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Asylrecht - Russische Föderation


Metadaten

Gericht VG Frankfurt (Oder) 10. Kammer Entscheidungsdatum 06.03.2023
Aktenzeichen 10 K 737/17.A ECLI ECLI:DE:VGFRANK:2023:0306.10K737.17.00
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen Art 16a Abs 1 GG

Leitsatz

Einzelfall eines homosexuellen Russen

Tenor

Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 9. Februar 2017 verpflichtet, den Kläger als Asylberechtigten anzuerkennen.

Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Der Beklagten bleibt nachgelassen, eine Vollstreckung des Klägers durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abzuwenden, falls der Kläger nicht zuvor entsprechende Sicherheit bezüglich des zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand

Der 1974 in Taschkent/Usbekistan geborene Kläger meldete sich am 19. Dezember 2016 in Berlin als Asylsuchender und stellte am 21. Dezember 2016 bei der Außenstelle Eisenhüttenstadt des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) einen unbeschränkten Asylantrag. Ausweislich seines russischen Reisepasses vom 28. Dezember 2011 verfügte er über ein deutsches Touristenvisum vom 24. Oktober 2016 für die Zeit vom 14. Dezember 2016 bis zum 5. Januar 2017 und hatte er diverse Reisen, u.a. nach Malaysia, Laos und Kasachstan (April 2016) sowie Thailand (zuletzt im Mai 2016) durchgeführt. Anlässlich seiner Befragung gab er an, in der Europäischen Union keine Angehörigen zu haben. Er sei am 14. Dezember 2016 mit dem deutschen Visum von Moskau nach Berlin auf dem Luftweg ausgereist. In der Heimat lebten noch seine Mutter, sein Stiefvater und ein Bruder. Er habe Medizin studiert und als Stomatologe gearbeitet.

