Toolbar-Menü
 
Sie sind hier: Gerichtsentscheidungen Entscheidung

Entscheidung 2 O 440/21


Metadaten

Gericht LG Cottbus 2. Zivilkammer Entscheidungsdatum 26.01.2023
Aktenzeichen 2 O 440/21 ECLI
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen § 826 BGB, § 142 ZPO, Art 5 EGV 715/2007

Tenor

1. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 20.021,98 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 07.01.2022 Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des Mercedes Benz V 220 d mit der Fahrzeug-Identifizierungsnummer WDFXXXXXXXXXXXXXX zu zahlen.

2. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger Aufwendungen i.H.v. 4.415,93 € nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 18.02.2022 zu zahlen.

3. Es wird festgestellt, dass sich der ursprüngliche Klageantrag zu 1. in Höhe eines Teilbetrages von 1.973,67 € erledigt hat.

4. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

5. Von den Kosten des Rechtsstreits haben der Kläger 19,8 % und die Beklagte 80,2 % zu tragen.

6. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.

7. Der Streitwert wird für die Zeit bis 21.11.2022 auf 31.440,76 € und für die Zeit ab 22.11.2022 auf 29.897,09 € festgesetzt.

Tatbestand

Der Kläger macht Schadenersatzansprüche im Zusammenhang mit dem sog. Dieselabgasskandal geltend.

Der Kläger kaufte den streitgegenständlichen Mercedes-Benz V 220 d, 163 PS, Erstzulassung 03.11.2015, Fahrzeugidentifikationsnummer WDFXXXXXXXXXXXXXX mit Vertrag vom 15.06.2015 als Neuwagen zu einem Bruttokaufpreis von 49.861,00 € bei der Beklagten. Der Kilometerstand betrug am 30.12.2021 137.399 km und am 01.12.2022 149.611 km.

Der Kläger finanzierte den Kaufpreis teilweise über ein Darlehen der Mercedes-Benz Bank AG. Dafür musste der Kläger Zinsen i.H.v. 4.415,93 € zahlen. Das Fahrzeug wurde der Mercedes-Benz Bank AG sicherungsübereignet. Mit Schreiben vom 25.10.2021 bestätigte die Mercedes-Benz Bank AG die vollständige Tilgung des Darlehens und Rückübereignung des Fahrzeugs an den Kläger.

In dem streitgegenständlichen Fahrzeug ist ein Dieselmotor der Baureihe OM 651 verbaut. Er wurde am 12.08.2015 typgenehmigt mit der Schadstoffklasse Euro 6 und leistet 120 kW.

Die Abgasreinigung erfolgt im streitgegenständlichen Fahrzeug u.a. über die Abgasrückführung (AGR). Dabei wird ein Teil der Abgase wieder dem Verbrennungsmotor zugeführt, was zu einer Verringerung der NOx-Emissionen führt. Die AGR arbeitet u.a. außentemperaturabhängig. Sie wird bei kühleren Außentemperaturen reduziert (sog. Thermofenster).

Darüber hinaus erfolgt die Abgasreinigung durch einen SCR-Katalysator, der die im Abgas enthaltenen Stickoxide zu Wasserdampf und Stickstoff umwandelt. Dazu wird eine wässrige Harstofflösung, genannt AdBlue, durch ein Dosiermodul kontinuierlich in den Abgasstrang eingespritzt. Ein höhere AdBlue-Dosierung führt notwendigerweise zu kürzeren Wartungsintervallen zum Zwecke des Auffüllens des AdBlue-Tanks. Darüber hinaus kann eine höhere AdBlue-Dosierung zu Risiken für die Haltbarkeit des Motors bzw. der Abgasreinigungsanlage führen.

Die Motorsteuerungssoftware verfügt hinsichtlich der Eindüsung des AdBlue über zwei unterschiedliche Regelstrategien (Modi), die von der Beklagten als Füllstands-Modus und Online-Modus bezeichnet werden. Nach Motorstart wird zunächst der Füllstands-Modus genutzt, durch den die gesetzlichen NOx-Grenzwerte im NEFZ eingehalten werden. Nach Erreichen einer bestimmten Masse von NOx-Rohemissionen schaltet die Steuerungssoftware in den Online-Modus um, bei dem – relativ zum NOx-Massenstrom – weniger AdBlue eingespritzt wird. Die für die Umschaltung gewählte Masse von NOx-Rohemissionen ist so hoch, dass sie im Neuen Europäischen Fahrzyklus (NEFZ) nicht erreicht werden kann, die Umschaltung also erst nach dem Ende des Prüfzyklus erfolgt. Beim – wie im streitgegenständlichen Fahrzeug – aktiven „Bit 13“ verbleibt die Steuerungssoftware danach dauerhaft im Online-Modus und schaltet erst beim Motorneustart wieder in den Füllstands-Modus zurück.

Das Kraftfahrtbundesamt (KBA) erließ am 25.05.2018 einen verpflichtenden Rückrufbescheid für den streitgegenständlichen Fahrzeugtyp, ergänzt durch Bescheid vom 03.08.2018. Darin vertritt das KBA die Auffassung, dass es sich bei dem Füllstands-Modus um einen „effektiven“ Abgassreinigungsmodus und beim Online-Modus um einen „weniger effektiven“ Modus handele. Das KBA sieht die Verwendung unterschiedlicher Dosiermodi zwar nicht grundsätzlich, aber dann als unzulässig an, wenn – wie im streitgegenständlichen Fahrzeug – die Steuerungssoftware nach einer einmaligen Umschaltung in den „weniger effektiven“ Modus dauerhaft in diesem verbleibt. Die Bescheide sind aufgrund anhängiger Rechtsmittel der Beklagten noch nicht bestandskräftig.

Gleichwohl entwickelte die Beklagte für den streitgegenständlichen Fahrzeugtyp ein Software-Update, das das KBA mit Schreiben vom 12.09.2018 (Bl. 152 d.A.) freigab.

Mit Anwaltsschreiben vom 30.12.2021 (Bl. 81 ff. d.A.) ließ der Kläger die Beklagte unter Fristsetzung bis zum 06.01.2022 zur Zahlung von 27.024,83 € (Bruttokaufpreis abzüglich einer von der Beklagten auf eine erwartete Gesamtlaufleistung von 300.000 km berechneten Nutzungsentschädigung von 22.836,17 €) Zug um Zug gegen Herausgabe des Fahrzeugs auffordern. Ferner forderte der Kläger die Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten bestehend aus einer 1,3 Geschäftsgebühr gemäß Nr. 2300 VV RVG auf einen Gegenstandswert von 27.024,83 €, der Post- und Telekommunikationspauschale nach Nr. 7002 VV RVG und der Umsatzsteuer i.H.v. 19 % nach Nr. 7008 VV RVG, zusammen 1.501,19 €.

