Gericht | VG Potsdam 6. Kammer | Entscheidungsdatum | 01.03.2023 | |
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Aktenzeichen | 6 L 300/22.A | ECLI | ECLI:DE:VGPOTSD:2023:0301.6L300.22.A.00 | |
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 3 Abs 2 AsylVfG 1992, § 3 Abs 2 Nr 5 AsylVfG 1992, § 71 Abs 1 AsylVfG 1992, § 71 Abs 6 AsylVfG 1992 |
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der für die Abschiebung zuständigen Ausländerbehörde mitzuteilen, dass eine Abschiebung des Antragstellers aufgrund der Abschiebungsandrohung aus dem Bescheid vom 18. April 2017 vorläufig – bis zu einer gerichtlichen Entscheidung in der Hauptsache (VG 6 K 879/22.A) – nicht erfolgen darf.
Die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens trägt die Antragsgegnerin.
I.
Der Antragsteller ist nach seinen Angaben Staatsangehöriger der Russischen Föderation, Tschetschenischer Volkszugehörigkeit.
Nach seinen Angaben reiste der Antragsteller im Januar 2016 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte hier am 25. Mai 2016 bei der Dependance Schönefeld des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) einen förmlichen Asylantrag.
Nach Ablehnung des Antrags als unzulässig, verbunden mit einer Abschiebungsanordnung nach Polen mit Bescheid vom 16. August 2016 und erfolglosem Eilantrag vor dem Verwaltungsgericht Cottbus (VG 5 L 402/16.A) erfolgte am 14. September 2016 eine Überstellung nach Polen. Das entsprechenden Klageverfahrens vor dem Verwaltungsgericht Cottbus stellte der zuständige Berichterstatter ein (VG 5 K 1454/16.A).
Im Anschluss reiste der Antragsteller – nach seinen Angaben – im Dezember 2016 erneut aus Polen in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte hier am 2. Januar 2017 einen weiteren Asylantrag bei der Außenstelle des Bundesamts in Eisenhüttenstadt. Mit Bescheid vom 18. April 2017 lehnte das Bundesamt diesen Antrag als Zweitantrag verstehend ebenfalls als unzulässig ab und drohte die Abschiebung in die Russische Föderation an. Der dagegen am Verwaltungsgericht Cottbus angestrengte Eilantrag blieb erfolglos (VG 1 L 288/17.A). Das entsprechende Klageverfahren vor dem Verwaltungsgericht Cottbus stellte die zuständige Berichterstatterin ein (VG 1 K 991/17.A). Am 5. März 2019 wurde der Antragsteller in die Russische Föderation abgeschoben.
Am 23. Februar 2022 stellte er einen weiteren Asylantrag, zu dessen Begründung er schriftlich im Wesentlichen vortrug, seine Familie sei in Deutschland geblieben als er abgeschoben wurde, zudem sei sein Leben in seiner Heimat in Gefahr, worüber er in der Anhörung erzählen möchte. Dokumente bezüglich seiner Eheschließung habe er nicht.
Mit Bescheid vom 14. April 2022 lehnte das Bundesamt den als Folgeantrag verstandenen Asylantrag als unzulässig ab (Ziff. 1), lehnte den Antrag auf Abänderung des Bescheides vom 18. April 2017 bezüglich der Feststellung zu Abschiebungsverboten gemäß § 60 Abs. 5 bzw. 7 des Aufenthaltsgesetztes ab (Ziff. 2) und befristete das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 10 Monate ab dem Tag der Ausreise (Ziff. 3). Zur Begründung führte das Bundesamt im Wesentlichen aus, der Asylantrag sei unzulässig. Der Wiederaufgreifensgrund der Sachlagenänderung läge nicht vor. Die Schilderung sei zu pauschal. Es mangele an nachprüfbaren Einzelschilderungen über Art und Zeit der eingetretetenden bzw. befürchteten Verfolgungsmaßnahmen. Der Wunsch der Familienzusammenführung sei nicht vom Asylgesetz gedeckt. Die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen zu § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG lägen ebenfalls nicht vor.
