Gericht | VG Cottbus 6. Kammer | Entscheidungsdatum | 29.10.2021 | |
---|---|---|---|---|
Aktenzeichen | 6 K 588/17.A | ECLI | ECLI:DE:VGCOTTB:2021:1029.6K588.17.A.00 | |
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 60 Abs 5 AufenthG, § 92 Abs 3 VwGO, Art 3 MRK |
Soweit der Kläger die Klage zurückgenommen hat, wird das Verfahren eingestellt.
Die Beklagte wird unter Aufhebung der Ziffern 4 bis 6 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 23. Februar 2017 verpflichtet, festzustellen, dass zugunsten des Klägers ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistan vorliegt.
Die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens tragen der Kläger zu 2/3 und die Beklagte zu 1/3.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Der Kläger begehrt zuletzt noch die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots hinsichtlich Afghanistan.
Der Kläger, eigenen Angaben zufolge am 1. Januar 1992 geborener afghanischer Staatsangehöriger und Angehöriger der Volksgruppe der Hazara, reiste am 12. Januar 2016 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte hier am 11. Mai 2016 einen Asylantrag.
Bei seiner Anhörung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 22. November 2016, die in der Sprache Persisch durchgeführt wurde, gab der Kläger im Wesentlichen an, dass er seit seinem vierzehnten Lebensjahr gemeinsam mit seinen Eltern und Geschwistern im Iran gelebt habe. Die Familie sei damals wegen Landstreitigkeiten mit Verwandten in Afghanistan in den Iran ausgewandert. Dort habe man später von ihm verlangt, als Soldat im Syrienkrieg zu kämpfen. Falls er sich weigere, würde die Familie nach Afghanistan abgeschoben. Aus Angst um sein Leben habe die Familie entschieden, gemeinsam nach Europa zu fliehen. Nach Afghanistan habe er wegen der Auseinandersetzung mit den Verwandten nicht zurückkehren können. Zudem sei er als Hazara und Schiit dort in Lebensgefahr. |
Der Kläger hat mit Schriftsatz vom 29. September 2021 seine Anträge auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sowie des subsidiären Schutzes zurückgenommen und nunmehr (sinngemäß) beantragt,
die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes vom 23. Februar 2017 zu verpflichten, festzustellen, dass zugunsten des Klägers Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG hinsichtlich Afghanistan vorliegen.
Die Beklagte hat schriftsätzlich beantragt, |
die Klage abzuweisen. |
Sie nimmt Bezug auf den angefochtenen Bescheid.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie den beigezogenen Verwaltungsvorgang des Bundesamtes verwiesen, die jeweils der Entscheidung zu Grunde lagen.
Die Kammer konnte gemäß § 76 Abs. 1 des Asylgesetzes (AsylG) durch den Berichterstatter als Einzelrichter entscheiden, da diesem der Rechtsstreit durch Beschluss vom 6. September 2021 übertragen worden ist. Der Einzelrichter konnte gemäß § 101 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) im Wege des schriftlichen Verfahrens entscheiden, da sich die Beteiligten hiermit einverstanden erklärt haben.
Soweit der Kläger die Klage mit Schriftsatz vom 29. September 2021 im Hinblick auf die begehrte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sowie des subsidiären Schutzes zurückgenommen hat, war das Verfahren nach § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen.
Im Übrigen ist die Klage zulässig und begründet. Der Bescheid des Bundesamts vom 23. Februar 2017 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger (daher) in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Dieser hat in dem für die Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylG) einen Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG.
Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten – EMRK – ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Gemäß Art. 3 EMRK, der hier allein relevant ist, darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Im Falle einer Abschiebung wird eine Verantwortlichkeit der Bundesrepublik Deutschland nach Art. 3 EMRK dann begründet, wenn erhebliche Gründe für die Annahme bestehen, dass der Betroffene im Zielstaat mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit tatsächlich Gefahr läuft ("real risk"), einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein (vgl. EGMR, Urteile vom 28. Juni 2011 - Nr. 8319/07, 11449/07, Sufi und Elmi ./. Vereinigtes Königreich -, Rnrn. 212 und 216; BVerwG, Beschluss vom 13. Februar 2019 - 1 B 2/19 -, juris Rn. 6; Urteil vom 31. Januar 2013 - 10 C 15/12 -, juris Rnrn. 23 und 25). |
Nach diesem Maßstab liegen die Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK vor. Hierbei kann dahinstehen, ob ein solches auch aufgrund der derzeit in Afghanistan und insbesondere in der Stadt Kabul herrschenden Sicherheitslage besteht. Denn jedenfalls die dortigen humanitären Verhältnisse lassen für den Kläger unter Berücksichtigung seiner individuellen Umstände die ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung erwarten.