Der Kläger behauptet, über die vorstehend beschriebene Funktionsweise des SCR-Katalysators und der AGR hinaus sei das streitgegenständliche Fahrzeug auch mit einer Software ausgestattet, die direkt erkenne, wenn sich das Fahrzeug im NEFZ befindet und die Abgassreinigung nur dann so steuere, dass die gesetzlichen Grenzwerte eingehalten werden, während das im normalen Straßenbetrieb nicht der Fall sei. Die AGR unterscheide – abhängig davon, ob der Prüfstand erkannt wird oder nicht – zwischen zwei Betriebsmodi. Auch die Dosierung von AdBlue erfolge in Abhängigkeit von der Prüfstandserkennung so, dass im Prüfzyklus niedrigere Stickoxidausstoßwerte erreicht werden würden, während im normalen Straßenbetrieb deutlich weniger AdBlue eingespritzt werde, als für eine wirksame Abgasnachbehandlung erforderlich sei. Das führe dazu, dass die gesetzlichen NOx-Emisonsgrenzwerte im realen Straßenbetrieb nicht eingehalten werden würden.

Der Kläger behauptet ferner, die Beklagte habe ihn durch das Inverkehrbringen des streitgegenständlichen Fahrzeugs darüber getäuscht, dass das Fahrzeug den geltenden Zulassungsbestimmungen genüge. Er behauptet weiter, das streitgegenständliche Fahrzeug in Kenntnis der unzulässigen Abschalteinrichtungen nicht gekauft zu haben.

Der Kläger ist der Auffassung, die Beklagte habe ihn durch die Installation der vorgenannten Abschalteinrichtungen sittenwidrig und vorsätzlich geschädigt.

Die Klageschrift vom 30.12.2020 ist der Beklagten am 17.02.2023 zugestellt worden. Der Kläger hat darin – hier nur sinngemäß zusammengefasst – beantragt, 1. die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 49.861,00 € abzüglich einer in das Ermessen des Gerichts gestellten Nutzungsentschädigung von allerdings nicht mehr als 22.836,17 € zzgl. Zinsen Zug um Zug gegen Übereignung und Herausgabe des streitgegenständlichen Fahrzeugs zu verurteilen, 2. festzustellen, dass sich die Beklagte mit der Annahme des Fahrzeugs zu Antrag 1. im Annahmeverzug befindet, 3. die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger vorgerichtliche Anwaltskosten i.H.v. 1.501,19 € zzgl. Zinsen zu zahlen und 4. die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger Aufwendungen i.H.v. 4.415,93 € zzgl. Zinsen zu erstatten.

Mit Schriftsatz vom 21.11.2022 hat der Kläger den Antrag zu 1. etwas umformuliert und die anzurechnende Nutzungsentschädigung im Hinblick auf die weitere Laufleistung des streitgegenständlichen Fahrzeugs reduziert und den Klageantrag insoweit (i.H.v. 1.973,67 €) für erledigt erklärt. Die Beklagte hat sich der Teilerledigungserklärung nicht angeschlossen.

Der Kläger beantragt nunmehr,

1. die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerschaft 49.861,00 €, abzüglich eines Nutzungsersatzes i.H.v. 24.809,84 €, nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jew. Basiszinssatz seit 07.01.2022, Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des gegenständlichen Fahrzeugs Mercedes Benz V 220 d mit der Fahrzeug-Identifizierungsnummer WDFXXXXXXXXXXXXXX, zu zahlen,

2. festzustellen, dass sich die Beklagte mit der Annahme des Mercedes Benz V 220 d mit der Fahrzeug-Identifizierungsnummer WDFXXXXXXXXXXXXXX seit spätestens 07.01.2022 in Annahmeverzug befindet,

3. die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerschaft vorgerichtliche Rechtsanwaltsgebühren in Höhe von 1.501,19 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 07.01.2022 zu zahlen,

4. die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerschaft Aufwendungen i.H.v. 4.415,93 € nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten seit Rechtshängigkeit zu zahlen

und konkludent

5. festzustellen, dass sich der ursprüngliche Klageantrag zu 1. in Höhe eines Teilbetrages von 1.973,67 € erledigt hat.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Die Beklagte behauptet, das streitgegenständliche Fahrzeug halte die NOx-Emissionsgrenzwerte ein, was insbesondere durch die EG-Typengenehmigung festgestellt worden sei.

Unzulässige Abschalteinrichtungen seien in dem Pkw nicht vorhanden. Der Rückrufbescheid des KBA sei rechtswidrig. Der Füllstands-Modus ermögliche eine schnelle Sättigung des Katalysators und die damit einhergehende hohe Reinigungsleistung. Hierzu werde mehr Ammoniak eindosiert, als zur Reinigung der vorhandenen Stickoxide benötigt werde. Der Online-Modus erlaube einen sicheren Betrieb bei hoher Sättigung und abnehmender Speicherfähigkeit des Katalysators. Es werde weniger AdBlue eingespritzt, um eine Überdosierung, die zu einem sog. Ammoniakschlupf führen würde, zu vermeiden. Im Online-Modus erziele der Katalysator regelmäßig eine absolut gesehen höhere Reinigungsleistung als diejenige, die für die Einhaltung der Grenzwerte innerhalb des NEFZ erforderlich sei. Die Beklagte behauptet insofern sinngemäß, die Verhinderung der Rückschaltung in den Füllstands-Modus, beruhe darauf, dass es ihr im Zeitpunkt der Einführung der SCR-Technik technisch noch nicht möglich gewesen sei, die für eine optimale Katalysatorfunktion erforderliche AdBlue-Menge sicher zu berechnen. Die dauerhafte Umschaltung in den Online-Modus habe der Vermeidung des Ammoniakschlupf gedient. Heute könne sie die benötigte AdBlue-Menge besser steuern, weshalb sie auch wieder in Füllstands-Modus zurückschalten könne. Für die Details des insoweitigen Vortrags der Beklagten wird auf den Schriftsatz der Beklagten vom 15.07.2022 (Bl. 267 ff. d.A.) Bezug genommen

Im übrigen hänge die Steuerung der Abgasrückführung und des Katalysators nicht von einer wie auch immer gearteten Prüfstandserkennung ab, sondern beruhe auf der Messung von Parametern, die im Prüfzyklus ebenso auftreten können wie im realen Straßenbetrieb. Anders als bei einer direkten Prüfstandserkennung ergebe sich aus der Funktionsweise der Abgasminderungsstrategien daher kein Indiz für ein vorsätzlich sittenwidriges Handeln von verantwortlichen Mitarbeitern der Beklagten.