Am 5. Mai 2022 hat der Antragsteller den vorliegenden Eilrechtsschutzantrag und Klage (VG 6 K 879/22.A) erhoben. Aufgrund der aktuellen Kriegssituation in der Ukraine sei eine Abschiebung in die Russische Föderation unzumutbar, da der Antragsteller mit der sofortigen Einberufung zum Wehrdienst und Versendung an die Front rechnen müsse. Der Mutter des Antragstellers sei in der Heimat ein Einberufungsbescheid für ihn zugestellt worden. Er übersandte zudem eine islamische Heiratsurkunde für die islamische Trauung mit M... (Klägerin in dem Verfahren VG .A) sowie die Anerkennung der Vaterschaft für R... (Klägerin/Antragstellerin in den Verfahren VG .A und VG .A). Er beantragt sinngemäß,
die Aussetzung der Abschiebungsandrohung gemäß Ablehnungsbescheid des ersten Folgeantrags vom 18. April 2017.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen und
bezieht sich zur Begründung auf den streitgegenständlichen Bescheid.
II.
1. Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hat Erfolg.
a) Er ist zulässig.
aa) Dabei kann der zur Entscheidung berufene Einzelrichter hier dahinstehen lassen, ob der Antrag des Antragstellers nach §§ 122 Abs. 1, 88 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) richtigerweise als Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz nach § 123 Abs. 1 VwGO zu verstehen ist, oder ob sein Antrag dem gegenüber als Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nach § 80 Abs. 5 VwGO auszulegen ist, gerichtet auf die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage VG 6 K 879/22.A gegen die Unzulässigkeitsentscheidung in Ziffer 1 des streitgegenständlichen Bescheids (vgl. zu dem insoweit geführten Meinungsstreit nur: Dickten, in: BeckOK Ausländerrecht, Kluth/Heusch, 35. Edition (Stand: 01.10.2022), AsylG § 71 Rn. 31 ff., m.w.N.). Denn der Prüfungsmaßstab beider Verfahren ist im Ergebnis identisch. Für den Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO gilt gemäß § 71 Abs. 4 des Asylgesetzes (AsylG) i.V.m. § 36 Abs. 4 S. 1 AsylG der Prüfungsmaßstab der "ernstlichen Zweifel" an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts. Ein Antrag nach § 123 Abs. 1 VwGO setzt voraus, dass der Antragsteller glaubhaft macht, dass ihm der geltend gemachte Anspruch zusteht (Anordnungsanspruch) und dieser Anspruch in einer Weise gefährdet ist, dass er durch eine gerichtliche Entscheidung gesichert werden muss (Anordnungsgrund), § 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. §§ 920 Abs. 2, 294 der Zivilprozessordnung (ZPO). Dabei liegt ein Anordnungsgrund regelmäßig vor, da der Termin der Abschiebung dem Antragsteller gemäß § 59 Abs. 1 S. 8 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) nicht mehr angekündigt werden darf und er damit jederzeit mit einer Abschiebung auf der Grundlage der bestandskräftigen und aufgrund des Folgeantrags grundsätzlich weiterhin vollziehbaren Abschiebungsandrohung (vgl. § 71 Abs. 5 AsylG) aus dem Asylerstverfahren zu rechnen hat. Für das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs ist maßgeblich, ob bei summarischer Überprüfung der Sach- und Rechtslage sein Begehren in der Sache hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet, er also einen Anspruch auf das begehrte Wiederaufgreifen des Verfahrens hat. Insoweit wird regelmäßig geprüft, ob – wie beim Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO – ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der vom Bundesamt getroffenen ablehnenden Entscheidung bestehen (vgl. Verwaltungsgericht Aachen, Beschluss vom 23. April 2021 – 10 L 164/21.A –, juris Rn. 4 ff. vgl. zudem dazu, dass es grundsätzlich verfassungsrechtlich unerheblich ist, auf welchem Weg Eilrechtsschutz effektiv gewährt wird: Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 8. November 2017 - 2 BvR 809/17 -, juris, Rn. 13).
bb) Es bestehen ebenfalls keine Zulässigkeitszweifel im Hinblick auf den Vollzug der Abschiebungsandrohung aus dem Ablehnungsbescheid vom 18. April 2017. Es besteht weiterhin ein Rechtsschutzbedürfnis im Hinblick auf diese Abschiebungsandrohung. Sie ist insbesondere nicht dadurch, dass der Antragsteller das Bundesgebiet „verlassen" hat, "verbraucht".
Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut von § 71 Abs. 5 S. 1 AsylG, wonach es keiner erneuten Abschiebungsandrohung oder –anordnung bedarf, wenn ein Folgeantrag nicht zur Durchführung eines weiteren Verfahrens führt. Das gilt nach § 71 Abs. 6 S. 1 auch, wenn der Ausländer zwischenzeitlich das Bundesgebiet verlassen hatte. Zwar wird in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung und Literatur teilweise vertreten, dass die Regelung des § 71 Abs. 6 S. 1 AsylG nicht in Einklang mit der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (Rückführungsrichtlinie) stehe, da im Falle einer Ausreise des Betroffenen vor Stellung eines Folgeantrags im Sinne des § 71 Abs. 1 AsylG das Rückkehr- bzw. Rückführungsverfahren abgeschlossen sei und aus diesem Grund nach erfolgter Wiedereinreise ein neues Rückkehrverfahren eröffnet und eine erneute Rückkehrentscheidung getroffen werden müsse (vgl. etwa: Verwaltungsgericht Bremen, Beschluss vom 27. Juni 2022 - 7 V 712/22, juris Rn. 22; Funke-Kaiser in Gemeinschaftskommentar zum Asylgesetz, Lieferung 135 [25.12.2021], § 71 Rn. 329.1). Nach der zutreffenden, hier geteilten Ansicht gilt die Abschiebungsandrohung aus einem vormaligen Bescheid des Bundesamts – jedenfalls bei Stellung eines Asylfolgeantrags nach § 71 Abs. 1 AsylG – indes fort (vgl. Oberverwaltungsgericht Bremen, Beschluss vom 28. September 2021 – 2 LA 206/21 –, juris Rn. 9 und Urteil vom 4. Januar 2022 – 2 LB 383/21 –, juris Rn. 32; Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 22. September 2016 – 13 A 2448/15.A –, juris Rn. 21 ff; Verwaltungsgericht Berlin, Beschluss vom 31. Januar 2022 - 38 L 824/21 A, juris Rn. 13; Verwaltungsgericht Freiburg, Beschluss vom 9. Februar 2021 - 10 K 3748/20, juris Rn. 10; Verwaltungsgericht Mainz, Beschluss vom 25. März 2019 - 4 L 99/19.MZ, juris Rn. 7). Das entspricht der Wertung der Rückführungsrichtlinie. Aus Art. 3 Nr. 6, Art. 11 Abs. 1 Rückführungsrichtlinie, wonach das Einreise- und Aufenthaltsverbot mit einer Rückkehrentscheidung „einhergeht“, ergibt sich, dass das Einreise- und Aufenthaltsverbot eine Ergänzung der Rückkehrentscheidung darstellt und selbst bei Bestandskraft der Ausweisung nicht aufrechterhalten werden darf, wenn die Rückkehrentscheidung aufgehoben worden ist (EuGH, Urteil vom 3. Juni 2021 – C-546/19, juris Rn. 52, 61). „Rückkehrentscheidung“ ist im deutschen Recht auch die Abschiebungsandrohung (vgl. EuGH, aaO., juris Rn. 53). Würde die Abschiebungsandrohung durch das Gericht aufgehoben, hätte dies mithin die für den Antragsteller günstige Rechtsfolge, dass das über die Abschiebung hinauswirkendes Einreise- und Aufenthaltsverbot ebenfalls aufgehoben werden müsste. Insoweit entfaltet die Abschiebungsandrohung noch die Rechtswirkung, die Grundlage für die Aufrechterhaltung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 S. 1 Alt. 1, Abs. 2 S. 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) zu bilden. Die Aufhebung der Abschiebungsanordnung bzw- androhung ist nach dem Vollzug der Abschiebung auch insoweit rechtlich relevant, da eine rechtswidrige Abschiebung einen Vollzugsfolgenbeseitigungsanspruch auslösen kann (vgl. Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 22. September 2016 – 13 A 2448/15.A –, juris Rn. 28; Huber/Mantel AufenthG/Broscheit, 3. Aufl. 2021, AsylG § 34a Rn. 20).
b) Unter Zugrundelegung des oben dargestellten Prüfungsmaßstabs ist der Antrag auch begründet.