Anlässlich seiner Anhörung am 22. Dezember 2016 gab der Kläger gegenüber dem Bundesamt im Wesentlichen an, in Moskau gelebt zu haben, wo er allerdings nicht angemeldet gewesen sei. Er sei auf Grund seiner Homosexualität und wegen der Bedrohung durch den Vater eines Freundes ausgereist. Seit 2015 wisse er, dass er HIV-positiv ist. Er habe keine staatliche Behandlung erhalten, sondern sich privat ärztlich soweit einstellen können, dass er nicht ansteckend gewesen sei. Seine Probleme hätten 2016 begonnen, nachdem er den besagten Freund, einen 22-jährigen „N...“ kennengelernt habe, der ebenfalls HIV-positiv sei. Der Freund sei im Krankenhaus gewesen und habe Angst gehabt, dass die Eltern von seiner Homosexualität und Infizierung etwas erführen. Anlässlich eines Hepatitis-Testes in der Zahnklinik, bei welcher er gearbeitet habe, sei sodann ein positiver HIV-Befund des Klägers bekanntgeworden. Sein Chef habe ihm gesagt, dass er mit dieser Diagnose dort nicht weiterarbeiten dürfe, und der Kläger sei entlassen worden. Bei dem Gespräch sei der Vater jenes „N...“ - wie sich dann herausgestellt habe - dabei gewesen; der Freund habe den Kläger später angerufen und berichtet, dass es einen großen Skandal gegeben habe, weil „N...“ homosexuell und HIV-positiv sei. Der Vater von „N...“ arbeite beim FSB, „N...“ habe den Kläger dem Vater gegenüber erwähnt. Am 7. August 2016 sei der Kläger dann von jemandem mit einem FSB-Ausweis zu einem Auto geholt worden, in welchem sich der Vater von „N...“ befunden habe. Der Vater habe dem Kläger einen Missbrauch seines Sohnes und dessen Infektion vorgeworfen, den Kläger geschlagen und ihn aus dem Auto geworfen. Zwei Tage später sei der Kläger von Schlägern verprügelt worden. Nach weiteren drei Wochen habe der Kläger nachts einen Schwulenclub besucht, er sei von der Polizei kontrolliert und mitgenommen sowie einer Blutprobe wegen eines angeblichen Drogenverdachts unterzogen worden. Anfang September 2016 habe der Vater von „N...“ ihn wieder aufgesucht und ihm vorgeworfen, Drogen zu nehmen und sie auch seinem Sohn, „N...“, gegeben zu haben; der Kläger werde entweder bei der Polizei angezeigt und ins Gefängnis gebracht oder er könne sich für 10 Millionen Rubel freikaufen. Danach sei der Kläger mit Anrufen und durch Leute in seinem Treppenhaus terrorisiert worden. Sein Anwalt habe ihm gesagt, dass er keine Chance habe davonzukommen. Am 23. September 2016 sei der Kläger von seiner Klinik entlassen worden. Am 8. Oktober 2016 habe der Kläger das geforderte Geld zahlen wollen, den Leuten allerdings lediglich 630.000 Rubel geben können, was ihnen nicht genug gewesen sei. Die Leute hätten das Geld genommen und ihm gesagt, dass er mit dem Gefängnis rechnen müsse. Am 11. Oktober 2016 habe er die Leute mit der Geldforderung wieder treffen müssen; sie hätten ihm eine Anzeige von „N...“ und ein Schreiben eines Gerichts darüber vorgelegt, dass gegen den Kläger ein Verfahren im Zusammenhang mit Drogen eingeleitet worden sei. Am folgenden Tag habe der Kläger das deutsche Visum beantragt. Anfang November (2016) sei er wieder von jenen Leuten aufgesucht und mitgenommen worden; danach habe er sich auf der Datsche eines Bekannten drei Wochen lang versteckt gehalten. Er habe seine Eltern noch einmal sehen wollen, wofür ihm ein Freund ein Flugticket besorgt habe. Der Kläger sei nach Sibirien geflogen und drei Nächte dort gewesen. Seinen Eltern habe er gesagt, dass er in Deutschland studieren wolle. Derweil sei ein Dorfpolizist bei seinem Vater erschienen und habe gesagt, dass der Kläger in Moskau gesucht werde. Als der Kläger dann wieder in Moskau gewesen sei, sei er von zwei Männern abgeholt und geschlagen worden. Am 13. Dezember 2016 habe er seine Wohnung an den Vermieter zurückgegeben und am nächsten Morgen sei er ausgereist. Seine eigene Familie wisse nicht, dass er homosexuell sei. Er habe dies auch nicht öffentlich gezeigt. 2012 sei er einmal in eine Razzia in einem Schwulenclub geraten. Seine Häscher würden ihn überall in der Russischen Föderation finden, wenn sie ihn selbst in Sibirien gefunden hätten. Die benötigten speziellen Medikamente erhalte man nur in den großen Städten und er müsse sich dort anmelden, was schwierig sei. Staatliche medizinische Hilfe habe er nicht bekommen, da er in Moskau nicht angemeldet gewesen sei. Er glaube, dass seine Verfolger vom FSB seien.

Ausweislich eines Laborergebnisses vom 3. Januar 2017 ist der Kläger HIV-positiv.

Das Bundesamt lehnte den Asylantrag des Klägers mit Bescheid vom 9. Februar 2017, zugestellt am 20. Februar 2017, umfassend ab, forderte den Kläger unter Androhung seiner Abschiebung in die Russische Föderation zur Ausreise auf und verfügte ein 30-monatiges Einreise- und Aufenthaltsverbot. Der Kläger habe keine schweren Verfolgungshandlungen aufgrund der behaupteten Homosexualität vorgetragen; eine generelle staatliche Verfolgung Homosexueller gebe es nicht und die berichteten Vorkommnisse seien lediglich punktuell. Die Verfolgung durch den Vater „N...“ seien privater Natur und gegen die berichtete Erpressung könne der Kläger staatlichen Schutz beanspruchen. Im Übrigen müsse er sich auf internen Schutz innerhalb der Russischen Föderation verweisen lassen und sei seine HIV-Erkrankung behandelbar.