Das Gericht hat am 30.06.2022 gem. § 142 Abs. 1 ZPO angeordnet, dass die Beklagte die Bescheide des KBA zum streitgegenständlichen Fahrzeugtyp, auf die sich der Kläger bezogen hat, vorzulegen hat (Bl. 262 d.A.). Die Beklagte hat die Bescheide vom 23.05.2018 (Anlage B 9, Bl. 326 ff. d.A.) und vom 03.08.2018 (Anlage B 10, Bl. 312) nur in überwiegend geschwärzter Form vorgelegt.

Nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung sind ein Schriftsatz des Klägers vom 06.12.2022 und ein Schriftsatz der Beklagten vom 15.12.2022 eingegangen.

Entscheidungsgründe

I.

Die Klage ist zulässig. Insbesondere ist das für die Feststellungsanträge nach § 256 ZPO erforderliche Feststellungsinteresse gegeben.

1.
Für den Antrag zu 2. ergibt sich das Feststellungsinteresse mit Blick auf §§ 756, 765 ZPO.

2.
Durch die einseitig gebliebene Teilerledigungserklärung des Klägers hat sich der auf den erledigten Klageteil gerichtete Antragsteil konkludent in den Erledigungsfeststellungsantrag zu 5. umgewandelt. Das insoweitige Feststellungsinteresse ergibt sich aus dem Interesse des Klägers, hinsichtlich des für erledigt erklärten Klageteils eine ihm günstige Kostenentscheidung über § 91 Abs. 1 ZPO zu erwirken, nachdem ihm die Beklagte dadurch, dass sie sich der Teilerledigungserklärung nicht angeschlossen hat, den Weg über § 91a ZPO verwehrt hat.

II.

Die Klage ist überwiegend begründet.

1.
Der Kläger hat einen Schadensersatzanspruch auf Zahlung von 20.021,98 € Zug um Zug gegen Rückgabe und Übereignung des streitgegenständlichen Fahrzeugs aus §§ 826, 31 BGB.

a)
Die Voraussetzungen des § 826 BGB liegen vor.

Dabei kann vorliegend dahinstehen, ob die Motorsteuerungssoftware des streitgegenständlichen Fahrzeug – wie der Kläger behauptet – erkennt, ob sich das Fahrzeug im NEFZ befindet und die Abgasminderungsstrategien nur dann so steuert, dass die gesetzlichen NOx-Emissionsionsgrenzwerte eingehalten werden.

Ausreichend zur Begründung des Schadensersatzanspruchs ist vorliegend die unstreitige Implementation einer Abschalteinrichtung in Form der Aktivierung des „Bit 13“, wodurch der Modus zur Dosierung des AdBlue nach Überschreiten einer bestimmten NOx-Rohemission nach Ablauf des NEFZ dauerhaft (bis zum nächsten Motorstart) vom anfänglichen Füllstands-Modus in den Online-Modus wechselt, bei dessen ausschließlichem Betrieb die NOx-Grenzwerte nicht eingehalten werden. Insofern hat die Beklagte mit dem streitgegenständlichen Fahrzeug ein Fahrzeug in Verkehr gebracht, das nicht den Anforderungen des Art. 5 Abs. 1 VO (EG) 715/2007 genügt. Die Beklagte hat das Fahrzeug mit einer nach Art. 5 Abs. 2 VO (EG) 715/2007 unzulässigen Abschalteinrichtung i.S.d. Art. 3 Nr. 10 (EG) 715/2007 ausgestattet. Darüber hat sie die Zulassungsbehörde getäuscht und dem Kläger dadurch in einer gegen die guten Sitten verstoßenden Weise vorsätzlich Schaden zufügt.

(1)
Das Gericht legt seiner Entscheidung zugrunde, dass der Online-Modus in dem Sinne „weniger effektiv“ als der Füllstand-Modus ist, dass die gesetzlichen NOx-Emissionsgrenzwerte im NEFZ nicht eingehalten werden würden, wenn der Prüfzyklus im Online-Modus gefahren werden würde.

Dieser klägerischen Behauptung ist die Beklagte prozessual schon nicht wirksam entgegengetreten, denn sie hat sich zur Höhe der absoluten NOx-Emissionen im NEFZ beim einem hypothetischen Betrieb des Katalysators im Online-Modus gar nicht eingelassen. Ihre Ausführungen beziehen sich lediglich auf die für die Einhaltung der gesetzlichen NOx-Emissionen irrelevante „absolut gesehen höhere Reinigungsleistung“, während das KBA die Frage der „Effektivität“ eines Dosierungsmodus notwendig an den absoluten NOx-Emissionen im NEFZ ausrichtet.

Selbst wenn man jedoch zugunsten der Beklagten einmal angenommen würde, dass sie wirksam bestritten hat, dass der Online-Modus im oben bezeichneten Sinne „weniger effektiv“ als der Füllstand-Modus ist, wäre die bestrittene Behauptung des Klägers prozessual als bewiesen anzusehen, denn die Beklagte hat die insoweitige Aufklärung des Sachverhalts dadurch vereitelt, dass sie der gemäß § 142 Abs. 1 S. 1 ZPO erfolgten gerichtlichen Anordnung, die Bescheide des KBA vorzulegen, nicht ausreichend nachgekommen ist. Dieses Prozessverhalten ist gemäß §§ 286, 427 S. 2 ZPO frei zu würdigen und führt hier zu dem Ergebnis, dass das Gericht die entsprechende Behauptung des Klägers als bewiesen ansieht.

Die Anordnung der Vorlage der Bescheide war entgegen der Auffassung der Beklagten gemäß § 142 Abs. 1 S. 1 ZPO zulässig. § 142 ZPO gibt dem Gericht nicht die Befugnis, unabhängig von einem schlüssigen Vortrag zum Zwecke der Informationsgewinnung Urkunden anzufordern. Die Anordnung ist daher nur zulässig, wenn sie dazu dient, für die vom Gericht begehrte entscheidungsrelevante Umstände zu erhellen (Greger, in: Zöller, 34. Aufl. 2022, § 142 Rn. 7). Diese Voraussetzungen liegen hinsichtlich von Rückrufbescheiden des KBA in den sog. Dieselverfahren zwar dann nicht vor, wenn der Kläger keine konkreten Anhaltspunkte zum Inhalt der Bescheide hat und lediglich ins Blaue behauptet, dass das KBA eine prüfstandsbezogene Abschalteinrichtung festgestellt habe. Insofern ist der Fahrzeughersteller grundsätzlich nicht verpflichtet, dem Fahrzeugkäufer für seinen Prozesssieg die Informationen zu verschaffen, über die er nicht schon von sich aus verfügt. Eine solche Verpflichtung darf auch nicht über § 142 Abs. 1 ZPO herbeigeführt werden (vgl. dazu z.B. OLG Schleswig, Beschl. v. 14.04.2022 – 7 U 190/21 – Juris, Rn. 38; OLG Brandenburg, Urt. v. 23.02.2022 – 5 U 95/21 – Juris, Rn. 26). Gleichwohl kann bei entsprechend konkretem Sachvortrag die Anordnung der Vorlage von Rückrufbescheiden gemäß §§ 421 ff. ZPO oder § 142 Abs. 1 ZPO gerechtfertigt sein (BGH, Beschl. v. 23.02.2022 – VII ZR 252/20 – Juris, Rn. 14).