Es bestehen ernstliche Zweifel an der auf § 29 Abs. 1 Nr. 5 i.V.m. § 71 Abs. 1 AsylG gestützten Unzulässigkeitsentscheidung des Bundesamts in Ziffer 1 des streitgegenständlichen Bescheids.
Gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn im Falle eines Folgeantrags nach § 71 AsylG ein weiteres Asylverfahren nicht durchzuführen ist. Nach § 71 Abs. 1 S. 1 AsylG ist in dem Fall, dass ein Ausländer nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung eines früheren Asylantrags erneut einen Asylantrag (Folgeantrag) stellt, ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen, wenn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG) vorliegen. Letzteres ist u.a. dann der Fall, wenn sich die dem Verwaltungsakt zugrundeliegende Sach- oder Rechtslage nachträglich zugunsten des Antragstellers geändert hat oder neue Beweismittel vorliegen, die eine dem Antragsteller günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würden. Nach § 51 Abs. 2 AsylG ist Voraussetzung, dass der Antragsteller ohne grobes Verschulden außerstande war, den Grund für das Wiederaufgreifen in dem früheren Verfahren, insbesondere durch Rechtsbehelf, geltend zu machen. Aufgrund seiner prozessualen Mitwirkungspflicht hat ein Antragsteller seine Gründe für seine Verfolgung schlüssig und vollständig vorzutragen, vgl. § 25 Abs. 1 und 2 AsylG, § 86 Abs. 1 S. 1, Halbsatz 2 VwGO. Er muss unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt schildern, aus dem sich – als wahr unterstellt – bei verständiger Würdigung die behauptete Verfolgung ergibt. Bei den in die eigene Sphäre des Antragstellers fallenden Ereignissen, insbesondere seinen persönlichen Erlebnissen, muss er eine Schilderung abgeben, die geeignet ist, den Abschiebungsschutz lückenlos zu tragen. Dabei genügt es – nach der hier geteilten verfassungsrechtlichen Rechtsprechung –, wenn der Asylbewerber eine Änderung der allgemeinen politischen Verhältnisse oder Lebensbedingungen im Heimatstaat oder der sein persönliches Schicksal bestimmenden Umstände im Verhältnis zu der der früheren Asylentscheidung zugrunde gelegten Sachlage glaubhaft und substantiiert vorträgt. Es genügt mithin schon die Möglichkeit einer günstigeren Entscheidung aufgrund der geltend gemachten Wiederaufgreifensgründe. Nicht von Bedeutung ist, ob der neue Vortrag im Hinblick auf das glaubhafte persönliche Schicksal des Antragstellers sowie unter Berücksichtigung der allgemeinen Verhältnisse im angeblichen Verfolgerland tatsächlich zutrifft, die Verfolgungsfurcht begründet erscheinen lässt und die Annahme einer relevanten Verfolgung rechtfertigt. Diese Prüfung hat im Rahmen eines neuen, mit den Verfahrensgarantien des Asylgesetzes ausgestatteten materiellen Anerkennungsverfahrens zu erfolgen. Lediglich wenn das Vorbringen des Antragstellers zwar glaubhaft und substantiiert, jedoch von vornherein nach jeder vertretbaren Betrachtungsweise ungeeignet ist, zur Asylberechtigung beziehungsweise zur Zuerkennung internationalen Schutzes zu verhelfen, darf der Folgeantrag als unzulässig abgelehnt beziehungsweise die Unzulässigkeitsentscheidung gerichtlich bestätigt werden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 4. Dezember 2019 – 2 BvR 1600/19 –, juris Rn. 20 f. m.w.N.). Diese Voraussetzungen dürften vorliegend gegeben sein.
