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Entscheidung 5 K 755/18.A


Metadaten

Gericht VG Cottbus 5. Kammer Entscheidungsdatum 09.02.2023
Aktenzeichen 5 K 755/18.A ECLI ECLI:DE:VGCOTTB:2023:0209.5K755.18.A.00
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen § 3 AsylVfG 1992

Leitsatz

1. Homosexuellen Person droht in Algerien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung durch private Akteure.
2. Von einer nur unter Verfolgungsdruck geheim gehaltenen Sexualität kann nicht auf ein fehlendes oder geringes Bedürfnis zum offen ausleben geschlossen werden.
3. Prognosen hinsichtlich des zukünftigen Auslebens oder sexuellen Identität durch eine nach Überzeugung des Gerichts homosexuelle Person sind nicht zulässig.

Tenor

1. Die Beklagte wird unter Aufhebung der Regelungen in den Ziffern 2 bis 7 des Bescheides des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 06. April 2018 verpflichtet, dem Kläger den Flüchtlingsstatus zuzuerkennen.

2. Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

3. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand

Der Kläger begehrt insbesondere die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

Er ist am 24. Januar 1982 geboren, marokkanischer Staatsangehörige, islamischen Glaubens und arabischer Volkszugehörigkeit. Er reiste am 08. Februar 2017 über dem Luftweg aus Algerien kommend in Deutschland ein. Seinen Asylantrag stellte der Kläger am 21. Februar 2017.

Im Rahmen seiner persönlichen Anhörung vor dem Bundesamt am 24. Februar 2017 gab der Kläger im Wesentlichen an, Algerien verlassen zu haben, da er nach dem Bekanntwerden seiner Homosexualität mit dem Tode bedroht worden sei und niemand ihn schütze, weder der Staat noch seine Familie noch die Gesellschaft. Er und sein Partner, mit dem er zusammen aus Algerien ausgereist sei, hätten ihre Homosexualität zuvor aus Angst vor der Reaktion der Familie, dem Staat sowie der Gesellschaft geheim gehalten, weil Homosexualität in Algerien eine Straftat sei.

Mit Bescheid vom 06. April 2018 lehnte das Bundesamt die Anträge auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, Asylanerkennung und Zuerkennung subsidiären Schutzes ab und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) nicht vorlägen. Es forderte den Kläger unter Androhung seiner Abschiebung primär nach Algerien auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung bzw. 30 Tage nach unanfechtbaren Abschluss des gerichtlichen Asylverfahrens zu verlassen und befristet das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung.

Zur Begründung verwies das Bundesamt im Wesentlichen darauf, dass es an einer relevanten staatlichen Verfolgung wegen der angeblichen Homosexualität des Klägers in Algerien fehle. Auch könne nicht davon ausgegangen werden, dass ihm eine Verfolgung durch nicht staatliche-Akteure drohe. Der Kläger habe seine Homosexualität geheim gehalten, diese sei auch bis zu seiner Ausreise nicht bekannt geworden. Es sei auch nicht wahrscheinlich, dass seit seiner Ausreise seine Familie oder Dritte von seiner Homosexualität erfahren haben. Es seien vor diesem Hintergrund auch keine Gründe ersichtlich, dass der Kläger bei seiner Rückkehr seine Homosexualität offen ausleben werde mit der Folge, dass ihm keine Verfolgung drohe. Selbst wenn in der Zwischenzeit die Homosexualität des Klägers bekannt geworden sei, stehe dem Kläger die Möglichkeit internen Schutzes offen. So würden die größeren Städte einen Schutz bieten, durch einen Umzug könne sich der Kläger in Sicherheit bringen. Auch würde der Kläger in der algerischen Gesellschaft keine besondere Stellung einnehmen. Es erscheint daher unwahrscheinlich, dass seine Homosexualität landesweit bekannt geworden sei mit der Folge, dass ihm keine landesweite Suche drohe.

Der Kläger hat gegen diesen Bescheid am 14. April 2018 Klage erhoben. Er macht im Wesentlichen vertiefend und ergänzend geltend, dass ihm auf Grundlage seiner für ihn identitäts- und lebensprägenden Homosexualität in Algerien eine staatliche Verfolgung und eine Verfolgung durch Privatpersonen drohe. Die Tatsache, dass er vor seiner Ausreise versucht habe seine Beziehung geheim zu halten, habe ihre Grundlage nicht in der Bevorzugung der Anonymität, sondern in der ihm bewussten und gefürchteten gesellschaftlichen und staatlichen Ablehnung von Homosexualität. Auf ein Geheimhalten seiner Homosexualität könne er vor dem Hintergrund der EuGH Entscheidung in der verb. Rs. C-199/12 bis C-201/12 nicht verwiesen werden.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte wird verpflichtet, unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 6. April 2018 dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG zuzuerkennen,

hilfsweise festzustellen, dass der Kläger subsidiären Schutz nach § 4 Abs. 1 AsylG genießt,

hilfsweise festzustellen, dass hinsichtlich Algeriens für den Kläger Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 S. 1 AufenthG vorliegen,

hilfsweise unter Aufhebung der Ziffer 7 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 6. April 2018 die Beklagte zu verpflichten, das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 0 Monate ab dem Tag der Abschiebung zu befristen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung bezieht sie sich auf die Ausführungen im angefochtenen Bescheid.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Bundesamtes Bezug genommen, die Gegenstand er mündlichen Verhandlung waren.

Entscheidungsgründe

Über die Klage entscheidet auf Grund des Beschlusses der Kammer vom 10. August 2022 gem. § 76 Abs. 1 Asylgesetz (AsylG) die Berichterstatterin als Einzelrichterin. Die Entscheidung konnte trotz Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten in der mündlichen Verhandlung ergehen, da die Beteiligten in der Terminsladung auf diese Rechtsfolge hingewiesen worden sind (102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO)).