Nach dem vorstehend erörterten Maßstab würde zwar die klägerische Behauptung, dass die AdBlue-Dosierung von einer direkten Prüfstandserkennung abhänge, die Anordnung der Vorlage der Bescheide nicht rechtfertigen, denn es Bestehen keine konkreten Anhaltspunkte dafür, dass die Bescheide eine entsprechende Feststellung enthalten könnten. Vielmehr ergibt sich aus den von der Beklagten vorgelegten amtlichen Auskünften des KBA aus anderen Streitverfahren gerade, dass das KBA Wert auf die Feststellung legt, dass es im streitgegenständlichen Fahrzeugtyp keine direkte Prüfstandserkennung festgestellt habe.

Dagegen sind die Voraussetzung des § 142 Abs. 1 ZPO vorliegend deshalb gegeben, weil zwischen den Parteien letztlich unstreitig geworden ist, dass das KBA in den Bescheiden die unterbleibende Rückschaltung in den Füllstands-Modus nach Überschreiten einer bestimmten Masse NOx-Rohemissionen bestandet hat. Damit drängt sich auf, dass die gesetzlichen NOx-Emissionsgrenzwerte im NEFZ mit dem Online-Modus nicht eingehalten werden würden, weil das KBA – aus zahlreichen anderen Verfahren gerichtsbekannt – solche Abschalteinrichtungen nicht beanstandet, die für die Einhaltung der Grenzwerte nicht entscheidend sind.

Auch in Abwägung mit schutzwürdigen Belangen der Beklagten ist die Anordnung der Vorlage der Bescheide nicht unangemessen. Betroffen sind behördliche Bescheide mit konkreten Beanstandungen der Beschaffenheit der von der Beklagten in Verkehr gebrachten Motorsteuerungssoftware. Dass die Rückrufbescheide schützenswerte Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse enthalten, hat die Beklagte schon nicht substantiiert dargelegt, sondern sich pauschal sinngemäß darauf berufen, dass alle Informationen, die ihre Abgasbehandlungsstrategien betreffen, Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse seien. Dies ist evident unrichtig. Zwar mag das z.B. bei Informationen über die konkrete Bedatung der Motorsteuerungssoftware mit betriebssystemspezifischen Know-how der Fall sein (OLG Schleswig, Beschl. v. 14.04.2022 – 7 U 190/21 – Juris, Rn. 38), wobei im konkreten Fall aber auch insoweit fraglich wäre, ob die alten Informationen über die Bedatung im Jahr 2015 insofern noch schützenswert wären. Keinesfalls ist das jedoch bei Informationen der Fall, durch die lediglich die vom KBA als unzulässig gerügten Funktionen beschrieben werden. Das zweifellos auch insoweit bestehende „Geheimhaltungsinteresse“ der Beklagten beruht allein auf dem Interesse, von Fahrzeugkäufern nicht auf Schadensersatz in Anspruch genommen werden zu können. Dieses Interesse allein macht die Information jedoch nicht zu schützenswerten Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen (jedenfalls im Ergebnis wie hier z.B. LG Bayreuth, Urt. v. 23.08.2021 – 41 O 280/21 – Juris, Rn. 17).

Daher ist die Verweigerung der angeordneten Vorlage durch die Beklagte gemäß §§ 286, 427 S. 2 ZPO vom Gericht zu würdigen, was vorliegend dazu führt, dass die Behauptung, dass die gesetzlichen NOx-Grenzwerte im Online-Modus nicht eingehalten werden, als zutreffend zu behandeln ist.

(2)
Bei der Funktionsweise des „Bit 13“ handelt es sich um eine Abschalteinrichtung i.S.d. VO (EG) 715/2007. Gem. Art. 3 Nr. 10 VO (EG) 715/2007 ist eine Abschalteinrichtung ein Konstruktionsteil, das die Temperatur, die Fahrzeuggeschwindigkeit, die Motordrehzahl (UpM), den eingelegten Getriebegang, den Unterdruck im Einlasskrümmer oder sonstige Parameter ermittelt, um die Funktion eines beliebigen Teils des Emissionskontrollsystems zu aktivieren, zu verändern, zu verzögern oder zu deaktivieren, wodurch die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems unter Bedingungen, die bei normalem Fahrzeugbetrieb vernünftigerweise zu erwarten sind, verringert wird. Bei der Masse der NOx-Rohemissionen seit Motorstart, von der die dauerhafte Umschaltung vom Füllstands-Modus in den Online-Modus abhängt, handelt es sich ohne Weiteres um einen „sonstigen Parameter“ im Sinne der Norm.

(3)
Diese Abschalteinrichtung ist gem. Art. 5 Abs. 2 S. 1 VO (EG) 715/2007 unzulässig, denn einer der Tatbestände des Art. 5 Abs. 2 S. 2 VO (EG) 715/2007, unter denen eine Abschalteinrichtung ausnahmsweise zulässig ist, liegt nicht vor. Insbesondere ist kein Fall des Art. 5 Abs. 2 S. 2 lit. a VO (EG) 715/2007 gegeben.

Nach Art. 5 Abs. 1 VO (EG) 715/2007 hat der Hersteller das Fahrzeug so auszurüsten, dass es unter „normalen Betriebsbedingungen“ den gesetzlichen Vorschriften entspricht. Der Begriff der „normalen Betriebsbedingungen“ meint den realen Straßenbetrieb des Fahrzeugs. Dieser umfasst nicht nur Kurzfahrten mit geringem Lastprofil wie im NEFZ, sondern auch und sogar typischerweise längere Fahrten, die nach Erreichen einer bestimmten Masse von NOx-Rohemissionen fortgesetzt werden.

