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Entscheidung 72 XIV 12/22


Metadaten

Gericht AG Frankfurt (Oder) Einzelrichter Entscheidungsdatum 20.12.2022
Aktenzeichen 72 XIV 12/22 ECLI ECLI:DE:AGFF:2022:1220.72XIV12.22.00
Dokumententyp Beschluss Verfahrensgang -
Normen

Leitsatz

Das Tatbestandsmerkmal „von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit“ in § 17 Abs. 1 Nr. 2 Halbsatz 1 Brandenburgisches Polizeigesetz (BbgPolG) bezieht sich in der zitierten Vorschrift allein auf die zu verhindernden Ordnungswidrigkeiten, während für einen Gewahrsam zur Ver-hinderung von Straftaten tatbestandlich jede Straftat, gleich welcher Wertigkeit in System der Strafrechtsordnung, ausreicht (hier: Tätliche Beleidigung im Sinne des § 185 StGB). 

Tenor

1. Gegen die Betroffene wird zur Fortdauer des polizeilichen Gewahrsams die Zulässigkeit des bisherigen polizeilichen Gewahrsams festgestellt und der weitere polizeiliche Gewahrsam bis 21. Dezember 2022 um 05.00 Uhr einschließlich angeordnet.

Der Gewahrsam ist durch die Polizei in eigener Verantwortung sofort zu beenden, wenn die Freiheitsentziehung vor dem genannten Zeitpunkt nicht mehr erforderlich ist.

2. Die sofortige Wirksamkeit der Entscheidung wird angeordnet.

3. Die Betroffene hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Gründe

I.

Die Polizei hat die Betroffene am 20.12.2022 erstmals um 18.00 Uhr in Gewahrsam genommen und hat sodann um 19.52 Uhr die gerichtliche Entscheidung über Zulässigkeit und Fortdauer der Freiheitsentziehung „zur Durchsetzung eines Platzverweises oder Aufenthaltsverbots“ bis 21.12.2022 um 05.00 Uhr beantragt; zur Begründung heißt es in dem Antrag: „Die Betroffene randalierte in der Rettungsstelle des Klinikums, so dass sich der Oberarzt veranlasst sah, die Polizei zu verständigen. Trotz mehrfach ausgesprochenem Platzverweis kam die Beschuldigte diesem nicht nach. Weiterhin beleidigte sie die eingesetzten Beamten mehrfach. Die Betroffene ließ sich nicht beruhigen und zeigte sich nicht willens, den Anordnungen der Polizeibeamten Folge zu leisten. Weiterhin trat sie diesen hoch aggressiv gegenüber und ließ kein normales Gespräch zu.“

Das Gericht hat diesen ersten Antrag im Verfahren 72 XIV 11/12 gegen 20.00 Uhr telefonisch gegenüber der Polizeibehörde abgelehnt; der Polizeigewahrsam war jedenfalls im Zeitpunkt der Antragstellung unverhältnismäßig. Die Betroffene war von der Polizei vom Gelände des Klinikums an einen anderen Ort, das Polizeirevier Frankfurt (Oder), welches über einen Kilometer vom Klinikum entfernt ist, verbracht worden und es ergaben sich keine Umstände tatsächlicher Art, die, was zu verhindern Gegenstand der Platzverweisung war, für eine Rückkehr der Betroffenen in die Rettungsstelle sprachen. Infolge der gerichtlichen Entscheidung wurde der Gewahrsam beendet.

Die Polizei hat die Betroffene am 20.12.2022 nach 20.00 Uhr wieder in Gewahrsam genommen, der im Zeitpunkt der Antragstellung in vorliegender Sache bei Gericht im Polizeirevier Frankfurt (Oder) vollzogen wurde, und hat gegen 21.00 Uhr die gerichtliche Entscheidung über Zulässigkeit und Fortdauer der Freiheitsentziehung „zur Verhinderung einer unmittelbar bevorstehenden Begehung oder Fortsetzung einer Straftat“ bis 21.12.2022 um 05.00 Uhr beantragt; zur Begründung heißt es in dem Antrag: „Die o. g. Person wurde auf richterliche Weisung aus dem polizeilichen Gewahrsam entlassen. Bei der Verbringung der o. g. Person aus dem Gewahrsam, vor dem Dienstgebäude beleidigte diese die Beamten als Wichser und Pisser und bespuckte einen Beamten. Zur Verhinderung weiterer Straftaten wurde die Beschuldigte erneut ins polizeiliche Gewahrsam genommen. … Da die Beschuldigte innerhalb kürzester Zeit mehrere Straftaten zum Nachteil von Polizeibeamten beging und keinerlei Unrechtsbewusstsein zeigte, sowie ihr hoch aggressives Verhalten gegenüber anderen Personen weiterhin fortsetzte, begründen diese Tatsachen die Annahme, dass es zu weiteren Straftaten der Beschuldigten kommen könnte.“