Die Klage hat im Hauptantrag Erfolg. Das Hauptbegehren ist als kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage gemäß § 42 Abs. 1 VwGO zulässig und begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 06. April 2018 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) abweichend von der in Ziffer 2 des Bescheides vom 08. März 2018 von der Beklagten getroffenen Entscheidung einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Damit unterliegen zugleich auch die den Kläger ebenfalls in seinen Rechten verletzenden Anordnungen in den Ziffer 3 bis 7 des Bescheides der Aufhebung (§ 113 Abs. 5 Satz 1, Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 4 und Abs. 1 AsylG liegen in der Person des Klägers hinsichtlich seines Herkunftslandes Algerien vor. Gem. § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, wenn er Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AslyG ist. Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtstellung der Flüchtlinge (BGBl. II. S. 559, 560 – Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furch vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischer Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet. Eine solche Verfolgung kann nicht nur vom Staats ausgehen (§ 3c Nr. 1 AsylG), sondern auch von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (§ 3 c Nr. 2 AsylG). Oder nichtstaatliche Akteure, sofern die in § 3c Nr. 1 und 2 AsylG genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder willens sind, i.S.d. § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (§ 3c Nr. 3 AslyG).

Gemäß § 3a AsylG gelten als Verfolgungshandlung im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend sind, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). Zwischen den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den in § 3a AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen, § 3a Abs. 3 AsylG.

Zu den Artikeln, von denen nach Art. 15 Abs. 2 EMRK in keinem Fall abgewichen werden darf, gehört insbesondere Art. 3 EMRK, der unmenschliche oder erniedrigende Behandlung verbietet. Zur Bestimmung der Kriterien einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK ist auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte zurückzugreifen. In dieser ist geklärt, dass die einem Ausländer im Zielstaat drohenden Gefahren ein gewisses „Mindestmaß an Schwere“ (minimum level of severity) erreichen müssen, um eine unmenschliche bzw. erniedrigende Behandlung nach Art. 3 EMRK zu begründen (vgl. EGMR, Urteil vom 13. Dezember 2016 – Nr. 41738/10 –, Paposhvili/Belgien –, Rn. 174 m.w.N.). Die Bestimmung dieses Mindestmaßes an Schwere ist relativ und hängt von allen Umständen des Falls ab, insbesondere von der Dauer der Behandlung, den daraus erwachsenen körperlichen und mentalen Folgen für den Betroffenen und in bestimmten Fällen auch vom Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Betroffenen (EGMR, Urteil vom 13. Dezember 2016 – Nr. 41738/10 –, Paposhvili/Belgien –, Rn. 174 m.w.N.; BVerwG, Beschluss vom 8. August 2018 – BVerwG 1 B 25/18 –, juris Rn. 9).

Die Furcht vor Verfolgung ist im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG begründet, wenn dem Ausländer – bei einer hypothetisch unterstellten Rückkehr – die Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, das heißt mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Prognosemaßstab verlangt, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Diese Würdigung ist auf Grundlage einer „qualifizierenden" Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung vorzunehmen. Eine Verfolgung ist danach beachtlich wahrscheinlich, wenn einem besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheint (zum Ganzen: BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 – 1 C 33.18 –, juris Rn. 15 m.w.N. u.a. auch zur EGMR-Rechtsprechung).

Das Gericht muss dabei die volle Überzeugung von der Wahrheit des vom Asylsuchenden behaupteten individuellen Schicksals und hinsichtlich der zu treffenden Prognose, dass dieses die Gefahr der Verfolgung begründet, erlangen (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 – 1 C 33.18 –, juris Rn. 19 f.). Angesichts des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich Asylsuchende insbesondere hinsichtlich asylbegründender Vorgänge im Verfolgerland befinden, kommt dabei dem persönlichen Vorbringen des Asylsuchenden und dessen Würdigung für die Überzeugungsbildung eine gesteigerte Bedeutung zu (BVerwG, Urteil vom 9. Dezember 2010 – 10 C 13.09 –, BVerwGE 138, 289-301 ═ juris Rn. 19 m.w.N.) Dem Schutzsuchenden obliegt es dabei, ihm Rahmen der ihn treffenden Mitwirkungs- und Darlegungspflichten (vgl. Art. 4 Abs. 1 der RL 2011/95/EU, § 25 Abs. 1 und 2 AsylG sowie § 86 Abs. 1 Satz 1, 2. Hs. VwGO) seine Gründe für die Verfolgungsfurcht schlüssig und vollständig vorzutragen. Dabei obliegt es dem Schutzsuchenden, insbesondere bei in die eigene Sphäre fallenden Ereignissen unter genauer Angabe von Einzelheiten und gegebenenfalls unter Ausräumung von Widersprüchen und Unstimmigkeiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, der geeignet ist, das Asyl- bzw. Flüchtlingsbegehren lückenlos zu tragen. Bleibt der Kläger hinsichtlich dieser eigenen Erlebnisse konkrete Angaben schuldig, so ist das Gericht nicht verpflichtet, insofern eigene Nachforschungen durch weitere Fragen anzustellen. Eine nicht erschöpfende Klärung des Sachverhalts fällt vielmehr dem Kläger zur Last (zum Ganzen: BVerwG, Urteil vom 8. Mai 1984 – 9 C 141.83, Buchholz, § 108 VwGO Nr. 147 ═ juris Rn. 11; BVerwG, Beschluss vom 19. Oktober 2001 – 1 B 24.01 –, juris Rn. 5).