Bedenken hinsichtlich der Einordung des Asylantrags des Antragstellers vom 23. Februar 2022 als Folgeantrag i.S.d. § 71 Abs. 1 AsylG werden weder geltend gemacht, noch sind sie sonst ersichtlich.
Rechtlichen Bedenken begegnet indes die Entscheidung des Bundesamts, ein weiteres Asylverfahren nicht durchzuführen und den Folgeantrag nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG als unzulässig abzulehnen. Nach Ansicht des zur Entscheidung berufenen Einzelrichters hat der Antragsteller den Wiederaufgreifensgrund der Sachlagenänderung i.S.d. § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG hinreichend schlüssig dargelegt.
(1) Soweit der Antragsteller im Rahmen der Begründung des Folgeantrags gegenüber dem Bundesamt am 23. Februar 2022 angegeben hat, sein Leben sei in der Heimat in Gefahr und sinngemäß ergänzte, mit seiner Familie zusammenleben zu wollen, wird eine Sachlagenänderung indes nicht ansatzweise dargelegt. Insoweit wird zur Meidung von Wiederholungen auf die diesbezüglichen Ausführungen im streitgegenständlichen Bescheid verwiesen (§ 77 Abs. 3 AsylG), zumal der Antragsteller dem nicht entgegengetreten ist.
(2) Mit dem Vortrag des Verfahrensbevollmächtigten des Antragstellers im gerichtlichen Verfahren ist indes eine relevante Änderung der Sachlage hinsichtlich der geltend gemachten drohenden Einziehung des Antragstellers im Wege eine Zwangsrekrutierung zum Militärdienst in der Russischen Föderation und anschließendem Einsatz im Krieg in der Ukraine bzw. entsprechender Sanktionen bei einer Weigerung festzustellen.
Nach Auswertung der aktuellen Erkenntnismittel ist für den zur Entscheidung berufenen Einzelrichter nicht von vornherein und nach jeder vertretbaren Betrachtungsweise ausgeschlossen, dass eine Person in dem Alter des Antragstellers – er ist am 25. August 1997 geboren, mithin 25 Jahre alt – mit einer legalen Einberufung oder einer extralegalen Einziehung zu einem Militärdienst bei einer Rückkehr in die Russischen Föderation rechnen muss und das dieser Militärdienst mit hoher Wahrscheinlichkeit bedeuten würde, dass er sich an Verbrechen gegen den Frieden, die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen beteiligen müsste (§ 3a Abs. 2 Nr. 5 i.V.m. § 3 Abs. 2 AsylG). Mithin ist die Zuerkennung internationalen Schutzes für den Antragsteller nicht von vornherein ausgeschlossen.
(a) Zwar liegen zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (vgl. § 77 Abs. 1 S. 1 AsylG) keine Anhaltspunkte dafür vor, dass dem Antragsteller eine Einberufung mit Blick auf die (Teil-)Mobilmachung entsprechend des Dekrets des Präsidenten der Russischen Föderation über die Erklärung der (Teil-)Mobilmachung in der Russischen Föderation vom 21. September 2022 (abrufbar unter: http://kremlin.ru/events/president/news/69391, abgerufen am 1. März 2023) droht. Dabei dürfte der Antragsteller zwar grundsätzlich nach Artikel 51.2 Abs. 2 und Art. 52 des Bundesgesetzes der Russischen Föderation vom 28. März 1998 über die Wehrpflicht und den Militärdienst (Nr. 53-FZ, abrufbar unter: http://www.consultant.ru/document/cons_doc_LAW_18260/, abgerufen am 23. Februar 2023) zur Reserve gehören. Eine entsprechende Mobilisierung findet derzeit allerdings nicht statt.
Es ist zwar zutreffend, worauf verschiedene Medienberichte hinweisen, dass das präsidiale Dekrets über die Erklärung der (Teil-)Mobilmachung in der Russischen Föderation vom 21. September 2022 nicht aufgehoben oder anderweitig zurückgenommen wurde. Am 28. Oktober 2022 vermeldete der Verteidigungsminister indes an den Präsidenten der Russischen Föderation den Abschluss der Teilmobilmachung, in deren Rahmen über 300.000 Reservisten einberufen wurden. Das Ende der Teilmobilmachung wurde vom Kreml bestätigt (vgl. Beitrag auf der Internetseite des Kremls vom 28.08.2022, abrufbar unter http://kremlin.ru/events/president/news/69703; zuletzt abgerufen am 1. März 2023). Danach ist die Teilmobilmachung bereits abgeschlossen, so dass nach den vorliegenden Erkenntnissen auf ihrer Grundlage derzeit keine weiteren Einberufungen erfolgen.