Die gerichtliche Anhörung der Betroffenen ist kurz nach 21.00 Uhr in einer Gewahrsamszelle im Polizeirevier erfolgt. Das Gericht hat der Betroffenen den Sachverhalt erläutert und den schriftlichen Haftantrag, der nur wenige Sätze umfasst, mitgeteilt. Die Betroffene lag in der Zelle auf dem Boden, blieb dort liegen und äußerte sich nicht zur Sache.

Die Beschlussformel ist ihr und anwesenden Polizeibeamten gegenüber nach erfolgter Anhörung um 21.11 Uhr verlesen worden.

II.

I. Die Voraussetzungen für die Ingewahrsamnahme der Betroffenen und deren Fortdauer lagen vor. Die Fortdauer der Freiheitsentziehung wird längstens bis zu dem in der Beschlussformel angegebenen Zeitpunkt angeordnet, weil dies zur Abwehr der Gefahr unerlässlich ist. Weniger beeinträchtigende Maßnahmen, die die Freiheitsentziehung entbehrlich machen könnten, sind nicht ersichtlich.

1. Die rechtlichen Voraussetzungen für die in Rede stehende Maßnahme sind dem Polizeirecht des Landes Brandenburg zum sog. Unterbindungsgewahrsam zu entnehmen.

Die Polizei kann gemäß § 17 Abs. 1 Nr. 2 Halbsatz 1 Brandenburgisches Polizeigesetz (BbgPolG) eine Person unter anderem in Gewahrsam nehmen, wenn das unerlässlich ist, um die unmittelbar bevorstehende Begehung oder Fortsetzung einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit, die hinsichtlich ihrer Art und Dauer geeignet ist, den Rechtsfrieden nachhaltig zu beeinträchtigen, zu verhindern.

Mit den Begriffen „Straftat“ und „Ordnungswidrigkeit“ ist jeweils ein Verhalten gemeint, das den Tatbestand einer Straf- oder Bußgeldvorschrift erfüllt und rechtswidrig ist, weshalb es für die Erfüllung dieser Voraussetzungen des Eingriffstatbestandes, bei dem es um eine präventive Freiheitsentziehung geht, die nicht einem Schuldausgleich, sondern der Gefahrenabwehr dient, unerheblich ist, ob die Tat schuldhaft begangen wurde bzw. wird (vergleiche zu der vergleichbaren Vorschrift des § 35 Abs. 1 Nr. 2 im Polizeigesetz des Landes Nordrhein-Westfalen: BeckOK PolR NRW, Bearbeiter Basteck, 23. Edition, Stand: 01.09.2022, PolG NRW § 35 Rn. 38, zitiert nach beck-online).

Das Tatbestandsmerkmal „von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit“ bezieht sich in der zitierten Vorschrift allein auf die zu verhindernden Ordnungswidrigkeiten, während für einen Gewahrsam zur Verhinderung von Straftaten tatbestandlich jede Straftat, gleich welcher Wertigkeit in System der Strafrechtsordnung, ausreicht (vergleiche dazu die bereits zitierte Kommentierung zum PolG NRW § 35 Rn. 44)

Die Annahme, dass eine Person bei objektiv und ex ante vorzunehmender Prognose eine solche Tat begehen oder zu ihrer Begehung beitragen wird, kann sich nach § 17 Abs. 1 Nr. 2 Halbsatz 2 Buchstabe c) BbgPolG insbesondere darauf stützen, dass sie bereits in der Vergangenheit aus vergleichbarem Anlass bei der Begehung von Straftaten als Störer betroffen worden ist und nach den Umständen eine Wiederholung dieser Verhaltensweise zu erwarten ist.