Gemessen hieran ist dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Soweit der Kläger auch vorträgt, aufgrund einer anlassgeprägten Einzelverfolgung aus Algerien ausgereist zu sein, kann dahinstehen, ob der Kläger tatsächlich vorverfolgt ausgereist ist. Denn aufgrund der dem Gericht vorliegenden Erkenntnismittel ist die Einzelrichterin davon überzeugt, dass der Kläger homosexuell ist (a.) und sich deshalb in Algerien wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (b.) einer Verfolgung jedenfalls durch nichtstaatliche Akteure (b.) ausgesetzt sieht. Im Hinblick auf diese Verfolgung ist der algerische Staat nicht hinreichend willens oder in der Lage, den gebotenen Schutz des Klägers zu gewährleisten (d.). Ebenso wenig besteht für den Kläger eine interne Fluchtalternative innerhalb Algeriens (e.).

Dabei kann – entgegen der Annahme des Bundesamtes – als grundsätzlicher Ausgangspunkt für die Betrachtung einer Verfolgungsgefahr nicht darauf abgestellt werden, dass der Kläger seine Homosexualität in Algerien nicht offen ausleben wird. Gerade im Gegenteil können schon nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs „bei Prüfungen eines Antrags auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft die zuständigen Behörden von dem Asylbewerber nicht erwarten, dass er seine Homosexualität in seinem Herkunftsland geheim hält oder Zurückhaltung beim Ausleben seiner sexuellen Ausrichtung übt, um die Gefahr einer Verfolgung zu vermeiden“ (EuGH, Urteil vom 7. November 2013 – verb. Rs. C-199/12 bis C-201/12, EU:C:2013:720, Rn. 65 ff., Zitat aus Rn. 76). Auch das BVerfG stellt fest, dass die Annahme, eine betroffene Person könne darauf verwiesen werden, seine homosexuelle Orientierung geheim zu halten, vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs schlechthin unvertretbar sei und die Willkürschwelle überschreiten würde (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 22. Oktober 2020, 2 BvR 1807/19, juris Rn. 19).

a. Daran, dass der Kläger homosexuell ist, besteht kein Zweifel.

Die Überzeugung des Gerichts begründet sich auch auf den Vortrag des Klägers im Verwaltungsverfahren, vor allem jedoch auf seine umfassenden und glaubhaften Angaben zu den Geschehnissen in Algerien und seiner aktuellen Lebenssituation in der mündlichen Verhandlung. So ist hervorzuheben, dass dem Kläger während der gesamten Befragung daran gelegen war, etwaige Unstimmigkeiten sowohl in der Übersetzung durch den Dolmetscher als auch bei der Rückübersetzung durch diesen unter anderem auch auf Deutsch zu korrigieren, so dass die Einzelrichterin davon überzeugt ist, dass sich die die Geschehnisse auch tatsächlich so abgespielt haben, wie durch den Kläger geschildert und seine Angaben der Wahrheit entsprechen. Hinzu kommen die dabei gebrauchte Wortwahl, auch verbunden mit dem Einblick in seine Gefühlslage und Gedankenwelt, ohne dass er den Eindruck erweckte, ein Ereignis erdacht oder künstlich emotional aufbauschen zu wollen.

So schildert er nachvollziehbar, wie ihm als eigener Erkenntnisprozess beginnend mit 12 oder 13 Jahren bewusst geworden sei, homosexuell zu sein und ferner ohne zu zögern und schlüssig das er seit Januar 2014 einen Partner hat, mit dem er gemeinsam aus Algerien ausgereist ist und mit dem er immer noch eine Beziehung führt. Auch wenn es ihm sichtlich immer noch sehr naheging, schilderte der Kläger ausführlich und mit vielen Detailangaben welche Umstände ihn zur Ausreise veranlasst haben und unter welchen Sorgen und Ängsten er sein Leben als Homosexueller in zuvor Algerien gelebt hat. Zugleich schildert er mit Begeisterung welche Einrichtungen der schwulen Szene insbesondere in Potsdam und Berlin aber auch deutschlandweit er mit seinem Partner seit ihrer Ankunft hier in Deutschland gemeinsam besucht.

b. Homosexuelle bilden in Algerien eine "bestimmte soziale Gruppe" im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1, 5. Var. AsylG.

Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs handelt es sich bei Homosexuellen um eine bestimmte soziale Gruppe i.S.v. § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3b Abs. 1 Nr. 4 lit. a) und b) AsylG, sofern in dem Herkunftsland strafrechtliche Bestimmungen bestehen, die spezifisch Homosexuelle betreffen (EuGH, Urteil vom 07. November 2013, verb. Rs. C- 199/12 und C-200/12, X u.a., EU:C:2013:720, Rn. 41 ff., 49). Hiernach handelt es sich bei Homosexuellen in Algerien um eine bestimmte soziale Gruppe gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG. Denn homosexuelle Handlungen sind nach Art. 338 des algerischen Strafgesetzbuchs strafbar und können mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren geahndet werden. Daneben sieht Art. 333 eine qualifizierte Strafbarkeit für die Erregung öffentlichen Ärgernisses mit Bezug zur Homosexualität mit einem Strafmaß einer Freiheitstrafe von zwei Monaten bis zwei Jahren vor (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Wien – BFA –, Länderinformation der Staatendokumentation, Algerien, 29.09.2022, S. 16 f.; ILGA World: Kellyn Botha, Our identities under arrest: A global overview on the enforcement of laws criminalising consensual same-sex sexual acts between adults and diverse gender expressions, Dezember 2021, S. 51).

c. Dem Kläger droht aufgrund seiner Homosexualität in Algerien Verfolgung.

Dem Kläger dürfte nicht schon mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung durch den Staat drohen. So stellt der bloße Umstand, dass homosexuelle Handlungen unter Strafe und mit einer Freiheitsstrafe bedroht sind, als solcher noch keine Verfolgungshandlung i.S.v. § 3a Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 3 AsylG dar (EuGH, Urteil vom 7. November 2013 – verb. Rs. C-199/12 bis C-201/12, EU:C:2013:720, Rn. 55) dar. Dagegen ist eine Freiheitsstrafe, mit der homosexuelle Handlungen bedroht werden und die im Herkunftsland tatsächlich verhängt wird, eine Verfolgungshandlung im Sinne von (jetzt) Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU. Eine solche Strafe verstößt gegen Art. 8 der EMRK, dem Art. 7 der Charta entspricht, und stellt eine unverhältnismäßige oder diskriminierende Bestrafung im Sinne von Art. 9 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie dar (EuGH, Urteil vom 7. November 2013 – verb. Rs. C-199/12 bis C-201/12, EU:C:2013:720, Rn. 56 f.; vgl. auch EGMR, Urteil vom 17. Februar 2020, Nr. 889/19 und 43987/16, B und C v. Switzerland, Rn. 59).