Bereits vor der Machtübernahme der Taliban war Afghanistan eines der ärmsten Länder der Welt und wurde insbesondere von den wirtschaftlichen Auswirkungen der Covid-19-Pandemie schwer getroffen (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der islamischen Republik Afghanistan vom 15. Juli 2021 S. 20). Schätzungsweise 11 Millionen Menschen - fast ein Drittel der Bevölkerung – waren zwischen März und Mai 2021 von akuter Nahrungsunsicherheit betroffen (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der islamischen Republik Afghanistan vom 15. Juli 2021 S. 21).Es wurde erwartet, dass aufgrund von Konflikten, der COVID-19-Pandemie sowie einer Dürre im Jahr 2021 mehr als 18 Millionen Afghaninnen und Afghanen auf humanitäre Hilfe angewiesen sein werden, also u. a. keinen gesicherten Zugang zu Unterkunft, Nahrung, sauberem Trinkwasser und/oder medizinischer Versorgung haben werden, was gegenüber dem Jahr 2020 einen Anstieg um vier Millionen bedeutet hätte (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der islamischen Republik Afghanistan vom 15. Juli 2021 S. 21; BAMF, Briefing Notes vom 19. Juli 2021 S. 2). Es wurde damit gerechnet, dass sich insbesondere Rückkehrende in einer solchen Notlage wiederfinden werden, da diese in besonderem Maße von unsicheren Wohnverhältnissen und fehlenden Möglichkeiten zum Bestreiten des Lebensunterhalts betroffen sind (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der islamischen Republik Afghanistan vom 15. Juli 2021 S. 21;BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Afghanistan, 16.09.2021, S. 109). |
Die ohnehin schon schwierige humanitäre Situation hat sich aufgrund der Machtübernahme der Taliban weiter verschärft. Die stark von internationalen Hilfsgeldern abhängige afghanische Wirtschaft ist eingebrochen. Das Land war abrupt von rund 9 Milliarden US-Dollar an Devisenreserven abgeschnitten und die meisten Geberländer stoppten ihre Entwicklungshilfezahlungen. Fast alle ausländischen Entwicklungshelfer verließen das Land ebenso wie Zehntausende hochrangige Beamte, Unternehmer und Banker (vgl. https://www.sueddeutsche.de/politik/konflikte-hungerkrise-in-afghanistan-spitzt-sich-dramatisch-zu-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-211025-99-729473; https://www.spiegel.de/international/world/tall-task-for-the-taliban-afghanistan-teetering-on-the-brink-of-economic-collapse-a-c95faf1d-7f01-4780-911f-3879d914a6a9; https://taz.de/Angst-und-Armut-in-Afghanistan/!5805726). Der Internationale Währungsfonds (IWF) rechnet damit, dass das Bruttoinlandsprodukt von Afghanistan in diesem Jahr um bis zu 30 % schrumpft (vgl. BAMF, Briefing Notes vom 25. Oktober 2021 S. 2). Viele Menschen haben ihre Arbeit verloren (vgl. BAMF, Briefing Notes vom 6. September 2021 S. 1) oder seit Monaten keine Gehälter mehr erhalten (vgl. BAMF, Briefing Notes vom 25. Oktober 2021 S. 2; https://www.dw.com/de/afghanistan-der-kampf-der-hilfsorganisationen/a-59519192). Vor den Banken bilden sich lange Schlangen und die Konteninhaber dürfen nur kleine Beträge abheben (https://www.spiegel.de/international/world/tall-task-for-the-taliban-afghanistan-teetering-on-the-brink-of-economic-collapse-a-c95faf1d-7f01-4780-911f-3879d914a6a9; https://taz.de/Angst-und-Armut-in-Afghanistan/!5805726; https://www.tagesschau.de/ausland/asien/taliban-deutschland-unterstuetzung-101.html ). Das führt zu akuter Bargeldknappheit. Importeure lebenswichtiger Waren können ihre Lieferanten nicht bezahlen (vgl. https://taz.de/Angst-und-Armut-in-Afghanistan/!5805726). Zudem droht für den