Mit seiner am 27. Februar 2017 erhobenen Klage verfolgt der Kläger seinen Asylantrag vollumfänglich weiter mit der Begründung, dass der russische Staat die Repression gegen Homosexuelle schüre, weshalb er einer geschlechtsbezogenen Verfolgung unterliege. Außerdem sei er mit dem Medikament Delstrigo lebenslang behandlungsbedürftig; eine solche Behandlung sei in der Russischen Föderation nur unter erschwerten Bedingungen möglich. Ferner stehe er als „Leutnant des medizinischen Dienstes“ auf der ersten Stufe der Reservistenlisten. Ihm drohe ein Einsatz im derzeitigen Krieg Russlands gegen die Ukraine. Ausweislich des letzten Attestes vom 17. Januar 2023 werde er weiter mit Delstrigo (Tenofovir/Lamivudin/Doravirin) bei einer aktuellen CD 4-Zellzahl von 871/μl und einer Viruslast von unter 50 cop/ml behandelt. Zuletzt stützt sich der Kläger auf eine Bescheinigung vom 3. August 2019, wonach er im Rahmen des Bundesfreiwilligendienstes in der HIV-Beratung von Juli 2017 bis Januar 2019 und danach ehrenamtlich tätig war.

Der in der mündlichen Verhandlung informatorisch angehörte Kläger beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 9. Februar 2017 zu verpflichten, ihn als Asylberechtigten anzuerkennen und ihm internationalen Schutz zuzuerkennen,

hilfsweise die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des genannten Bescheides zu verpflichten festzustellen, dass die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots hinsichtlich der Russischen Föderation vorliegen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Kammer hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 30. Januar 2023 auf den Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen. Wegen aller weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der den Kläger betreffenden Bundesamtsakte und der weiter beigezogenen Ausländerakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

1.

Der nach Maßgabe der Einzelrichterübertragung vom 30. Januar 2023 gemäß § 76 Abs. 1 AsylG (dieses nunmehr in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 [BGBl. I S. 1798], zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes vom 21. Dezember 2022 [BGBl. I S. 2817]) zur Entscheidung berufene Einzelrichter ist entgegen den ins Blaue gerichteten Vermutungen des Klägers zu einer angeblich zügigeren Entscheidungskompetenz der früher zuständigen Kammer des Gerichts gesetzlicher Richter, nachdem das Präsidium des Gerichts mit Beschluss vom 23. November 2022 im Vorgriff auf weitere Geschäftsumverteilungen zum Geschäftsjahr 2023 u.a. das vorliegende Verfahren nach zeitlichen und sachlichen Kriterien (noch nicht in die Bearbeitung genommene Altanhänge für einen begrenzten Zeitraum, die trotz weiterer sich abzeichnender Umverteilungserfordernisse bei Doppelzuständigkeit der Kammermitglieder in überschaubarer Zeit gefördert werden können) ungeachtet der Verfahrensbeteiligten sowie der jeweils aufgeworfenen Fragenkomplexe von der zuvor zuständigen auf die nunmehr zuständige Kammer mit Wirkung bereits zum 12. Dezember 2022 übertragen hat, damit im Vorgriff auf den Jahreswechsel möglichst zeitnah eine Terminierung durch die Kammer ermöglicht würde.

2.

Das Gericht kann in Anbetracht der einschlägigen Hinweise in der rechtzeitig zugestellten Ladungsverfügung trotz Ausbleibens von Vertretern der Beklagten verhandeln und entscheiden (§ 102 Abs. 2 VwGO).

3.

Die Klage ist als Verpflichtungsklage hinsichtlich der begehrten asylrechtlichen Schutzansprüche statthaft und in Anknüpfung an die Zustellung des angegriffenen Bescheides auch innerhalb der zweiwöchigen Klagefrist des § 74 Abs. 1 1. Hs. AsylG (dieses hier in der früheren Fassung) rechtzeitig erhoben worden.

4.

Die Klage hat mit dem Hauptantrag Erfolg: der angegriffene Bescheid vom 9. Februar 2017 erweist sich in Ansehung aller bei Schluss der mündlichen Verhandlung zu Tage liegenden Umstände (§ 77 Abs. 1 1. Hs. AsylG) als rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, da er die Voraussetzungen bereits einer Asylanerkennung nach Art. 16a Abs. 1 GG erfüllt (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).