Die dem Gericht vorliegenden Erkenntnismittel dürften nicht den Schluss tragen, dass Verurteilungen auf Grund dieser beiden Normen nicht nur vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder eine Vielzahl einzelner Übergriffe sind, sondern sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht (vgl. BVerwG, Urteil vom 21. April 2009 -10 C 11/08 -, juris Rn. 13).

So hielten sowohl das Auswärtige Amt in seinem Lagebericht 2020 als auch mit Bezug auf dieses das österreichische Bundesamt für Fremdenwesen in seinem aktuellen Bericht fest, dass zwar eine systematische Verfolgung homosexueller Personen nicht stattfindet, doch beide Vorschriften in der Rechtspraxis regelmäßig Anwendung finden sollen (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Demokratischen Volksrepublik Algerien, 11. Juni 2020, S. 15; Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Algerien, 22. April 2022 [im Folgenden: BFA], S. 20), wobei aber auch hervorgehoben wird, dass die Zahl anhängiger Verfahren und Verurteilungen nicht nachvollziehbar sei (BFA, S. 20). Grund sei eine fehlende statistische Erfassung dieser Daten (vgl. VG Gießen, Urteil vom 23. Mai 2022, 10 K 1338/20.GI.A, S. 15 m.w.N.). Insoweit bleibt das tatsächliche Ausmaß der „regelmäßigen Anwendung“ und damit die Verfolgungsdichte, welche als Grundlage für die Regelvermutung eigener Verfolgung gilt, offen. Vereinzelt wird ausgeführt, dass es in den Jahren 2020 und 2021 – nachdem es in den Jahren 2017 bis 2019 zu keinen Verurteilungen gekommen sei (United Kingdom, Home Office, Algeria - Sexual orientation and gender identity, Version 3.0, Mai 2020, [im Folgenden: UK Home Office] S. 6 f, Nr. 2.4.4, 2.4.8., S. 7 f., Pkt. 2.4.5 m.w.N.) – zu mehreren Verurteilungen von Personen auf Grund ihrer öffentlich oder in sozialen Medien kommunizierten Homosexualität gekommen sein soll (ILGA World: Kellyn Botha, Our identities under arrest: A global overview on the en-forcement of laws criminalising consensual same-sex sexual acts between adults and diverse gender expressions, Dezember 2021,[im Folgenden: ILGA World], S. 52 f.; Human Rights Watch, Algeria: Mass Convictions for Homosexuality, 15.10.2020). Andere ebenso verlässliche Quellen heben im Gegensatz dazu hervor, dass es im Jahr 2021 zu keinen Verurteilungen gekommen sein soll (US Department of State, Algeria 2021 Human Rights Report 2021, [US Human Rights Report], S. 44). Auch das Auswärtige Amt, wiederholt in seinem aktuellen Lagebericht aus November 2022 den eingangs genannten Passus zur regelmäßigen Anwendung nicht mehr (Auswärtiges Amts, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Demokratischen Volksrepublik Algerien 2022, [im Folgenden: AA], S. 16). Hinzu kommt, dass sich in den vorhandenen Erkenntnismitteln keine hinreichend belastbaren Anhaltspunkte finden, ob es sich dabei um durch besondere Umstände gekennzeichnete Einzelfälle (so VG Gießen, Urteil vom 29. Juni 2022 – 10 K 2118/20.GI.A –, juris Rn. 32) oder eine Anwendung unabhängig vom Einzelfall auf Fälle offen ausgelebter Homosexualität handelt.

Soweit in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung angenommen wird, dass aus dieser lückenhaften Datenlage heraus nicht geschlossen werden könne, dass es eine entsprechende Strafverfolgungspraxis in Algerien nicht gäbe, sondern vielmehr der Umstand, dass konkrete Beispiele von Verurteilungen in den beigezogenen Erkenntnismitteln nicht dokumentiert seien, darauf zurückzuführen sein dürfte, dass es wegen der Tabuisierung von Homosexualität in Algerien an einer statistischen Erfassung der Strafverfolgungs- und Bestrafungspraxis fehle und Nichtregierungsorganisationen, die sich der Unterstützung von Homosexuellen widmen sowie über entsprechende Fälle berichten könnten, dort nur sehr eingeschränkt arbeiten könnten, mit der Folge, dass die Dunkelziffer an nicht dokumentierten Fällen von Verhaftungen und Verurteilungen daher hoch sein und die notwendige Verfolgungsdichte erreiche (so VG Freiburg (Breisgau), Urteil vom 8. Oktober 2020 – 4 K 945/18 –, juris Rn. 55; VG Gießen, Urteil vom 23. Mai 2022, 10 K 1338/20.GI.A, S. 14 f.; VG Würzburg, Urteil vom 15. Juni 2021 – W 8 K 20.30255 – juris Rn. 40), bleibt diese Annahme eine Mutmaßung (so auch VG Gießen, Urteil vom 29. Juni 2022 – 10 K 2118/20.GI.A –, juris Rn. 31). Auch wenn einzelne Erkenntnismittel hervorheben, dass Untersuchungen darauf hindeuten würden, dass die Zahl der tatsächlichen Vorfälle wahrscheinlich weitaus höher ist, da die meisten Fälle nicht gemeldet werden (ILGA World, S. 51) fehlt es auch hier an hinreichenden Anknüpfungstatsachen. Auch der Umstand, dass Algerien in seinem Bericht vom 22. September 2022 zum vierten Zyklus der „Universellen Periodischen Überprüfung“ („Universal Periodic Review“, UPR) beim UN Menschenrechtsrat vorgetragen hat, dass es nicht beabsichtige, die Bestimmungen von Artikel 338 des Strafgesetzbuchs, die homosexuelle Handlungen unter Strafe stellen, aufzuheben (UN General Assembly, Human Rights Council, Working Group on the Universal Periodic Review, Forty-first session, 7–18 November 2022, National report submitted in accordance with Human Rights Council resolutions 5/1 and 16/21*, Algeria, 22. September 2022, A/HRC/WG.6/41/DZA/1, Nr. 196) lässt ebenfalls keinen Rückschluss auf die tatsächliche Verfolgungsdichte zu.