Winter die Gefahr eines Blackouts, da die neue Regierung den aus dem Ausland importierten Strom nicht mehr bezahlen kann (vgl. BAMF, Briefing Notes vom 4. Oktober 2021 S. 2). Die Landeswährung Afghani verliert an Wert während die Preise für viele Güter stark gestiegen sind (vgl. BAMF, Briefing Notes vom 25. Oktober 2021 S. 2; https://taz.de/Angst-und-Armut-in-Afghanistan/!5805726). Allein seit August sollen sich die Preise für Nahrungsmittel und Benzin verdoppelt haben (vgl. BAMF, Briefing Notes vom 18. Oktober 2021 S. 2). In Kombination mit der anhaltenden Dürre droht der Bevölkerung deshalb eine Hungersnot. Wie aus einem am 25. Oktober 2021 veröffentlichten Bericht der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) und des Welternährungsprogramms (WFP) der Vereinten Nationen hervorgeht, werden mehr als die Hälfte der Bevölkerung Afghanistans – eine Rekordzahl von 22, 8 Millionen Menschen - ab November nicht genug zu essen haben. Bereits im September und Oktober erlebten knapp 19 Millionen Menschen in Afghanistan ein hohes Maß an akuter Ernährungsunsicherheit. Es gab einen Anstieg von fast 30 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum, heißt es in dem Bericht weiter. Zum ersten Mal leide die städtische Bevölkerung in ähnlichem Maße unter Hunger wie ländliche Gemeinden. In allen größeren städtischen Zentren wird Hunger auf Notfallniveau (IPC-Phase 4) prognostiziert. Das schließt auch Menschen der ehemaligen Mittelschicht ein (vgl. https://www.ipcinfo.org/fileadmin/user_upload/ipcinfo/docs/IPC_Afghanistan_AcuteFoodInsec_2021Oct2022Mar_report.pdf).
Auch die Gesundheitsversorgung in Afghanistan verschlechtert sich rapide. Bis zur Machtübernahme der Taliban im August 2021 wurden 90% der medizinischen Versorgung in Afghanistan nicht direkt vom Staat erbracht, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die unter Vertrag genommen worden sind (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der islamischen Republik Afghanistan vom 15. Juli 2021 S. 23). Gegenwärtig sind allerdings viele NGOs gezwungen, aus Mangel an finanziellen, personellen und anderen Mitteln Gesundheitseinrichtungen zu schließen oder Hilfen einzuschränken. Hierzu gehören Impfungen für Kinder, Schwangerenbetreuung, postnatale Betreuung und Entbindungen für Schwangere, Betreuung bei Unterernährung, COVID-19-Behandlungszentren und andere wichtige Gesundheitsdienste, von denen Frauen, Kinder und ältere Menschen unverhältnismäßig stark betroffen sind (vgl. BAMF, Briefing Notes vom 6. September 2021 S. 2). Am 13. September 2021 wurde zudem berichtet, dass aufgrund der sich verschlechternden wirtschaftlichen Lage viele Medikamente in Krankenhäusern knapp werden (vgl. BAMF, Briefing Notes vom 13. September 2021 S. 2). Laut Stellungnahme der Weltgesundheitsorganisation (WHO) vom 22. September 2021 stehe das Afghanische Gesundheitssystem vor dem Kollaps. Nur noch 17 Prozent der über 2.300 zuvor von der Weltbank unterstützten Gesundheitseinrichtungen seien voll funktionsfähig. Auch hätten neun von 37 COVID-Kliniken schließen müssen. Es werde weniger auf das Coronavirus getestet und geimpft (vgl. https://www.who.int/news/item/22-09-2021-acute-health-needs-in-afghanistan-must-be-urgently-addressed-and-health-gains-protected). Am 19. Oktober 2021 wurde gemeldet, dass das Gesundheitssystem in den westlichen Provinzen rapide schlechter werde. Im Regionalkrankenhaus Herat stünden nur ca. 30 % der benötigten Medikamente oder medizinischer Ausrüstung zur Verfügung (vgl. BAMF, Briefing Notes vom 25. Oktober 2021 S. 2).
