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Grundsatzrüge - grundsätzliche Bedeutung - Verallgemeinerungsfähigkeit - Internationaler Schutz in einem EU-Mitgliedstaat - Sekundärmigration - Rückführung in den EU-Mitgliedstaat - Verhältnisse im Staat der Erstantragstellung - Verelendung -Umstände des Einzelfalles


Metadaten

Gericht OVG Berlin-Brandenburg 3. Senat Entscheidungsdatum 03.04.2023
Aktenzeichen OVG 3 N 18/23 ECLI ECLI:DE:OVGBEBB:2023:0403.OVG3N18.23.00
Dokumententyp Beschluss Verfahrensgang -
Normen § 78 Abs 3 Nr 1 AsylVfG 1992, Art 4 EUGrundrCharta

Leitsatz

Die Tatsachenfrage, ob Klägern, denen in einem anderen EU-Mitgliedstaat internationaler Schutz gewährt worden ist, in dessen Mitgliedstaat bei einer Rückkehr oder Rückführung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh drohen, kann Gegenstand einer Grundsatzrüge nach § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG sein.

Tenor

Der Antrag der Kläger auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Potsdam vom 17. Januar 2023 wird abgelehnt.

Die Kosten des Zulassungsverfahrens tragen die Kläger.

Gründe

Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.

I. Mit seiner nach § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG allein maßgeblichen Begründung zeigt das Rechtsmittel keine durchgreifenden Zulassungsgründe im Sinne von § 78 Abs. 3 AsylG auf, sondern beschränkt sich darauf, nach Art einer Berufungsbegründung auszuführen, dass die Entscheidung des Verwaltungsgerichts unzutreffend sei und das Recht der Kläger auf Asyl verletze. Damit sinngemäß geltend gemachte ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) gehören indessen nicht zu den in § 78 Abs. 3 AsylG für Streitigkeiten nach dem Asylgesetz abschließend aufgeführten Zulassungsgründen.

Unterstellt man zugunsten der Kläger, dass sie mit den Ausführungen zum Recht auf Unterkunft oder Unterbringung in Italien, wo ihnen nach den Feststellungen der Beklagten internationaler (Flüchtlings-)Schutz gewährt wurde, und den hierzu angeführten Gerichtsentscheidungen und Erkenntnissen aus den Jahren 2019 und 2020 sinngemäß grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) geltend machen, fehlt es bereits an der für die Darlegung dieses Zulassungsgrundes erforderlichen Formulierung einer entscheidungserheblichen und über den Einzelfall hinaus klärungsbedürftigen und -fähigen Rechts- oder Tatsachenfrage.

Sollte sich aus Sicht der Kläger eine solche Tatsachenfrage hinsichtlich der Möglichkeit stellen, in Italien eine Unterkunft zu finden, bedürfte es zudem zur Darlegung der Klärungsbedürftigkeit der Angabe konkreter Anhaltspunkte dafür, dass die - entscheidungserhebliche - Tatsachenfrage etwa im Hinblick auf vom Verwaltungsgericht nicht berücksichtigte gegensätzliche Auskünfte oder abweichende obergerichtliche Entscheidungen möglicherweise anders zu würdigen ist. Diesen Anforderungen wird das Zulassungsvorbringen jedenfalls deshalb nicht gerecht, weil es sich nicht mit den von dem Verwaltungsgericht für seine Auffassung angeführten Entscheidungen und den darin gewürdigten (einschlägigen) Erkenntnissen auseinandersetzt (vgl. VGH Mannheim, Beschluss vom 8. November 2021 - A 4 S 2850/21 - juris Rn. 9 ff.; OVG Greifswald, Urteil vom 19. Januar 2022 - 4 LB 68/17 - juris Rn. 22 ff.; OVG Saarlouis, Urteil vom 15. Februar 2022 - 2 A 46/21 - juris Rn. 22 ff.; OVG Bautzen, 15. März 2022 - 4 A 506/19.A - juris Rn. 46 ff.).

II. Ungeachtet dessen hält es der Senat – auch angesichts der divergierenden Rechtsprechung innerhalb des OVG Berlin-Brandenburg – für angebracht darauf hinzuweisen, dass er an seiner ständigen Entscheidungspraxis in asylrechtlichen Zulassungsverfahren, in denen es um Sekundärmigration betreffende Grundsatzrügen geht, festhält. Danach kann der Tatsachenfrage, ob einem Kläger, dem in einem anderen EU-Mitgliedstaat internationaler Schutz gewährt worden ist, in diesem Mitgliedstaat bei seiner Rückkehr oder Rückführung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh droht, grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG zukommen.