Im Ergebnis kann die Frage, ob dem Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung durch staatliche Akteure droht aber dahinstehen. Auf Grund der aktuellen Erkenntnismittel ist das Gericht zu der Überzeugung gelangt, dass im Rahmen einer Gesamtbetrachtung (vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 – 10 C 23/12 –, BVerwGE 146, 67-89, juris Rn. 34 ff.) homosexuellen Männern, die ihre sexuelle Identität offen ausleben, in Algerien Verfolgung durch private Akteure ausgesetzt sind.

Homosexualität ist ein Tabu-Thema in Algerien (BFA, S. 20; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Länderreport 11, Algerien, Marokko, Tunesien, Menschenrechtslage, Im Fokus: Vulnerable Personen, 06/2019, [im Folgenden: BAMF, Länderreport 11], S. 3). Jeder wisse, dass es homosexuelle Personen gibt, aber sie müssen auf das ihnen zugewiesene Milieu beschränkt bleiben, und man möchte das Thema lieber nicht ansprechen. Die algerische Gesellschaft ist stark heteronormativ geprägt: Familie, Schule, Religion, Gesetz – all diese Institutionen vermitteln Jungen und Mädchen von der Wiege an, dass sie sich der Norm anpassen müssen, wobei Heirat und Fortpflanzung als Höhepunkt des Erwachsenenlebens angesehen werden. Abgesehen davon, dass sie damit eine religiöse Pflicht erfüllen, die der Hälfte dessen entspricht, was sie dem Schöpfer schulden, projizieren Männer ihr Streben nach sozialer Stabilität, Erfolg und Erfüllung in die Ehe. Homosexualität wird, wenn sie überhaupt erwähnt wird, als eine Krankheit dargestellt, die der Behandlung durch einen Psychiater oder Imam bedarf. Manchmal wird auch mit dem Finger auf den Westen gezeigt, der versucht, eine unbekannte „schwule Identität“ nach Algerien zu exportieren, was die Homophobie der Behörden und der konservativsten Teile der Bevölkerung schüren könnte (Rose Schembri, Difficile affirmation homosexuelle en Algérie, Le Monde Diplomatique, August 2019, https://www.monde-diplomatique.fr/2019/08/SCHEMBRI/60160, überwiegend wörtlich übersetzt aus dem Französischen [im Folgenden: Rose Schembri]).

So kommt es immer wieder in den arabischsprachigen Medien zu homophoben Äußerungen und Hassartikeln, unter anderem in der auflagenstarken Zeitung Echourouk (BFA, S. 20; UK Home Office, S. 15 Nr. 5.1.6, S. 21 Nr. 6). Im Juli 2018 prangerte ein Teil der arabischsprachigen Presse an, dass die Botschaft des Vereinigten Königreichs in Algerien die LGBT-Flagge gehisst hatte, um die Veranstaltung eines Pride March in London zu feiern (Rose Schembri). Zuletzt beschuldigte in einem Artikel vom 20. Dezember 2022 mit der Überschrift „Der Niedergang der westlichen Zivilisation, von Homosexualität bis Pädophilie“ der Autor den Westen, zu versuchen, die muslimischen Gesellschaften zu pervertieren. Selbst der Koran sei nicht davor gefeit (zit. nach Radiofrance, L'arc-en-ciel viré du ciel algérien, https://www.radiofrance.fr/franceinter/podcasts/la-chronique-d-anthony-bellanger/histoires-du-monde-du-mardi-03-janvier-2023-2354769, 03. Januar 2023 [im Folgenden: Radiofrance]).

Auch Regierungsmitglieder und Personen des öffentlichen Lebens treten mit homophoben Äußerungen und Kampagnen auf. Im Dezember 2019 nannte der damalige Innenminister Salahedine Dahmoune Demonstranten, die sich gegen die Durchführung von Präsidentschaftswahlen aussprachen „Verräter, Söldner und Homosexuelle“. Im Rahmen einer Erklärung hob er später hervor, die Aussage habe sich nur gegen eine kleine Gruppe falscher Algerier gerichtet, die aus ausländischen Agenten, Verrätern und Leuten besteht, die schändliche Taten begehen (zit. nach UK Home Office, S. 15 Nr. 4.1.4). Im Dezember 2022 kündigte der Handelsminister Kamel Rezig unter dem Slogan „Schützen Sie Ihre Familie, hüten Sie sich vor Produkten, die Farben und Symbole tragen, die dem Islam und unseren moralischen Werten widersprechen“ eine Kampagne gegen „LGBT-Farben und Symbolen“ an. In dessen Umsetzung berichtete er Anfang Januar 2023 von der Beschlagnahme von 38 542 Artikeln mit diesen Farben und Symbolen, darunter Schulartikel, Kinderspielzeug sowie 4561 Exemplare des Korans. (Yacine Tazrout, Le ministère algérien du Commerce en croisade contre les couleurs LGBT, Jeune Afrique, 5. Januar 2023, https://www.jeuneafrique.com/1405713/societe/le-ministere-algerien-du-commerce-en-croisade-contre-les-couleurs-lgbt/). Teil dieser Aktion war Anfang Januar 2023 auch eine erste einwöchige Informationskampagne mit Ständen auf Plätzen und Märkten, um diese bunten Artikel, die „die moralischen Werte der algerischen Gesellschaft verletzen“, besser erkennen zu können. Die Idee ist es, Ladenbesitzer, aber vor allem junge Menschen unter anderem durch SMS zu erreichen (zit. nach Radiofrance).