Zwar hat am 22. Oktober 2021 das Entwicklungshilfeprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) einen Treuhandfond eingerichtet, um den wirtschaftlichen Kollaps in Afghanistan zu verhindern (vgl. BAMF, Briefing Notes vom 25. Oktober 2021 S. 2; https://www.arte.tv/de/afp/neuigkeiten/un-foerderprogramm-soll-kollaps-afghanischer-wirtschaft-verhindern). Gleiches bezwecken die von vielen Geberländern und der EU bereits zuvor u. a im Rahmen eines virtuellen Sondergipfels der G20-Staatengruppe zu Afghanistan am 12. und 13. Oktober 2021 (vgl. hierzu BAMF, Briefing Notes vom 18. Oktober 2021 S. 2; https://www.tagesschau.de/ausland/europa/afghanistan-konferenz-rom-101.html) sowie anlässlich einer Geberkonferenz in Genf am 13. September 2021 (vgl. hierzu https://www.tagesschau.de/ausland/asien/afghanistan-1067.html) zugesagten Hilfsgelder. Auch das afghanische Gesundheitssystem soll mit Hilfsgeldern vor dem Kollaps bewahrt werden (vgl. BAMF, Briefing Notes vom 27. September 2021 S. 1). Ob und wann die zugesagten Gelder die notleidende Bevölkerung tatsächlich erreichen werden, ist aber derzeit ebenso ungewiss, wie ob Hilfsorganisationen ihre Arbeit unter der Herrschaft der Taliban ungehindert fortsetzen können.
Insbesondere für Rückkehrende aus dem westlichen Ausland wird es bedingt durch den Machtwechsel künftig noch schwerer sein, ihren Lebensunterhalt sicherzustellen. Aus der Studie zu den Erfahrungen und Perspektiven von aus Deutschland abgeschobener Afghanen der Sachverständigen Stahlmann aus Juni 2021 ergibt sich, dass der Zugang zum Arbeits- und Wohnungsmarkt für Rückkehrende bereits bislang erheblich erschwert war, da der Aufenthalt in Europa zu ihrem sozialen Ausschluss aus der afghanischen Gesellschaft führt (vgl. Friederike Stahlmann, Erfahrungen und Perspektiven abgeschobener Afghanen im Kontext aktueller politischer und wirtschaftlicher Entwicklungen Afghanistans, Juni 2021, S. 4, 41 f.). Auch das Auswärtige Amt beschreibt in seinem Lagebericht vom 15. Juli 2021 (S. 24) insoweit, dass Rückkehrende aus Europa von der afghanischen Gesellschaft misstrauisch wahrgenommen werden. Gespeist wird dieses Misstrauen u.a. durch die verbreitete Annahme, Zurückkehrende hätten in Europa die eigenen religiösen und kulturellen Werte missachtet und sich dem westlichen Lebensstil angepasst (vgl. hierzu Hamburgisches OVG, Urteil vom 25. März 2021 – 1 Bf 388/19.A –, juris Rn. 188; Hessischer VGH, Urteil vom 23. August 2019 – 7 A 2750/15.A –, juris Rn. 93; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 18. Juni 2019 – 13 A 3930/18.A –, juris Rn. 246). Es ist davon auszugehen, dass dieses Misstrauen unter der Herrschaft der radikalislamistischen Taliban mit ihren strikten Moralvorstellungen anwachsen wird, so dass Rückkehrende aus dem westlichen Ausland künftig selbst in Städten wie Kabul, in denen in der Vergangenheit das Risiko von Anfeindungen als im Vergleich zu ländlichen Gebieten geringer eingestuft worden ist (vgl. hierzu EASO, Country Guidance Afghanistan, Dezember 2020, S. 81), mit Diskriminierungen und Stigmatisierungen, wenn nicht sogar Verfolgungen, rechnen müssen. Die damit einhergehende erhöhte Gefahr von Verelendung kann vorerst auch nicht mehr durch finanzielle Rückkehrhilfen abgemildert werden, da die Internationale Organisation für Migration (IOM), mit der Deutschland im Rahmen seiner Förder- und Integrationsprogramme für freiwillige Rückkehrer zusammenarbeitet (vgl. hierzu Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der islamischen Republik Afghanistan vom 15. Juli 2021 S. 22), aufgrund der aktuellen Sicherheitslage in Afghanistan die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr und Reintegration bis auf weiteres ausgesetzt hat (vgl. BFA, Sonderkurzinformation der Staatendokumentation, Afghanistan, 17. August 2021, S. 3 unter Verweis auf eine E-Mail der IOM vom 16.8.2021).