Nach der genannten Vorschrift genießen politisch Verfolgte Asylrecht. Der Kläger ist ein solcher politisch Verfolgter, da er wegen der nach den Maßstäben des nationalen Asylgrundrechts in seinem Fall maßgeblichen Kriterien der Menschenwürde in seinem Herkunftsland aufgrund seiner Homosexualität mit schlechthin unzumutbaren staatlichen und nichtstaatlichen Handlungen zu rechnen hat, was sich im Rahmen der Würdigung aller erkennbaren Gesamtumstände als menschenunwürdige Verfolgung darstellt.

a)

Das Gericht ist zunächst zur vollen Überzeugung gelangt, dass es sich bei dem Kläger um einen homosexuell veranlagten und gemäß seiner Veranlagung lebenden Menschen handelt, dessen sexuelle Identität für ihn prägend ist. Die bereits während der Bundesamtsanhörung geschilderten diesbezüglichen Umstände einschließlich seiner Promiskuität und der HIV-Infektion als Folge seiner von der eigenen sexuellen Identität bestimmten Lebensweise spiegeln sich glaubhaft in seiner schon zu Beginn des Deutschlandaufenthalts entfalteten Tätigkeit bei einem mit der Beratung sexueller Minderheiten und Jugendlicher befassten Verein sowie insbesondere in seinen Kontakten zur Berliner Aidshilfe wider und sind durch seine Angaben während der informatorischen Befragung in der mündlichen Verhandlung in stimmiger Weise weiter konkretisiert worden, vor allem emotionell getragen - was ausweislich seiner körperlichen Reaktionen im Zusammenhang mit (vermeintlich) peinlichen Details besonders glaubhaft wirkt. Insoweit kann es für die weitere Überzeugungsbildung des Gerichts offen bleiben, ob und inwieweit die Ausreise des Klägers trotz der angeblich monatelangen Drangsalierungen durch den Vater des kurzfristigen Sexualpartners („N...“) von langer Hand vorbereitet worden war, zumal der Kläger der Ausländerbehörde eine erste Bescheinigung der Berliner Aidshilfe bereits vom Tag seiner Ankunft in Deutschland hat vorlegen lassen. Der Kläger hat plausibel machen können, dass seine Ankunft sowie das weitere Prozedere mit Blick auf ein asylbedingtes dauerhaftes Bleiberecht schon von Moskau aus über den Kontakt zu einem Landsmann, der in Berlin lebte, vorbereitet war, zumal er habe sicherstellen wollen, seine HIV-Medikation angesichts einer fehlenden Krankenversicherung fortsetzen zu können. Auch hat er in diesem Zusammenhang den Wunsch nach einer möglichst zügigen Arbeitsaufnahme in seinem nach eigener Kenntnis nachgefragten Berufsfeld genannt, der allerdings nicht ausreisebestimmend gewesen sei. Das Gericht hat den Eindruck eines authentischen und aufrichtigen Mannes gewonnen, dessen sexuelle Identität Grund für seine auf die Russische Föderation gemünzten Verfolgungsängste ist.

b)

Ungeachtet des vom Kläger in den Fokus seiner behaupteten Verfolgungsgefahr gerückten Vaters von „N...“, eines mit dem FSB in Verbindung zu bringenden Erpressers, der dem Kläger unter dem Vorwand eines Drogenmissbrauchs Straftaten habe anhängen wollen und ihn um enorme Summen Geldes zu erpressen gesucht habe, geht das Gericht davon aus, dass - wenngleich nicht schon alle homosexuell veranlagte Menschen - jedenfalls Personen in der Situation des Klägers in der Russischen Föderation politische Verfolgung zu gewärtigen haben. Deshalb kann es dahingestellt bleiben, ob schon von einer sog. Gruppenverfolgung „der Homosexuellen“ in der Russischen Föderation ausgegangen werden kann, was das Bundesamt der Sache nach verneint; auf die Bescheidgründe wird verwiesen (vgl. dazu unter Berücksichtigung der aktuelleren Entwicklungen auch VG Lüneburg, Urteil vom 9. März 2022 - 2 A 256/18 - juris Rn. 45). Denn der Kläger hat unter den seinen Einzelfall kennzeichnenden Umständen mit einer sog. Einzelverfolgung zu rechnen.

Zur inhaltlichen Bestimmung des Begriffs der politischen Verfolgung i.S.v. Art. 16a Abs. 1 GG ist auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts abzustellen.