Ein Großteil der Bevölkerung lehnt die Entkriminalisierung der Homosexualität ab (AA, S. 16; siehe auch UK Home Office, S. 8 Nr. 2.4.17 m.w.N.). Artikel 338 des Strafgesetzbuches beruhe auf mehreren moralischen, religiösen, philosophischen und sozialen Erwägungen, die eng mit den Werten und Grundsätzen der algerischen Gesellschaft verwoben seien (UN General Assembly, Human Rights Council, Working Group on the Universal Periodic Review, Forty-first session, 7–18 November 2022, National report submitted in accordance with Human Rights Council resolutions 5/1 and 16/21*, Algeria, 22. September 2022, A/HRC/WG.6/41/DZA/1, Nr. 196).

In den letzten Jahren hat die Feindseligkeit gegen die LGBTQI+ Gemeinschaft und damit auch homosexuellen Männern zugenommen. Diese gehe typischerweise von der jüngeren Generation aus (US Human Rights Report, S. 45), wobei zu berücksichtige ist, dass fast die Hälfte der Algerier jünger als 25 Jahre alt ist (BAMF, Länderreport 11, S. 1). Mitglieder der LGBTQI+-Gemeinschaft werden oft verfolgt und eingeschüchtert. Diese psychischen Übergriffe eskalieren auch zu physischer Gewalt (US Human Rights Report, S. 45; Bertelsmann Stiftung, BTI 2022 Country Report Algeria, S. 14). Dabei ist zu berücksichtigen, dass Gewalttaten gegen homosexuelle Personen aufgrund der Angst vor homophoben Reaktionen und physischer sowie sexualisierter Gewalt durch Polizeibeamte sowie der Angst durch die Polizei selbst verhaftet zu werden nicht zur Anzeige gebracht werden (BAMF, Länderreport 11, S. 3 f.). Die vorliegenden Erkenntnismittel lege dabei nahe, dass es sich bei den Übergriffen nicht nur um punktuelle Ausnahmeerscheinungen handelt. Ferner wurde im Februar 2019 ein junger Mann in seinem Zimmer in einem Studentenwohnheim in Algier tot aufgefunden. Auf den Wänden stand geschrieben „He is gay“ – Er ist schwul – (BAMF, Länderreport 11, S. 3; UK Home Office, S. 19 f, Nr. 5.2.4-6 m.w.N.). Des Weiteren kann nicht ausgeschlossen werden, dass Homosexuelle aufgrund ihrer als „unislamisch“ empfundenen Lebensweise durch islamistische Gruppierungen gefährdet sind (BFA, S. 20; BAMF, Länderreport 11, S.4).

Dies alles hat zur Konsequenz, dass der Anpassungsdruck an die gesellschaftliche Norm sehr hoch ist, zumal der Gehorsam gegenüber dem Willen der Eltern bedingungslos ist. Hinzu kommt, dass die Dominanz der Familienautorität, sehr oft mit finanzieller Abhängigkeit verbunden ist (Rose Schembri). Viele homosexuelle Personen leben ihre Sexualität nicht offen aus, um Diskriminierung, familiäre und soziale Ausgrenzung oder Belästigungen zu vermeiden (BAMF, Länderreport 11, S. 3). Die heterosexuelle Ehe erscheint vielen oft als die einzige Möglichkeit, sicher zu leben (ILGA, State-Sponsored Homophobia 2019, S. 305 zit. nach UK Home Office, Nr. 5.4.3 siehe auch Nr. 5.4.5). Vor dem Hintergrund der Annahme, dass von homosexuellen Personen nicht erwartet werden kann, dass sie ihre Homosexualität geheim halten oder Zurückhaltung üben beim Ausleben dieser um die Gefahr einer Verfolgung zu vermeiden (EuGH, Urteil vom 07. November 2013, verb. Rs. C-199/12 bis C-201/12, EU:C:2013:720, Rn. 65 ff, insb. 76) kann ein unter Druck der Verfolgungsgefahr erzwungener Verzicht auf die betreffende Betätigung die Qualität einer Verfolgung erreichen (vgl. VG Gießen, Urteil vom 23. Mai 2022, 10 K 1338/20.GI.A, S. 16 m.w.N.; UNHCR, Guidelines on International Protection No. 9: Claims to Refugee Status based on Sexual Orientation an/or Gender Identity within the context of Article 1A(2) oft he 1951 Convention and/or ist 1967 Protocol relating tot he Status of Refugees, 23. Oktober 2012, [im Folgenden: UNHCR, Guidelines on International Protection No. 9], Nr. 33).

Die homophobe Einstellung der algerischen Gesellschaft führt für homosexuelle Personen in nahezu allen Bereichen des täglichen Lebens zu teilweise massiven Problemen. So sehen sich Homosexuelle Personen in zentralen Lebensbereichen wie dem Berufs- und Arbeitsleben, dem Bildungsbereich und der medizinischen Versorgung sowie der Inanspruchnahme juristischen Beistandes häufig mit erheblicher Diskriminierung und daraus resultierenden Zugangshindernissen konfrontiert (US Human Rights Report, S. 44 f.; UK Home Office, S. 8, Pkt. 2.4.15; Bertelsmann Stiftung, BTI 2022 Country Report Algeria, S. 27; BAMF, Länderreport 11, S. 3). Nur bestimmte Arbeitgeber würden Personen, die ihre sexuelle Orientierung offen ausleben, einstellen (US Human Rights Report, S. 45). Anwälte, die sich mit LGBTQI+Themen auskennen, sind nicht allgemein zugänglich, und andere Anwälte fürchteten sich davor, sich mit Fällen von LGBGTQI+ Personen zu befassen (US Human Rights Report, S. 45). Auch der Zugang zu einer adäquaten medizinischen Versorgung ist aufgrund eines verbreiteten Stigmadenkens des medizinischen Personals erschwert (US Human Rights Report, S. 44 f.).