Nach Art. 5 Abs. 2 S. 2 lit. a VO (EG) 715/2007 sind Abschalteinrichtungen ausnahmsweise zulässig, wenn sie notwendig sind, um den Motor vor Beschädigung oder Unfall zu schützen und um den sicheren Betrieb des Fahrzeugs zu gewährleisten. Nach seinem üblichen Sinn im gewöhnlichen Sprachgebrauch bezeichnet der Begriff „Unfall“ ein unvorhergesehenes und plötzliches Ereignis, das Schäden oder Gefahren wie Verletzungen oder den Tod nach sich zieht, während der Begriff „Beschädigung“ einen im Allgemeinen auf einer gewaltsamen oder plötzlichen Ursache beruhenden Schaden bezeichnet (EuGH, Urt. v. 17.12.2020 – C-693/18 – Juris, Rn. 108). Nach dieser Ausnahmevorschrift sind Abschalteinrichtungen damit nur zulässig, wenn sie dazu dienen, den Motor vor plötzlichen und außergewöhnlichen Schäden zu schützen, nicht jedoch, um eine vorhersehbare Verschmutzung oder einen Verschleiß des Motors zu verhindern oder zu begrenzen (EuGH, a.a.O., Rn. 109 f.). Die Ausnahmevorschrift legitimiert somit nicht solche Abschalteinrichtungen, durch die die Wirksamkeit eines zur Einhaltung der Emissionsgrenzwerte erforderlichen Emissionsminderungssystem systematisch reduziert wird. Insbesondere kann die Norm solche Abschalteinrichtigungen nicht legitimieren, die allein dazu dienen, ein Emissionsminderungssystem, das überhaupt nicht dauerbetriebsfähig ist, während einer begrenzten Zeitspanne – jedenfalls für die Dauer des NEFZ – zur temporären Einhaltung der Emissionsgrenzwerte zu betreiben. Durch nicht dauerbetriebsfähige Emissionsminderungssysteme kann die nach Art. 5 Abs. 1 VO (EG) 715/2007 erforderliche Einhaltung der gesetzlichen Emissionsgrenzwerte unter „normalen Betriebsbedingungen“ grundsätzlich nicht hergestellt werden (vgl. EuGH, a.a.O., Rn. 115). Wenn also die Beklagte im Zeitpunkt der Erteilung der Typgenehmigung für das streitgegenständliche Fahrzeug noch gar nicht in der Lage war, den SRC-Katalysator auch nach Erreichen einer bestimmten Masse an NOx-Rohemissionen so zu steuern, wie sie es zur Erteilung der Typgenehmigung auf dem Prüfstand demonstriert hat, ist das kein Fall von Art. 5 Abs. 2 S. 2 lit. a VO (EG) 715/2007.

(4)
Der Schaden des Klägers besteht darin, dass er einen ungewollten Vertrag abgeschlossen hat. Jedenfalls bei einem Fahrzeugkauf schon im Jahr 2015 – wie vorliegend – kann nach der Lebenserfahrung unterstellt werden, dass der Kläger kein Fahrzeug erworben hätte, von dem er wusste, dass es den EU-Bestimmungen nicht entspricht, denn es drohte dadurch die Einschränkung des Betriebs oder der Entzug der Betriebserlaubnis (vgl. BGH, Beschl. v. 08.01.2019 – VIII ZR 225/17 – Juris, Rn. 18 ff.). Zwar verfügt das Fahrzeug formal über eine EG-Typgenehmigung. Diese hätte jedoch wegen des Vorhandenseins der Abschalteinrichtung nicht erteilt werden dürfen.

(5)
Das Verhalten der Beklagten ist bei einer Gesamtwürdigung objektiv als sittenwidrig einzustufen.

Sittenwidrig ist ein Verhalten, das nach seinem Gesamtcharakter, der durch umfassende Würdigung von Inhalt, Beweggrund und Zweck zu ermitteln ist, gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt. Dafür genügt es im Allgemeinen nicht, dass der Handelnde eine Pflicht verletzt und einen Vermögensschaden hervorruft. Vielmehr muss eine besondere Verwerflichkeit seines Verhaltens hinzutreten, die sich aus dem verfolgten Ziel, den eingesetzten Mitteln, der zutage getretenen Gesinnung oder den eingetretenen Folgen ergeben kann. Schon zur Feststellung der Sittenwidrigkeit kann es daher auf Kenntnisse, Absichten und Beweggründe des Handelnden ankommen, die die Bewertung seines Verhaltens als verwerflich rechtfertigen. Die Verwerflichkeit kann sich auch aus einer bewussten Täuschung ergeben. Insbesondere bei mittelbaren Schädigungen kommt es ferner darauf an, dass den Schädiger das Unwerturteil, sittenwidrig gehandelt zu haben, gerade auch in Bezug auf die Schäden desjenigen trifft, der Ansprüche aus § 826 BGB geltend macht (BGH, Urt. v. 25.05.2020 – VI ZR 252/19 – Juris, Rn. 15).

Diese Voraussetzungen sind vorliegend gegeben. Durch die unzulässige Emissionsminderungsstrategie eines AdBlue-Dosiermodus der zwar im NEFZ-Prüfstand aktiv ist um dort die gesetzlichen Grenzwerte einzuhalten, nach Erreichen einer bestimmten NOx-Rohemissionsmasse aber dauerhaft abgeschaltet wird, wurden die Prüfbehörden und die Fahrzeugerwerber bewusst getäuscht, wobei insbesondere das Vertrauen der Käufer in die EU-Übereinstimmungsbescheinigung ausgenutzt wurde. Die besondere Verwerflichkeit dieses Verhaltens ergibt sich daraus, dass die Beklagte im Rahmen einer strategischen Entscheidung im Gewinninteresse die Typgenehmigungs- und Marktüberwachungsbehörde darüber getäuscht hat, dass die eingesetzten Abgasminderungsstrategien nicht unter normalen Betriebsbedingungen, sondern nur innerhalb einer kurzen, die Dauer des NEFZ umfassenden Zeitspanne bis zum Erreichen einer bestimmten NOx-Rohemissionsmasse sicherstellen können. Dies geht einher mit einer Gesinnung, die sich gleichgültig zeigt sowohl im Hinblick auf die den zahlreichen Käufern möglicherweise eintretenden Schäden, als auch im Hinblick auf die Rechtsvorschriften zum Schutz der Gesundheit der Bevölkerung und der Umwelt. Die Vorgehensweise ist vergleichbar derjenigen bei Verwendung der unzulässigen Software mit Prüfstanderkennung bei dem VW-Motor EA 189 durch die Volkswagen AG (hierzu BGH, Urt. v. 25.05.2020 – VI ZR 252/19 – Juris, Rn. 23 ff.).

Aus dem eigenen Sachvortrag der Beklagten ergibt sich, dass sie die zwingend erst nach Ablauf des NEFZ erfolgende Umschaltung des AdBlue-Dosierung in einen anderen Modus, der im NEFZ gar nicht zum Einsatz kommt, dem KBA im Typgenehmigungsverfahren nicht offengelegt hat.