Danach liegt dem Asylgrundrecht allgemein die von der Achtung der Unverletzlichkeit der Menschenwürde bestimmte Überzeugung zugrunde, dass kein Staat das Recht hat, Leib, Leben oder die persönliche Freiheit des Einzelnen aus Gründen zu gefährden oder zu verletzen, die allein in seiner politischen Überzeugung, seiner religiösen Grundentscheidung oder in für ihn unverfügbaren Merkmalen liegen, die sein Anderssein prägen (asylerhebliche Merkmale); von dieser Rechtsüberzeugung ist das grundgesetzliche Asylrecht maßgeblich bestimmt.

Das Attribut „politisch" in Art. 16a Abs. 1 GG meint nicht einen gegenständlich abgegrenzten Bereich von Politik, sondern kennzeichnet eine Eigenschaft oder Qualität, die Maßnahmen in jedem Sachbereich unter bestimmten Umständen jederzeit annehmen können. Eine notwendige Voraussetzung dafür, dass eine Verfolgung sich als eine politische darstellt, liegt darin, dass sie im Zusammenhang mit Auseinandersetzungen um die Gestaltung und Eigenart der allgemeinen Ordnung des Zusammenlebens von Menschen und Menschengruppen steht, also - im Unterschied etwa zu einer privaten Verfolgung - einen öffentlichen Bezug hat, und von einem Träger überlegener, in der Regel hoheitlicher Macht ausgeht, der der Verletzte unterworfen ist.

Politische Verfolgung ist somit grundsätzlich staatliche Verfolgung. Dies ergibt sich aus Entstehungsgeschichte und Zielsetzung des Grundrechts. Es kommen daneben auch Verfolgungsmaßnahmen Dritter als politische Verfolgung in Betracht. Dies setzt allerdings voraus, dass sie dem jeweiligen Staat zuzurechnen sind. Hierfür kommt es darauf an, ob der Staat den Betroffenen mit den ihm an sich zur Verfügung stehenden Mitteln Schutz gewährt. Es begründet die Zurechnung, wenn der Staat zur Schutzgewährung entweder nicht bereit ist oder wenn er sich nicht in der Lage sieht, die ihm an sich verfügbaren Mittel im konkreten Fall gegenüber Verfolgungsmaßnahmen bestimmter Dritter, insbesondere etwa solchen des staatstragenden Klerus oder der staatstragenden Partei, (hinreichend) einzusetzen (vgl. zu alledem BVerfG, Beschluss vom 10. Juli 1989 - 2 BvR 502/86 u.a. - juris Rn. 40 ff. m.w.N.).

Hieran gemessen drohen dem Kläger in seinem Herkunftsland teils durch staatliche Regelungen inszenierte, teils durch staatlicherseits geduldete zivilgesellschaftliche Verhältnisse verursachte einschneidende Repressionen allein wegen der von seiner Menschenwürde umfassten geschlechtlichen Veranlagung, die er unter Respektierung allgemeiner ziviler Standards - wie des Verbots entsprechender Beziehungen zu Minderjährigen, wie der Kläger von sich aus beiläufig erwähnt hat - frei leben möchte.

Unter Berücksichtigung der auf zahlreiche Auskunftsquellen gestützten Ausführungen zu sexuellen Minderheiten in der BFA-Länderinformation vom 10. Oktober 2022 (dort S. 88 - 90) muss davon ausgegangen werden, dass die - unter dem Einfluss der staatlich inszenierten Propaganda wegen des völkerrechtswidrigen Angriffs Russlands auf die Ukraine noch einmal verstärkt - staatlich zumindest hingenommene repressive Stimmung - auch - gegen sexuelle Minderheiten von weiten Kreisen der Zivilbevölkerung getragen und vom russisch-orthodoxen Klerus besonders unterstützt wird, wonach mit einer Vielzahl gezielter rechtlicher Einzelregelungen Homosexuelle einer gesellschaftlichen Ächtung und im Alltagsleben in vielen Angelegenheiten Diskriminierungen ausgesetzt sind. Unter solchen Umständen drohen ihnen gewalttätige Übergriffe insbesondere durch nichtstaatliche Dritte, die entsprechend dem erkennbaren staatlichen Repressionskonzept kaum bis gar nicht effektiv durch Strafverfolgungsbehörden geahndet werden und ist eine freizügige Lebensführung, wie sie der Kläger für sich nach seiner Ankunft in der homosexuellen Szene von Berlin entdeckt hat, unvorstellbar.