Der Befund, dass homosexuelle Personen in Algerien insgesamt verfolgt werden, wird auch nicht dadurch widerlegt, dass das Auswärtige Amt in seinem Länderbericht 2022 vom 22. November 2022 festhält: „Gerade in größeren Städten existiert jedoch eine lebhafte Subkultur und im Privaten gelebte sexuelle Orientierung oder geschlechtliche Identität wird toleriert.“ Zum einen beschränkt sich die Aussage auf einen subkulturellen Kontext, der nach den vorstehend beschriebenen Erkenntnissen des Gerichts nicht die Mehrheitsmeinung der algerischen Gesellschaft prägt. Zum anderen deuten die vorangehend zitierten, ebenfalls verlässlichen, Erkenntnismittel darauf, dass auch im Privaten gelebte sexuelle Orientierung, wenn sie bekannt wird, gerade nicht toleriert wird. Hinzu kommt, dass es homosexuellen Personen nicht zuzumuten ist, ihre sexuelle Identität geheim zu halten, um eine Verfolgung zu vermeiden (EuGH, Urteil vom 07. November 2013, verb. Rs. C-199/12 bis C-201/12, EU:C:2013:720, Rn. 65 ff., insb. 76).

In ihrer Kumulierung erreichen diese Maßnahmen eine Intensität, die so gravierend ist, dass offen homosexuell lebende Männer in Algerien hiervon in ähnlicher wie der in § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG beschriebenen Weise betroffen sind.

d. Nach Erkenntnislage des Gerichts ist davon auszugehen, dass der algerische Staat weder Willens noch in der Lage ist ausreichenden Schutz gegen die dargestellten Verfolgungshandlungen nicht-staatlicher Akteure zu bietet.

Der Schutz vor Verfolgung muss wirksam und darf nicht nur vorübergehender Art sein (§ 3d Abs. 2 Satz 1 AsylG). Generell ist ein solcher Schutz gewährleistet, wenn die in § 3d Abs. 1 genannten Akteure geeignete Schritte einleiten, um die Verfolgung zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung darstellen, und wenn der Ausländer Zugang zu diesem Schutz hat (§ 3d Abs. 2 Satz 2 AsylG).

Homosexuelle Personen sind bereits durch die Strafbarkeit homosexueller Handlungen in ihrer Möglichkeit eingeschränkt, sich schutzsuchend an staatliche Behörden zu wenden, da sie sich dadurch auf Grund der geltenden Gesetzeslage und der unklaren Lage hinsichtlich der Anwendung der entsprechenden Strafvorschriften jedenfalls der Gefahr der Strafverfolgung aussetzen müssten. Insoweit ist schon die Existenz von entsprechenden Strafvorschriften ein Indiz für die fehlende staatliche Schutzfähigkeit (vgl. UNHCR, Guidelines on International Protection No. 9, Nr. 36). Zumal eine Aufhebung der entsprechenden Strafvorschriften, wie dargelegt, durch den algerischen Staat ausdrücklich nicht beabsichtigt ist. Hinzu kommt, dass das Gesetz keinen Schutz vor Diskriminierung auf Grund der sexuellen Identität vorsieht. Ferner sind seitens des Staates keine Maßnahmen unternommen worden, um Diskriminierung auf der Grundlage der sexuellen Orientierung oder der Geschlechteridentität im privaten Sektor zu verbieten (US Human Rights Report, S. 44). Auch wenn keine einheitlichen Angaben zur Quantität von Verurteilungen in den Erkenntnismittel zu finden sind, so heben sie doch hervor, dass es zu zahlreichen Verhaftungen bei Fällen einvernehmlicher gleichgeschlechtlicher Beziehungen kommt (US Human Rights Report, S. 44). Homosexuelle Personen sind in Algerien zudem polizeilichen Schikanen oder Anhaltungen ausgesetzt (BFA, S. 20). Auch berichtete die für sexuelle Minderheiten aktive NGO TransHomosDZ, dass die Polizei Diskriminierung oder gewalttätige Übergriffe auf Homosexuelle duldet (BFA, S. 20).

e. Für den Kläger besteht in Algerien keine innerstaatliche Fluchtalternative.

Nach § 3e Abs. 1 AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftlandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AslyG hat und sicher und legal in diesem Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt. Dies ist hier zu verneinen.

Die vorstehenden Erkenntnisse sind nicht lediglich auf einzelne Landesteile beschränkt. Relevante regionale Unterschiede hinsichtlich der Situation homosexueller Personen in Algerien sind nicht ersichtlich. Es ist nicht erkennbar, dass Personen, die offen homosexuell leben, an bestimmten Orten in Algerien sicher vor Übergriffen und Anfeindungen durch Privatpersonen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung sind. Dies gilt – entgegen der Annahme des Bundesamtes – auf Grundlage der dem Gericht vorliegenden Erkenntnismittel auch in Großstädten. Soweit das Auswärtige Amt annimmt, es sei in Großstädten eine Subkultur entstanden, spiegelt diese gerade nicht die Lebenssituation im alltäglichen Leben wieder. Schließlich ist auch in diesem Zusammenhang erneut darauf hinzuweisen, dass die sexuelle Ausrichtung einer Person ein Merkmal darstellt, das so bedeutsam für ihre Identität ist, dass sie nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten (EuGH, Urteil vom 7. November 2013 – verb. Rs. C-199/12 bis C-201/12, EU:C:2013:720, Rn. 46). Der Kläger kann schon deshalb nicht darauf verwiesen werden, dass er bei diskretem Verhalten entsprechenden Verfolgungshandlungen entgehen könnte.

