghanistan zu erlauben, begrüßt und Einwohnern den Zugang zu Diensten wie Western Union oder MoneyGram zugesichert hat (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 20. Dezember 21, S. 2), ist eine Verbesserung nicht eingetreten, sodass davon auszugehen ist, dass der Zugriff auf Bargeld weiterhin massiv erschwert bleibt. Afghanistan steht vor einer katastrophalen Bargeldknappheit, die Banken und Unternehmen lahmlegt, die Preise für Lebensmittel und Treibstoff in die Höhe schnellen lässt und eine verheerende Hungerkrise ausgelöst hat (vgl. o. sowie ACCORD, Anfragebeantwortung Afghanistan: Humanitäre Lage vom 6. Dezember 2021, S. 12).
Gemessen an dem oben entwickelten Maßstab ergibt sich vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen in Afghanistan seit der Machtübernahme durch die Taliban, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr in sein Herkunftsland bzw. in die Hauptstadt Kabul aufgrund der dort herrschenden allgemein humanitären Verhältnisse die tatsächliche Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt sein wird, da er weder über ein familiäres Netzwerk in Afghanistan verfügt noch in den Genuss von finanziellen Hilfen aus dem Ausland kommen kann. Auf eine mögliche finanzielle Unterstützung durch Angehörige aus dem westlichen Ausland namentlich aus der Bundesrepublik Deutschland und deren Unterstützung kommt es mit Blick auf die zurzeit einschlägigen Erkenntnismittel mangels Verfügbarkeit in Afghanistan – wie oben dargelegt – nicht an.
In der Gesamtschau ist daher nicht davon auszugehen, dass der Kläger sein Existenzminimum in Afghanistan erlangen kann, so dass die Anforderungen des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK zu bejahen sind.
Ob daneben die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfüllt sind, bedarf keiner Prüfung, da es sich bei den nationalen Abschiebungsverboten um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand handelt (vgl. BVerwG, Urteil vom 8. September 2011 - 10 C 14.10 -, juris Rn. 17).
Die Klage ist in Bezug auf die Ziffern 5 und 6 des angegriffenen Bescheides ebenfalls begründet. Der Bescheid erweist sich insoweit als rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Die gesetzlichen Voraussetzungen für den Erlass der in Ziffer 5 verfügten Abschiebungsandrohung liegen wegen der Gewährung von Abschiebungsschutz nicht vor (vgl. § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylG). Demnach kann auch das in Ziffer 6 auf der Grundlage von § 75 Nr. 12, § 11 AufenthG verfügte Einreise- und Aufenthaltsverbot samt seiner Befristung keinen Bestand haben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei, sodass es einer Streitwertfestsetzung nicht bedarf.
Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 der Zivilprozessordnung (ZPO).