2. Hiervon ausgehend war der formell ordnungsgemäße Antrag der Polizeibehörde begründet; der Polizeigewahrsam zur Verhinderung von Straftaten war zulässig und die Fortdauer für weitere gut sieben Stunden in der angebrochenen Nacht ist rechtmäßig. Alle materiellen Voraussetzungen der Maßnahme liegen während der gesamten Dauer des freiheitsentziehenden polizeilichen Handelns vor und die spezifischen verfahrensrechtlichen Sicherungen sind eingehalten. Im Einzelnen bedarf insoweit Folgendes der Erläuterung:

Die Annahme einer Begehung weiterer Straftaten der Beleidigung nach § 185 des Strafgesetzbuches (StGB), auch in der qualifizierten Form der tätlichen Beleidigung, und zwar nicht nur gegenüber Polizeibeamten, sondern auch zum Nachteil von unbeteiligten Passanten außerhalb des Polizeireviers, war ausgehend von der objektiv und ex ante vorzunehmenden Prognose des weiteren Geschehensablaufs zu erwarten, insbesondere deshalb, weil sich die Betroffene sowohl in der Rettungsstelle im Klinikum als auch nach vorübergehender Aufhebung des polizeilichen Gewahrsams so verhalten hatte, ihr Randalieren in der Rettungsstelle und das Bespucken eines Polizeibeamten am Polizeirevier legt gerade auch die Gefahr von Tätlichkeiten nahe.

Die Anhörung der Betroffenen hat keine Anhaltspunkte dafür erschlossen, die zu einem für sie günstigen Ergebnis der Prognose führen könnten. Eine Äußerung der Betroffenen dahin, von dem dargestellten Verhalten im Fall einer Freilassung abzusehen, konnte im Rahmen des gerichtlichen Verfahrens nicht erlangt werden. Im Verlauf der persönlichen Anhörung der Betroffenen im Polizeigewahrsam ist zudem durch ihr bereits geschildertes Verhalten in der Gewahrsamszelle der Eindruck entstanden, dass die Betroffene sich in einem Zustand psychischer Beeinträchtigung der Einsichtsfähigkeit bzw. der Steuerungsfähigkeit befand, wobei nicht geklärt werden konnte, weshalb das so war. Umstände dafür, dass sie von weiteren Straftaten abzusehen gewillt war, haben sich nicht ergeben.

Der beschriebene Zustand der Betroffenen bestärkt zudem die Annahme, dass weitere Straftaten zu erwarten waren, und rechtfertigt zudem die vorgesehene Dauer des Gewahrsams, um der Betroffenen die Gelegenheit zu geben, über die Nacht wieder zu sich selbst zu finden.

Die Gefahrenabwehr war nur auf die erfolgte Weise möglich und nicht durch eine andere Maßnahme ersetzbar. Die Möglichkeit, die Betroffene an einen Schutzort außerhalb des Polizeireviers zu bringen, war nicht gegeben. Das Klinikum hatte es, wie bereits erläutert, abgelehnt, die Betroffene als Patientin aufzunehmen. Eine Wohnung oder andere Unterkunft der Betroffenen in näherer Umgebung des aktuellen Aufenthaltsortes der Betroffenen konnte nicht ermittelt werden, ihre bekannte Anschrift lautet auf einen Ort in Bayern im oberbayerischen Landkreis Pfaffenhofen an der Ilm.

Auch im Übrigen erweist sich die Maßnahme als rechtmäßig, weshalb dem Antrag der Polizeibehörde durch das Gericht in Wahrnehmung eigener Verantwortung für die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung zu entsprechen war.

II. Die Entscheidung über die sofortige Wirksamkeit beruht auf § 18 Abs. 2 Satz 2 BbgPolG in Verbindung mit § 422 Abs. 2 des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG).

III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 18 Abs. 1 Satz 3 BbgPolG in Verbindung mit § 81 Abs. 1 Satz 2 FamFG.

IV. Die Einrichtung einer Verfahrenspflegschaft nach § 18 Abs. 2 Satz 2 BbgPolG in Verbindung mit § 419 Abs. 1 Satz 1 FamFG, wonach eine solche Pflegschaft angeordnet werden muss, wenn dies zur Wahrnehmung der Interessen der betroffenen Person erforderlich ist, unterbleibt, weil die Freiheitsentziehung (bei erfolgter Anhörung der Betroffenen und nach Bekanntgabe der Entscheidung an diese) mit gut acht Stunden von kurzer Dauer ist und eine für die Übernahme einer Pflegschaft geeignete Person während Nachtzeit, in der das gesamte Verfahren einschließlich des Vollzugs der Maßnahme abläuft, erfahrungsgemäß nicht zur Verfügung steht.