Zwar begründet nach der Rechtsprechung des BGH nicht schon der Einsatz einer beliebigen unzulässigen Abschalteinrichtung für sich genommen zwingend den Vorwurf sittenwidrigen Handelns. Insbesondere dann, wenn die Funktionsweise der Abschalteinrichtung nicht – wie das beim VW-Motor EA 189 der Fall war – direkt an eine Prüfstandserkennung anknüpft, sind sehr hohe Anforderungen zu stellen, um eine Ausuferung des Haftungstatbestandes nach § 826 BGB zu verhindern. So genügt es im Allgemeinen nicht, wenn eine Abschalteinrichtung im NEFZ und im realen Straßenbetrieb grundsätzlich in gleicher Weise arbeitet, die Schaltbedingungen allerdings von Umgebungsparametern abhängen, die im Prüfzyklus immer, im realen Straßenbetrieb jedoch nur selten vorliegen. So verhält es sich z.B. beim sog. Thermofenster, dessen Schaltbedingung im NEFZ und im realen Straßenbetrieb die Umgebungstemperatur ist und dessen unterschiedliche Wirkung auf das Emissionsverhalten im NEFZ und im realen Straßenbetrieb sich daraus ergibt, dass die für eine optimale Abgasreinigung erforderlichen zweistelligen Außentemperaturen im NEFZ immer gewährleistet sind, während im realen Straßenbetrieb in Mitteleuropa häufig niedrigere Temperaturen anzutreffen sind.

Sofern die Schaltbedingungen jedoch exakt auf die Bedingungen des Prüfstands zugeschnitten sind, ist dieser Umstand grundsätzlich geeignet, auf eine arglistige Täuschung der Genehmigungsbehörden und ein entsprechendes Unrechtsbewusstsein der Handelnden zu schließen (BGH, Beschl. v. 20.04.2022 – VII ZR 720/21 – Juris, Rn. 25). Andernfalls bedarf es für die Annahme eines sittenwidrigen Verhaltens durch den Einbau einer Abschalteinrichtung, die nicht auf einer direkten Erkennung des Prüfstands beruht, weiterer besonderer Umstände, die das Verhalten der handelnden Personen als besonders verwerflich erscheinen lassen (BGH, Beschl. v. 19.01.2021 – VI ZR 433/19 – Juris, Rn. 13 ff.). Die Rechtsprechung des BGH lässt sich dahingehend zusammenfassen, dass die „Prüfstandsbezogenheit“ einer Abschalteinrichtung ein starkes Indiz für die Annahme einer Sittenwidrigkeit, gleichwohl aber keine zwingende Voraussetzung für die Annahme einer Sittenwidrigkeit ist.

Praktisch schließt nahezu die gesamte obergerichtliche Rechtsprechung die Annahme einer Sittenwidrigkeit jedoch aus, wenn die behaupteten Abschalteinrichtungen nicht „prüfstandsbezogen“ sind. Eine „Prüfstandsbezogenheit“ wird aber beispielsweise bei einer timergesteuerten Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung bereits dann verneint, wenn die Länge des Timers nicht genau der Dauer des NEFZ entspricht bzw. die genaue Länge des Timers offen geblieben ist, weil die Schaltbedingingen dann jedenfalls nicht exakt auf den Prüfzyklus zugeschnitten seien (vgl. z.B. OLG Braunschweig, Urt. v. 14.11.2022 – 10 U 4/22 – Juris, Rn. 80; OLG Stuttgart, Urt. v. 28.06.2022 – 24 U 115/22 – Juris, Rn. 51; OLG Stuttgart, Urt. v. 25.01.2022 – 16a U 138/19 – Juris, Rn. 45; OLG Karlsruhe, Urt. v. 22.09.2021 – 6 U 13/20 – Juris Rn. 117; OLG München, Urt. v. 21.07.2021 – 20 U 4718/19 – Juris, Rn. 31 ff.).

Das erkennende Gericht hält diese Rechtsprechung, soweit sie sich ausschließlich auf die Frage einer Erkennung des Prüfstands fixiert, für nicht überzeugend und folgt ihr deshalb nicht.

Nach Auffassung des erkennenden Gerichts rechtfertigt die Anwendung einer AdBlue-Dosierstrategie, bei der nach Erreichen einer bestimmten NOx-Rohemissionsmasse dauerhaft in einen anderen Dosierungsmodus umgeschaltet wird, mit dem – würde er im NEFZ angewendet – die gesetzlichen NOx-Emissionsgrenzwerte nicht eingehalten werden, die Annahme eines sittenwidrigen Verhaltens der Beklagten. Zwar knüpft die hier verwendete Schaltbedingung – die streitigen Behauptungen des Klägers einmal beiseite gelassen – nicht an eine direkte Erkennung des NEFZ an. Es ist auch unstreitig geblieben, dass die maßgebliche NOx-Rohemissionsmasse nicht unmittelbar nach dem Ende des NEFZ, sondern abhängig von der Fahrsituation erst zu einem späteren Zeitpunkt eintritt. So gesehen arbeitet die implementierte AdBlue-Dosierstrategie im NEFZ und im realen Straßenbetrieb grundsätzlich in gleicher Weise. Den für die Bewertung als sittenwidrig entscheidende Umstand sieht das erkennende Gericht jedoch darin, dass – anders als beispielsweise beim Thermofenster – die streitgegenständliche Dosierstrategie im realen Straßenbetrieb nicht von den zufälligen Umgebungsbedingungen, sondern allein vom Erreichen einer bestimmten NOx-Rohemissionsmasse und damit einem absoluten Schaltparameter, der bei fortgesetzter Fahrt mit Sicherheit eintritt, abhängt. Anders als beim Thermofenster, bei dem sich argumentieren lässt, dass die Abgasreinigung im realen Straßenbetrieb dauerhaft genauso gut funktionieren würde wie im NEFZ, wenn es auf der Straße genauso warm wäre, wie auf dem Prüfstand, steht bei der streitgegenständlichen Abschalteinrichtungen fest, dass nach erreichen der definierten NOx-Rohemissionsmasse die Schaltbedingung eintritt. Ist die Abgasminderungsstrategie, die mit dem Eintritt der Schaltbedingung abgeschaltet wird, zur Einhaltung der gesetzlichen Emissionsgrenzwerte erforderlich, steht damit fest, dass die gesetzlichen Emissionsgrenzwerte nach Eintritt der Schaltbedingung nicht mehr eingehalten werden können. Die Installation einer solchen Abschalteinrichtung ohne Offenlegung gegenüber dem KBA ist ohne Weiteres als verwerflich anzusehen, denn sie dient dazu, dem KBA vorzuspiegeln, dass das Fahrzeug die gesetzlichen Emissionsgrenzwerte unter „normalen Betriebsbedingungen“ i.S.d. Art. 5 Abs. 1 VO (EG) 715/2007 einhält, während das tatsächlich nur für Kurzfahrten während der verlängerten Warmlaufphase des Motors gilt. Dabei kommt es auch nicht entscheidend darauf an, dass ein Teil der Fahrten im realen Straßenbetrieb, insbesondere im sog. „Stadtverkehr“ durchaus aus Kurzfahrten besteht, bei denen Möglicherweise noch keine Umschaltung in den Online-Modus erfolgt, denn die einzuhaltenden „normalen Betriebsbedingungen“ bestehen eben nicht nur, und – gemessen am Anteil der gefahrenen Kilometer – noch nicht einmal überwiegend aus Kurzfahrten. Es musste sich den verantwortlichen Personen der Beklagten aufdrängen, dass eine auf Kurzfahrten beschränkte Einhaltung der gesetzlichen Emissionsgrenzwerte nicht zulässig ist.