Zwar geht der angegriffene Bescheid zu Recht davon aus, dass sich die Lage homosexueller Menschen in der Russischen Föderation in den einzelnen Teilrepubliken unterschiedlich darstellt und dass die - bei Erlass des Bescheides aktuelle - Berichterstattung punktuelle Ereignisse in den Vordergrund rückte. Freilich hat sich die rechtliche und gesellschaftspolitische Situation der sexuellen Minderheiten seitdem deutlich zu ihrem Nachteil verschlechtert. So wird laut dem Menschenrechtsbericht des USDoS vom 12. April 2022 (dort S. 83 - 86) nunmehr von gezielten Übergriffen staatlich Bediensteter gegen LGBTQI+-Menschen sowie unterlassener polizeilicher Hilfe gegen zivilgesellschaftliche Übergriffe und von einer neuen homophoben Medienkampagne berichtet. Auch ein Fall von unterstellter Drogenkriminalität - wie ihn der Kläger in seiner Bundesamtsanhörung vortrug - wird dort für 2021 berichtet, und dazu, dass die meisten Betroffenen ihre sexuelle Identität zu verbergen suchen, um ihre Arbeit und Wohnung nicht zu verlieren und keiner Gewalt ausgesetzt zu werden.

Unter diesen Umständen droht dem unzweifelhaft vorverfolgten Kläger, dessen Homosexualität im Zusammenhang mit der Aufdeckung seiner HIV-Infektion an seinem Arbeitsplatz bekannt geworden war, den er darum durch Kündigung verlor, in der Russischen Föderation mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung. Er lebt seine Identität freizügig und intensiv, was in einem Umfeld, das sich als zunehmend homophob darstellt, kaum umzusetzen sein wird. Dass er seinen Eltern und dem Bruder von seiner Homosexualität nichts berichtet hat, macht ihn nicht unglaubwürdig, sondern passt angesichts der von ihm geschilderten homophoben Einstellung seiner Angehörigen ins allgemeine Bild der Verhältnisse im Herkunftsland.

Der Kläger kann nach dem aufgezeigten Befund der Situation in der Russischen Föderation auch nicht auf eine inländische Fluchtalternative verwiesen werden. Allein seine HIV-Infektion mit der schon hiermit einhergehenden Stigmatisierung (vgl. dazu USDoS a.a.O. S. 82) legt ein Bekanntwerden seiner sexuellen Präferenz nahe, nachdem er bereits einmal seinen Arbeitsplatz in diesem Zusammenhang verloren hat. Unabhängig davon, ob ihm die Angaben zur Verfolgung durch den dem FSB zuzurechnenden Vater „N...“ geglaubt werden können, dessen Netzwerke womöglich überall in der Russischen Föderation aktiviert und auf den Kläger angesetzt werden könnten, befindet er sich mit seiner konkreten identitätsprägenden Lebensweise in einer exponierten Situation, so dass ihn staatliche Stellen wie der Mob überall in der Russischen Föderation angesichts der allgegenwärtigen homophoben Lage beachtlich wahrscheinlich als Ziel von unzumutbaren Übergriffen ausmachen werden.

5.

Ist der Kläger hiernach als Asylberechtigter anzuerkennen, kommt einer zusätzlichen Zuerkennung des Flüchtlingsstatus´ keine praktische Bedeutung mehr zu (Hailbronner, Ausländerrecht, Dezember 2022, Rn. 3 zu I. Allgemeines; BVerwG, Beschluss vom 16. September 2015 - 1 B 36/15 - juris Rn. 5), so dass ein hierauf bezogenes Rechtsschutzbedürfnis fehlt. Zugleich erweisen sich die weiteren (Folge-) Regelungen in Ziffern 3 bis 6 des angegriffenen Bescheides als rechtswidrig.

6.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO und § 83b AsylG; die weiteren Nebenentscheidungen beruhen auf § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.