Soweit teilweise die Auffassung vertreten wird, die Beantwortung dieser Frage sei keiner allgemeinen Klärung zugänglich, weil sie (stets) von den Umständen des Einzelfalles, nämlich einer Vielzahl von individuellen Umständen und Faktoren, abhänge (so z.B. in Bezug auf Italien OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 15. März 2022 – OVG 6 N 35/22 – juris; Beschluss vom 19. Mai 2022 – OVG 12 N 67/21 – nicht veröffentlicht; Beschluss vom 16. Dezember 2022 – OVG 1 N 91/21 – nicht veröffentlicht; ferner OVG Saarlouis, Beschluss vom 2. September 2020 – 2 A 74/20 – juris Rn. 14 f.; in Bezug auf Bulgarien OVG Saarlouis, Beschluss vom 13. April 2022 – 2 A 13/22 – juris Rn. 12 f.; in Bezug auf Italien und Art. 3 EMRK OVG Koblenz, Beschluss vom 31. August 2020 – 7 A 11602/19.OVG – juris Rn. 11; in Bezug auf Griechenland VGH München, Beschluss vom 14. März 2022 – 24 ZB 21.30317 - juris), folgt der Senat dem nicht (im Ergebnis ebenso z.B. VGH Kassel, Beschluss vom 8. Dezember 2020 – 5 A 2391/18.Z.A – juris). Diese These sowie die daraus abgeleitete Annahme, die Frage lasse sich nicht abstrakt und allgemein (für die in einen EU-Mitgliedstaat zurückkehrenden Schutzberechtigten) klären, berücksichtigt zunächst nicht hinreichend, dass ein nicht (mehr) von individuellen Umständen abhängiger Verstoß gegen Art. 4 GRCh schon denklogisch nicht ausgeschlossen ist, sodass eine Verallgemeinerungsfähigkeit gegeben sein kann. Die Behauptung, alles hänge stets (nur) von den individuellen Umständen des Einzelfalles ab, setzt bereits eine Verneinung der Frage voraus, ob die tatsächlichen Verhältnisse für sämtliche Rückkehrer in dem Mitgliedstaat der ersten Asylantragstellung eine Situation extremer materieller Not bedeuten, aufgrund derer die beachtliche Wahrscheinlichkeit eines Verstoßes gegen Art. 4 GRCh für jede Rückführung besteht. Die Beantwortung – Bejahung oder Verneinung der Frage - erfordert eine auf Erkenntnismittel gestützte Bewertung der tatsächlichen Situation im Staat der ersten Asylantragstellung, die im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG grundsätzlich nicht im Berufungszulassungsverfahren vorweggenommen werden darf.

Die mit einer solchen Würdigung verbundene Problematik wird in der zulassungsrechtlichen obergerichtlichen Rechtsprechung z.B. deutlich, wenn dort angenommen wird, es bedürfe (u.a.) deshalb einer individuellen Betrachtung, weil die ökonomischen und sozialen Verhältnisse in Italien nicht homogen seien, sondern je nach dem Ort der Rückkehr voneinander abwichen (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 15. März 2022 – OVG 6 N 35/22 - juris Rn. 32). Hierbei handelt es sich nicht mehr um eine offenkundige Tatsache, sondern es müsste bereits im Berufungszulassungsverfahren erläutert werden, um welche unterschiedlichen Verhältnisse es geht, und es bedürfte zudem einer durch offengelegte Erkenntnisse abgesicherten Erläuterung, inwieweit sich diese unterschiedlichen Verhältnisse auf Rückkehrer auswirken.

Soweit die eine generelle Klärungsfähigkeit verneinende obergerichtliche Rechtsprechung darauf verweist, dass auch der Europäische Gerichtshof von einer Einzelfallbetrachtung ausgehe und das ernsthafte Risiko einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung „für diesen Antragsteller“ fordere, weil „er“ sich im Fall der Überstellung unabhängig „von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen“ in einer Situation extremer materieller Not befände (so OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 15. März 2022 – OVG 6 N 35/22 – juris Rn. 32; OVG Saarlouis, Beschluss vom 2. September 2020 – 2 A 74/20 – juris Rn. 15), folgt daraus nichts anderes. Auch wenn die konkrete Situation eines Rückkehrers in den Blick genommen werden muss, lässt sich aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes nicht zwingend die Annahme ableiten, die im Einzelfall zu betrachtenden Verhältnisse im Staat der Asylerstantragstellung könnten sich nicht zugleich für alle Rückkehrende als Situation extremer materieller Not darstellen. Abgesehen davon lässt sich der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs auch entnehmen, dass er mit Art. 4 GRCh unvereinbare systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen in einem bestimmten Mitgliedstaat für möglich hält und insoweit eine Prüfung durch den Mitgliedstaat der Sekundärmigration verlangt (vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 – C-297/17 u.a. - juris Rn. 88; Urteil vom 19. März 2019 – C-163/17 – juris Rn. 90).