Unter diesen Umständen wäre derzeit auch ein alleinstehender, junger Mann wie der Kläger nur dann in der Lage, in Afghanistan sein notwendiges Existenzminimum sicherzustellen, wenn in seiner Person besondere begünstigende Umstände vorliegen würden. Solche liegen im Fall des Klägers aber nicht vor.
Dieser verfügt in Afghanistan über kein unterstützungsfähiges familiäres oder soziales Netzwerk. Seine Eltern und Geschwister sind mit Ausnahme einer Schwester gemeinsam mit ihm nach Deutschland ausgereist. Dafür, dass die in Afghanistan verbliebene Schwester in der Lage wäre, ihn zu unterstützen, ist schon angesichts der dort bereits vor der Machtübernahme der Taliban bestehenden Benachteiligung von Frauen - insbesondere auch auf dem Arbeitsmarkt – (vgl. hierzu Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der islamischen Republik Afghanistan vom 15. Juli 2021 S. 12) nichts ersichtlich. Vor dem Hintergrund, dass er Afghanistan bereits im Alter von 14 Jahren gemeinsam mit seiner Familie verlassen und danach durchgängig im Iran gelebt hat, fehlt es auch an Anhaltspunkten dafür, dass er in Afghanistan noch Zugang zu sonstigen Bezugspersonen hätte, die in der Lage wären, ihm Unterstützung zu geben. Auch eigenes nennenswertes Vermögen oder nachhaltige finanzielle oder materielle Unterstützung durch Dritte ist im Fall des Klägers nicht ersichtlich. Insbesondere stehen derzeit – wie oben ausgeführt - keine Rückkehr- bzw. Reintegrationshilfen zur Verfügung. Besondere begünstigende Umstände anderer Art liegen bei ihm nicht vor. Vielmehr kommt erschwerend hinzu, dass er als schiitischer Hazara einer Minderheit in Afghanistan angehört, die zu Zeiten der vorhergehenden Taliban-Herrschaft verfolgt wurde (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Afghanistan, 16.09.2021, S. 78; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der islamischen Republik Afghanistan vom 15. Juli 2021 S. 8). Auch wenn es derzeit keine gesicherten Erkenntnisse gibt, dass die Taliban erneut Hazara gezielt verfolgen, ist es beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan jedenfalls Diskriminierungen ausgesetzt wäre, die seinen Zugang zu Unterkunft und Erwerbstätigkeit erschweren würden. Denn solchen Benachteiligungen – insbesondere auch am Arbeitsmarkt – waren Hazara schon vor der erneuten Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 ausgesetzt (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Afghanistan, 16.09.2021, S. 78). |
Es kann mithin nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan in der Lage wäre, sein notwendiges Existenzminimum sicherzustellen. Dies gilt nicht nur für den etwaigen Ankunftsort Kabul, sondern vor dem Hintergrund der dargestellten Verhältnisse in Afghanistan sowie der besonderen Situation des Klägers landesweit. Es ist in Afghanistan kein Ort ersichtlich, an dem der Kläger in mit Art. 3 EMRK vereinbaren Verhältnissen leben könnte.
Ob daneben die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfüllt sind, bedarf keiner Prüfung, da es sich bei den nationalen Abschiebungsverboten um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand handelt (vgl. BVerwG, Urteil vom 8. September 2011 - 10 C 14.10 -, juris Rn. 17).
Die Klage ist in Bezug auf die Ziffern 5 und 6 des angegriffenen Bescheides ebenfalls begründet. Der Bescheid erweist sich insoweit als rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Die gesetzlichen Voraussetzungen für den Erlass der in Ziffer 5 verfügten Abschiebungsandrohung liegen wegen der Gewährung von Abschiebungsschutz nicht vor (vgl. § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylG). Demnach kann auch das in Ziffer 6 auf der Grundlage von § 75 Nr. 12, § 11 AufenthG verfügte Einreise- und Aufenthaltsverbot samt seiner Befristung keinen Bestand haben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei. |
Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.