Eine neue bzw. weitere Mobilmachung auf der Grundlage des präsidialen Dekrets über die Erklärung der (Teil-)Mobilmachung oder einer anderen Grundlage ist nach der derzeitigen Erkenntnislage zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt nicht hinreichend wahrscheinlich. Soweit verschiedene, insbesondere russischsprachige Medienquellen und ukrainische Regierungsvertreter andeuten, dass die russische Mobilisierung trotz offizieller russischer Behauptungen des Gegenteils fortgesetzt bzw. eine weitere Mobilisierungswelle unmittelbar bevorstehen würde, sind diese zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt ohne die erforderliche Substanz. So berichtet eine unabhängige russische Medienquelle am 5. Dezember 2022, dass die Mobilisierungsbemühungen am 12. Dezember 2022 wiederaufgenommen werden könnten und zwischen Dezember und Februar 700.000 weitere Russen mobilisiert würden. Für diese Behauptung bzw. dessen Umsetzung gibt es indes zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung keine Anhaltspunkte. Eine weitere Medienquelle berichtete, dass eine Moskauer Mobilisierungsbeamten gefordert habe, dass ihre Mitarbeiter nachts Vorladungen verteilen. Andere Nachrichtenquellen meinen, dass in der nächsten Mobilisierungswelle pro-ukrainische Sympathisanten, insbesondere Studenten in Russland ins Visier genommen würden (vgl. Beitrag vom Institute for the Study of War (ISW) vom 7. Dezember 2022 zur Bewertung der Russischen Offensivkampagne, Mobilisierung und Kraftaufbau, abrufbar unter: https://understandingwar.org/backgrounder/russian-offensive-campaign-assessment-december-7; Interview mit dem Chef des ukrainischen Militärgeheimdienstes, Kyrylo Budanov vom 29. November 2022 – BBC News Ukraine, abrufbar unter: https://www.bbc.com/ukrainian/features-64115948; Beitrag bei youtube des Ukrainischer Verteidigungsminister, welcher eine weitere Mobilisierung Anfang Januar 2023 erwarte, abrufbar unter https://youtu.be/BM7VRn_xUmU; Beitrag vom Conflict Intelligence team, Mobilisierungsbericht vom 6. Dezember 2022, abrufbar unter https://notes.citeam.org/mobilization-dec-5-6, The insider, Beitrag vom 5. Dezember 2022 mit der Überschrift: Beitrag: Next wave of mobilization in Russia’s regions to begin in January, abrufbar unter: https://theins.ru/en/news/257561; alles zuletzt abgerufen am 1. März 2023). Diesen hypothetischen Annahmen fehlt es an erforderlichen Anhaltspunkten für eine hinreichende Wahrscheinlichkeit einer neuen bzw. fortgesetzten Mobilmachung. Der Präsident der Russischen Föderation hat hierzu erklärt, dass es keinen Bedarf an zusätzlichen Kämpfern in den Truppen gebe. Es seien bisher etwas mehr als 77.000 Kämpfern in den Kampfeinheiten. Weitere 150.000 Menschen seien in der Reserve. Dies gelten als eine solche Kampfreserve – die Hälfte aller Mobilisierten –, so dass es nicht in Frage komme, jetzt zusätzlich zu mobilisieren (vgl. Beitrag bei Kommersant vom 9. Dezember 2022 „Putin: Heute gibt es keine Faktoren für eine neue Mobilisierung“, übersetzt mit google translate abrufbar unter: https://www.kommersant.ru/doc/5718396, zuletzt abgerufen am 1. März 2023). Nach Ansicht des erkennenden Einzelrichters kann zum derzeitigen Zeitpunkt eine weitere (Teil-)Mobilisierung, die ggf. auch nach anderen Prämissen verlaufen werde, für die Zukunft zwar nicht ausgeschlossen werden, es fehlt aber insoweit an einer hinreichend belastbaren Tatsachengrundlage für eine entsprechende Prognoseentscheidung, Gerüchte und Vermutungen sind insoweit nicht ausreichend, so dass dem Antragsteller zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt eine Einberufung auch insoweit nicht droht (ebenso: Verwaltungsgericht Potsdam, Urteile vom 12. Januar 2023 - VG 16 K 504/18.A – S. 7 d. Umdrucks und vom 15. November 2022 – 6 K 650/16.A –, juris Rn. 31).