Soweit das Bundesamt darauf abstellt, dass der Kläger in der algerischen Gesellschaft keine besondere Stellung einnehme und daraus schlussfolgert, dass es unwahrscheinlich sei, dass seine Homosexualität landesweit bekannt geworden sei mit der Folge, dass ihm keine landesweite Suche drohe, ist hervorzuheben, dass eine Entdeckung ihrer bislang geheim gehaltenen sexuellen Identität nicht nur Personen des öffentlichen Lebens droht. Ferner ist Maßstab allein die Frage, ob dem offen seine sexuelle Identität auslebenden Kläger bei einer zu unterstellenden zukünftigen Rückkehr nach Algerien in einem Teil seines Herkunftlandes keine begründete Furcht vor Verfolgung droht oder er Zugang zu Schutz vor Verfolgung hat. Keine Auswirkungen hat dabei der Umstand, ob der Kläger es bis zu seiner Ausreise geschafft hat, seine Homosexualität geheim zu halten. Im Übrigen ist das Risiko der Entdeckung nicht unbedingt nur durch das eigene Verhalten begründet. Es besteht fast immer die Möglichkeit, dass die Entdeckung gegen den Willen der Person erfolgt, z. B. durch Zufall, Gerüchte oder wachsendes Misstrauen, zumal selbst wenn homosexuelle Personen ihre sexuelle Orientierung verheimlichen, sie immer noch dem Risiko ausgesetzt sein können, entdeckt zu werden, weil sie sich nicht an die erwarteten sozialen Normen halten (vgl. EGMR, Urteil vom 17. Februar 2020, Nr. 889/19 und 43987/16, B und C v. Switzerland, Rn. 57; UNHCR, Guidelines on International Protection No. 9, Nr. 32).

Vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des EuGH zur Unzumutbarkeit einer Geheimhaltung der sexuellen Identität oder Zurückhaltung des Auslebens zur Vermeidung einer Verfolgungsgefahr (EuGH, Urteil vom 7. November 2013 – verb. Rs. C-199/12 bis C-201/12, EU:C:2013:720, Rn. 65 ff., insb. 76) kann der Kläger auch, anders als vom Bundesamt im streitgegenständlichen Bescheid angenommen, nicht darauf verwiesen werden, dass er seine Homosexualität vor seiner Ausreise nicht offen ausgelebt habe und es unter anderem auch deshalb keine Anhaltspunkte gebe, dass der Kläger seine Homosexualität bei einer Rückkehr offen ausleben werde. Zum einen kann von einer nur unter einem Verfolgungsdruck geheim gehaltenen oder auch nur zurückhaltend ausgelebten Sexualität nicht ohne weiteres auf ein fehlendes oder geringes Bedürfnis zum offenen ausleben geschlossen werden (vgl. VG Braunschweig, Urteil vom 9. August 2021 – 2 A 77/18 –, juris Rn. 43; VG Leipzig, Urteil vom 18. November 2021 – 3 K 1759/20.A –, juris Rn. 28; UNHCR, Guidelines on International Protection No. 9, Nr. 32). Zum anderen ist die sexuelle Orientierung zwingend bedeutsamer Bestandteil der Identität eines Menschen. Die Entscheidung, wie der Antragsteller seine sexuelle Orientierung (öffentlich) auslebt und insbesondere, ob er sich offen zu seiner sexuellen Orientierung bekennen möchte oder nicht, ist eine höchstpersönliche Entscheidung, die seine Intimsphäre betrifft, und deren Bewertung dem Gericht entzogen ist (vgl. VG Braunschweig, Urteil vom 9. August 2021 – 2 A 77/18 –, juris Rn. 47, 49; VG Bremen, Urteil vom 9. Mai 2022 – 4 K 1226/20 –, juris Rn. 23 f.). Insoweit ist auch zu berücksichtigen, dass sich die Lebensumstände der Antragsteller im Laufe der Zeit ändern können und eine Geheimhaltung keine lebenslange Option darstellen muss (UNHCR, Guidelines on International Protection No. 9, Nr. 32; siehe auch EGMR, Urteil vom 17. Februar 2020, Nr. 889/19 und 43987/16, B und C v. Switzerland, Rn. 57.). Angesichts dessen sind Prognosen hinsichtlich des zukünftigen Auslebens der sexuellen Neigungen durch eine nach Überzeugung des Gerichts homosexuelle Person nicht zulässig. Schon weil die Einzelrichterin also davon überzeugt ist, dass der Kläger tatsächlich homosexuell ist, kann nicht davon ausgegangen werden, dass eine dauerhafte und erzwungene Unterdrückung seiner Neigungen in Algerien für ihn zumutbar wäre (vgl. VG Braunschweig, Urteil vom 9. August 2021 – 2 A 77/18 –, juris Rn. 49; VG Leipzig, Urteil vom 18. November 2021 – 3 K 1759/20.A –, juris Rn. 28; VG Bremen, Urteil vom 9. Mai 2022 – 4 K 1226/20 –, juris Rn. 23). Im Übrigen hat der Kläger selbst in der mündlichen Verhandlung wiederholt und mit deutlichen Worten hervorgehoben, dass das offene ausleben seiner sexuellen Identität für ihn eine enorme Bedeutung habe und identitätsprägend sei.

Im Hinblick auf den Anspruch des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sind auch die Regelungen in Ziffer 3 bis 7 des streitgegenständlichen Bescheides aufzuheben. Über die Hilfsanträge des Klägers ist nicht mehr zu entscheiden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO; das Verfahren ist gerichtskostenfrei (§ 83b AsylG). Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergeht nach § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.