Eine Sittenwidrigkeit entfällt auch nicht deshalb – worauf aber die Beklagte abhebt – dass es grundsätzlich „legitim“ sei, wenn sich Fahrzeughersteller an den gesetzlich normierten Prüfbedingungen ausrichten. Eine „Ausrichtung“ an den gesetzlich normierten Prüfbedingungen – die Beklagte dürfte eher eine Optimierung der Emissionsminderungsstrategien auf die Bedingungen des NEFZ meinen – ist jedenfalls dann nicht mehr legitim, wenn sie den Sinn und Zweck der gesetzlich normierten Prüfbedingungen offenkundig ad absurdum führt. Zwar ist es zutreffend, dass jedenfalls die für die Zulassung des streitgegenständlichen Fahrzeugs im Jahr 2014 noch geltenden Prüfbedingungen den realen Straßenbetrieb bekanntermaßen nur unzutreffend abgebildet haben. Das ist allgemein bekannt und war im Gesetzgebungsverfahren politisch gewünscht. Insofern kann eine gewisse Optimierung der Abgassteuerung auf die Bedingungen des Prüfzyklus – wie oben dargelegt – nicht ohne Weiteres als sittenwidrig angesehen werden, auch wenn sie der auf „normale Betriebsbedingungen“ abzielenden Vorgabe des Art. 5 Abs. 1 VO (EG) offensichtlich zuwider läuft. Die Grenze zur Sittenwidrigkeit ist jedoch dann überschritten, wenn die Art der Optimierung auf den Prüfzyklus den gesetzlichen Zweck des Prüfverfahrens ad absurdum führt. Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn – wie vorliegend – eine zur Einhaltung der gesetzlichen Grenzwerte erforderliche Abgasminderungsstrategie nach Erreichen einer bestimmten NOx-Rohemission, die im NEFZ nicht erreicht werden kann, dauerhaft in einen weniger effektiven Modus umgeschaltet wird.

(6)
Das Inverkehrbringen des Fahrzeugs mit der unzulässigen Abschalteinrichtung ist der Beklagten entsprechend § 31 BGB zurechenbar (vgl. BGH, Urt. v. 25.05.2020 – VI ZR 252/19 – Juris, Rn. 29 ff.). Nach den Grundsätzen über die sekundäre Darlegungslast hätte die Beklagte zur Frage der Kenntnis ihrer verfassungsmäßigen Vertreter im Sinne des § 31 BGB vortragen müssen, denn der Kläger hat naturgemäß keinen Einblick in die interne Organisationsstruktur und die Entscheidungsabläufe bei der Motorentwicklung der Beklagten. Hierzu fehlt aber jeglicher brauchbarer Vortrag der Beklagten.

(7)
Die Beklagte hat auch vorsätzlich gehandelt, indem sie das Fahrzeug mit dieser Abschalteinrichtung in Verkehr gebracht hat. Die Unzulässigkeit einer Software, die die Einhaltung der gesetzlichen Emissionsgrenzwerte nur für eine begrenzte Rohemisonsleistung ab Motorstart sicherstellt, dann aber auf einen zur Einhaltung der Emissionsgrenzwerte nicht mehr ausreichenden Modus umschaltet, liegt so deutlich auf der Hand, dass ein Fahrzeughersteller dies keinesfalls für regelkonform halten konnte.

c)
Der Kläger muss sich von seinem Anspruch als Nutzungsentschädigung den Wert der von ihm gefahrenen Kilometer abziehen lassen. Die Höhe der Nutzungsentschädigung ist linear anhand des Anteils der gefahrenen Kilometer zur voraussichtlichen Gesamtlaufleistung des Fahrzeugs gemäß folgender Formel zu berechnen:

Kaufpreis x vom Kläger gefahrene km / verbleibende Gesamtlaufleistung zum Kaufzeitpunkt.

Dabei erhöhen die Finanzierungskosten den in die Formel einzusetzenden Kaufpreis nicht. Zwar konnte der Kläger das Fahrzeug nur erwerben und nutzen, weil er nicht nur den Kaufpreis des Fahrzeugs, sondern auch die Finanzierungskosten aufgewendet hat. Die Finanzierungskosten erhöhen jedoch nicht den objektiven Wert des Fahrzeugs und vergrößern damit auch nicht den Gebrauchsvorteil, den der Kläger aus der Nutzung des Fahrzeugs gezogen hat (BGH, Urt. v. 13.04.2021 – VI ZR 274/20 – Juris, Rn. 23).

Bei einem Mercedes-Benz V 220 d schätzt das Gericht die Gesamtlaufleistung gem. § 287 ZPO auf 250.000 km. Die Nutzungsentschädigung berechnet sich hier demnach wie folgt:

49.861,00 € x 149.611 km / 250.000 km = 29.839,02 €.

Die Anrechnung der Nutzungsentschädigung ist eine schadensersatzrechtlich unmittelbar zu berücksichtigende Position. Demgemäß reduziert sich der Schadensersatzanspruch wegen der Kilometerlaufleistung vorliegend unmittelbar (vgl. BGH, Urt. v. 25.05.2020, a.a.O., Rn. 64 ff.).

d)
Der Zinsanspruch ergibt sich aus §§ 286 Abs. 1 S. 1, 288 Abs. 1 BGB.