(b) Es ist indes nicht von vornherein ausgeschlossen, dass der Antragsteller bei einer Rückkehr in die Russische Föderation im Rahmen des Wehrdienstes zu einem Einsatz in der Ukraine herangezogen wird bzw. bei einer Weigerung mit flüchtlingsrelevanten Sanktionen rechnen müsste.
Derzeit besteht in der Russischen Föderation eine Wehrpflicht für Männer im Alter von 18 bis 27 Jahren gemäß § 22 Abs. 1a des Föderalen Gesetzes über militärische Pflichten und Militärdienst. Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsteller, der in den relevanten Altersbereich fällt und (noch) keinen Wehrdienst geleistet hat, von der Wehrpflicht sicher ausgeschlossen ist, liegen nicht vor. Zwar steht das Ergebnis einer etwaigen Musterung des Antragstellers noch aus, es ist jedoch nach derzeitigem Erkenntnisstand nicht davon auszugehen, dass der Antragsteller aus gesundheitlichen Gründen nicht zum Militärdienst tauglich wäre.
Den aktuellen Erkenntnissen ist zu entnehmen, dass, dann, wenn – wie auch der Antragsteller vorträgt – ein Einberufungsbefehl ergangen ist, diesem bei Rückkehr Folge zu leisten ist, d.h., dass er bei Rückkehr in die Russische Föderation eingezogen und nach einer Ausbildung im Ukraine-Krieg eingesetzt wird (vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, 3. Februar 2023, S. 119 m.w.N.). Auch wenn es aktuell keine Hinweise (mehr) auf eine Teilnahme Wehrpflichtiger an Kampfhandlungen in der Ukraine gibt (anders noch zuvor: BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, 9. November 2022, S. 34 f., wonach der Kreml den Einsatz Wehrpflichtiger an Kampfeinsätzen zugab), ist den aktuellen Erkenntnissen indes zu entnehmen, dass Wehrpflichtige in Grenzregionen sowie auf die von Russland besetzte Krim verbracht werden und unter Druck gesetzt wurden, ihre Dienstzeit durch Freiwilligenverträge zu verlängern (vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, 3. Februar 2023, S. 35 m.w.N.). Mithin ist nicht nach jeder Betrachtungsweise ausgeschlossen, dass der Antragsteller zum Einsatz in der Ukraine gezwungen wird.