2.
Der Feststellungsantrag zu 2. ist unbegründet. Die Beklagte befindet sich mit der Rücknahme des streitgegenständlichen Fahrzeugs nicht gem. 293 BGB in Annahmeverzug. Zwar ließ der Kläger die Beklagte mit Anwaltsschreiben vom 30.12.2021 zur Rücknhame des Fahrzeugs auffordern. Der Kläger hat die Leistung der Beklagten entgegen § 294 BGB jedoch nicht so angeboten wird, wie sie zu bewirken ist, denn er hat die Rückgabe des Fahrzeugs von einer zu hohen Gegenleistung abhängig gemacht hat. Insofern hat der Kläger den im Hinblick auf die Grundsätze des Vorteilsausgleichs geschuldeten Nutzungsersatz zu niedrig berechnet, indem er eine Laufleistung von 300.000 km zugrunde gelegt hat. Auf die Ausführungen oben unter 1.c) wird Bezug genommen.

3.
Der Kläger hat ferner Anspruch auf Erstattung der von ihm für das Kaufpreisdarlehen aufgewendeten Zinsen i.H.v. 4.415,93 €.

Die Verpflichtung des Fahrzeugherstellers, den Fahrzeugkäufer gemäß §§ 826, 249 Abs. 1 BGB so zu stellen, als wäre es nicht zu dem Fahrzeugerwerb gekommen, umfasst neben dem Ersatz des gezahlten Kaufpreises auch den Ersatz der mit dem Erwerb verbundenen Finanzierungskosten, denn die Finanzierungskosten sind durch die schädigende Handlung adäquat kausal verursacht worden, weil es ohne den Fahrzeugerwerb nicht zur Finanzierung des Kaufpreises für das von der Beklagten hergestellte Fahrzeug gekommen wäre (BGH, Urt. v. 07.11.2022 – VIa ZR 409/22 – Juris, Rn. 8, m.w.N.).

Der Zinsanspruch ergibt sich aus §§ 288 Abs. 1, 291 BGB.

4.
Der Kläger hat ferner Anspruch auf Ersatz vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten i.H.v. 1.501,19 €.

Der Schadensersatzanspruch aus § 826 BGB umfasst die dem Kläger angefallenen Rechtsanwaltskosten, soweit diese zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung erforderlich waren. Für den Käufer eines vom Dieselskandal betroffenen Fahrzeugs stellt es grundsätzlich eine Maßnahme der zweckentsprechenden Rechtsverfolgung dar, sich bereits außergerichtlich der Hilfe eines Rechtsanwaltes zu bedienen, der den Schadensersatzanspruch prüft und den Fahrzeughersteller zur Erfüllung des Anspruchs auffordert. Insofern hat der Kläger Anspruch auf Ersatz einer 1,3 Geschäftsgebühr gemäß Nr. 2300 VV RVG auf einen Gegenstandswert von 27.024,83 € i.H.v. 1.241,50 €, der Post- und Telekommunikationspauschale nach Nr. 7002 VV RVG i.H.v. 20,00 € und der Umsatzsteuer i.H.v. 19 % nach Nr. 7008 VV RVG i.H.v. 239,69 €.

5.
Der Erledigungsfeststellungsantrag ist teilweise begründet. Der Kläger hat einen Anspruch auf Feststellung, dass sich die Klage in Höhe eines Teilbetrages von 1.973,67 € im Laufe des Rechtsstreites erledigt hat. Der Kilometerstand betrug bei Klageeinreichung 137.399 km. Im Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung, welcher für die gerichtliche Entscheidung maßgeblich ist, betrug er 149.611 km. Dies ergibt eine weitere Nutzungsentschädigung i.H.v. 2.435,61 €, welche sich der Kläger anrechnen lassen muss.

49.861,00 € x (149.611 km - 137.399 km) / (250.000 km) = 2.435,61 €.

Auch in Höhe dieses Differenzbetrages war die Klage im Zeitpunkt der Klageeinreichung begründet. Erledigung ist jedoch nur in dem Umfang eingetreten, wie der Kläger auch Erledigung erklärt hat, also i.H.v. 1.973,67 €.

6.
Der nicht nachgelassene Schriftsatz des Klägers vom 06.12.2022 bot keine Veranlassung zur Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung, da der Klage im tenorierten Umfang bereits ohne den Schriftsatz stattzugeben war und neuer entscheidungserheblichen Vortrag zum abgewiesenen Klageteil nicht enthalten ist. Auch der nachgelassene Schriftsatz der Beklagten vom 15.12.2022 bot keine Veranlassung zur Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung, da er neuen entscheidungserheblichen Vortrag nicht enthält.

7.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 ZPO. Der Kostenentscheidung ist ein fiktiver Streitwert i.H.v. 32.941,95 € (31.440,76 € + 1.501,19 €), zugrunde zu legen. Davon hat der Kläger mit einem Teilbetrag von 26.411,58 € (20.021,98 € + 4.415,93 € + 1.973,67 €) obsiegt. Das entspricht bezüglich des fiktiven Streitwerts einem Klageerfolg von 80,2 % (26.411,58 € / 32.941,95 * 100 %).

8.
Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 709 S. 1, 2 ZPO.

9.
Der Gebührenstreitwert war gemäß § 63 Abs. 1 GKG, § 3 ZPO auf 31.440,76 € festzusetzen. Er richtet sich nach dem höheren Wert der anfänglichen Anträge aus der Klageschrift. Der Streitwert des ursprünglichen Antrags zu 1. entspricht der bezifferten Klageforderung abzgl. des bezifferten Wertersatzes, also 27.024,83 €. Der Wert des Zug um Zug herauszugebenden Fahrzeugs ist nicht in Abzug zu bringen. Der Feststellungsantrag zu 2. hat neben dem Hauptantrag keinen eigenen Streitwert. Der Wert des Antrags zu 3. bleibt gemäß § 43 Abs. 1 GKG unberücksichtigt, da es sich bei den Rechtsanwaltsgebühren um eine Nebenforderung handelt. Der Wert des Antrags zu 4. entspricht dem bezifferten Betrag von 4.415,93 €.

Mit der Teilerledigungserklärung vom 21.11.2022 hat sich der Streitwert – nur für danach angefallene Anwaltsgebühren maßgeblich – auf den Wert der dann noch anhängigen Ansprüche reduziert und war auf 29.897,09 € festzusetzen. Der Wert des verbliebenen Antrags zu 1. beträgt noch 25.051,16 €. Der Wert des Antrags zu 4. bleibt bei 4.415,93 €. Der Wert des Erledigungsfeststellungsantrages zu 5. bemisst sich nach dem mit dem Antrag verfolgten Kosteninteresse des Klägers, das sich auf etwa 6 % der Gesamtkosten des Rechtsstreits erster Instanz bei einem Streitwert von 31.440,76 € richtet und damit ca. 430,00 € beträgt.