Ebenfalls nicht nach jeder Betrachtungsweise ausgeschlossen ist, dass die russischen Sicherheitskräfte ihn bei einer etwaigen Wehrdienstentziehung nicht eine politische Regimegegnerschaft mit entsprechender staatliche Verfolgung i.S.d. § 3a Abs. 2 Nr. 5 i.V.m § 3 Abs. 2 AsylG bzw. § 3a Abs. 2 Nr. 2 AsylG unterstellen würden (vgl. hinsichtlich Syrien dazu etwa: Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 29. Januar 2021 – OVG 3 B 108.18 –, juris). Zwar ist den Erkenntnismitteln zu entnehmen, dass bislang nur eine kleine Anzahl von Personen, die sich dem Wehrdienst entziehen, überhaupt bestraft wurde. Außerdem fielen die Strafen für Wehrdienstverweigerung derzeit in der Praxis „sehr gering“ aus (vgl. ACCORD, Russische Föderation: Wehrdienst und Dedowschtschina, 31. Oktober 2019, S. 9) bzw. beschränkten sich auf die Entlassung aus dem Dienstverhältnis. Wesentlich härtere Strafen drohten danach nur, wenn – was derzeit nicht der Fall ist – das Kriegsrecht ausgerufen sei (ACCORD, Anfragebeantwortung zur Russische Föderation: 1) Allgemeine Informationen zur russischen Armee und zur Wehrpflicht, Generalmobilmachung, Einberufung von Reservisten; 2) Einsatz von Wehrpflichtigen in der Ukraine; 3) Möglichkeiten von Zivildienst; 4) Weigerung an Kampfhandlungen teilzunehmen, Wehrdienstverweigerung, Desertion; 5) Einsatz von Männern aus Tschetschenien; 6) Sind die Soldatenmütter aktiv? vom 16. Mai 2022); EUAA – European Union Agency for Asylum: COI Query Russian Federation: Treatment of military deserters by state authorities since the February 2022 invasion of Ukraine (1 February 2022 – 4 April 2022), 5. April 2022). teilzunehmen, Wehrdienstverweigerung, Desertion; 5) Einsatz von Männern aus Tschetschenien; 6) Sind die Soldatenmütter aktiv? vom 16. Mai 2022). Aktuelle Erkenntnisse dazu sowie zur aktuellen Möglichkeit sich vom Wehrdienst fernzuhalten oder zumindest einen Aufschub zu erhalten (vgl. insoweit Martin Malek, Gutachten für das Verwaltungsgericht Berlin, S. 17; vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das Verwaltungsgericht Berlin vom 11. Dezember 2014, Frage 4) fehlen indes und sind in dem anschließenden Asylverfahren ggf. zu erheben (vgl. insoweit auch die Entscheidungspraxis der Niederlande: Verlängerung des Entscheidungs- und Ausreisemoratorium für russische Wehrpflichtige vom 28. Dezember 2022, abrufbar unter: https://ind.nl/nl/nieuws/besluit-en-vertrekmoratorium-voor-russische-dienstplichtigen-verlengd, abgerufen am 1. März 2023). Es ist jedenfalls aufgrund der aktuellen Situation, insbesondere der Verschärfung von Strafgesetzen zur härteren Sanktionierung (vgl. Russia, An update on military service since July 2022, Danish Immigration Service, 9. Dezember 2022, S. 8) jedenfalls nicht ausgeschlossen, dass dem Antragsteller, sollte er sich seiner Einziehung entziehen wollen, gravierende, flüchtlingsrelevante Sanktionen drohen (ebenso: Verwaltungsgericht Lüneburg, Urteil vom 27. September 2022 – 2 A 253/19 –, S. 7 d. Umdrucks; Verwaltungsgericht Cottbus, Urteil vom 31. August 2022 – VG 1 K 1228/19.A – S. 8 d. Umdrucks). Ob und inwiefern der Antragsteller aufgrund dieses Sachverhalts tatsächlich einen Anspruch auf Gewährung internationalen Schutzes hat, insbesondere, ob ihm eine Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht und ob diese Verfolgungshandlung an seine politische Überzeugung anknüpft, ist hier nicht abschließend zu klären.
Ebenfalls spricht überwiegendes dafür, dass es sich um einen völkerrechtswidrigen Militäreinsatz handelt (vgl. dazu: IGH, Entscheidung vom 16. März 2022 – Ukraine v. Russian Federation; Äußerungen des Außenministers der USA, Blinken vom 18. Februar 2023, abrufbar unter: https://www.state.gov/crimes-against-humanity-in-ukraine: „Based on a careful analysis of the law and available facts, I have determined that members of Russia’s forces and other Russian officials have committed crimes against humanity in Ukraine. Members of Russia’s forces have committed execution-style killings of Ukrainian men, women, and children; torture of civilians in detention through beatings, electrocution, and mock executions; rape; and, alongside other Russian officials, have deported hundreds of thousands of Ukrainian civilians to Russia, including children who have been forcibly separated from their families. These acts are not random or spontaneous; they are part of the Kremlin’s widespread and systematic attack against Ukraine’s civilian population.“, abgerufen am: 1. März 2023).
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
4. Angesichts obiger Entscheidung über den Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes bedarf es keiner Entscheidung über den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt R... .
Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).