Dem steht ferner nicht entgegen, dass auch das Bundesverwaltungsgericht bei der Prüfung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 AufenthG, Art. 3 EMRK für im Ausland anerkannte Flüchtlinge eine „Würdigung aller Umstände des Einzelfalles“ fordert (vgl. BVerwG, Beschluss vom 8. August 2018 – 1 B 25/18 – juris Rn. 11). Damit soll lediglich sichergestellt werden, dass auch bei einer generell drohenden Verelendung für alle Rückkehrenden Besonderheiten berücksichtigt werden, die ausnahmsweise Abweichendes zur Folge haben, d.h. der Einzelfall muss zusätzlich mitbedacht werden. Enthält das erstinstanzliche Urteil insoweit jedoch keine Anhaltspunkte, steht dieser Aspekt einer Verallgemeinerungsfähigkeit nicht im Wege (vgl. dazu z.B. den Leitsatz des OVG Bautzen, Urteil vom 27. April 2022 – 5 A 492/21 A – juris: „Für in Griechenland anerkannte Schutzberechtigte besteht vorbehaltlich besonderer Umstände des Einzelfalls die ernsthafte Gefahr, dass sie im Falle ihrer Rückkehr nach Griechenland ihre elementarsten Bedürfnisse über einen absehbaren Zeitraum nicht befriedigen können und damit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh und Art. 3 EMRK erfahren.“).

Nach alledem hält der Senat die Rechtsprechung derjenigen Oberverwaltungsgerichte für zutreffend, die in Berufungsverfahren Leitsätze zur allgemeinen Situation von zurückkehrenden international Schutzberechtigten in bestimmte EU-Mitgliedstaaten formulieren und damit verdeutlichen, dass die in diesem Zusammenhang aufgeworfene Frage nach einem Verstoß gegen Art. 4 GRCh abstrakt und allgemein - in die eine oder die andere Richtung - beantwortet werden kann und einer grundsätzlichen Klärung zugänglich ist (vgl. z.B. in Bezug auf Bulgarien OVG Bautzen, Urteil vom 7. September 2022 – 5 A 153/17.A – juris; OVG Lüneburg, Urteil vom 7. Dezember 2021 – 10 LB 257/20 – juris; VGH Kassel, Urteil vom 26. Oktober 2021 – 8 A 1852/20.A – juris; in Bezug auf Rumänien OVG Münster, Beschluss vom 25. August 2022 – 11 A 861/20.A – juris; in Bezug auf Griechenland OVG Münster, Beschluss vom 5. April 2022 – 11 A 314/22.A – mit Leitsatz 3; VGH Mannheim, Urteil vom 27. Januar 2022 – A 4 S 2443/21 – juris; OVG Bremen, Urteil vom 16. November 2021 – 1 LB 371/21 - juris; in Bezug auf Italien OVG Greifswald, Urteil vom 19. Januar 2022 – 4 LB 135/17 – juris; zur Rechtsprechung des Senats vgl. z.B. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 23. November 2021 – OVG 3 B 53.19 – juris [Griechenland] und Urteil vom 22. September 2020 – OVG 3 B 33.19 – juris [Bulgarien]).

Im Übrigen bleibt anzumerken, dass der 2. Senat des OVG Saarlouis seiner eigenen Rechtsprechung zur nicht möglichen Verallgemeinerungsfähigkeit widersprochen hat, indem er in einem kürzlich entschiedenen Berufungsverfahren zu dem Ergebnis gekommen ist, dass nach Griechenland zurückkehrende Personen mit internationalem Schutzstatus … dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit elementarste Bedürfnisse nicht befriedigen werden, sodass auch die Rückführung alleinstehender, gesunder und arbeitsfähiger Männer gegen Art. 3 EMRK, Art. 4 GRCh verstößt (OVG Saarlouis, Urteile vom 15. November 2022 – 2 A 81/22 - und – 2 A 82/22 – jeweils juris Rn. 20 ff.). Auch die beiden Leitsätze dieser Entscheidungen beziehen sich generell auf Flüchtlinge, denen in Griechenland internationaler Schutz zuerkannt worden ist, und zwar unabhängig von den Umständen und den persönlichen Verhältnissen des Einzelfalles. Damit greift das OVG Saarlouis seine frühere Rechtsprechung erneut auf, die ebenfalls von einer generellen Klärungsbedürftigkeit ausging (so z.B. OVG Saarlouis, Urteil vom 19. April 2018 – 2 A 741/17 – juris Rn. 26 zur Rückkehr von Schutzberechtigten nach Bulgarien im Hinblick auf Art. 3 EMRK; vgl. auch Leitsatz 5 dieses Urteils; vgl. auch OVG Saarlouis, Beschluss vom 12. März 2018 – 2 A 69/18 – juris Rn. 15 zur Überstellung von Asylbewerbern).

Wie die angeführte obergerichtliche Rechtsprechung zeigt, lässt sich ein differenziertes Vorgehen im Berufungszulassungsverfahren in Bezug auf die Klärungsfähigkeit nicht damit rechtfertigen, dass die Behandlung der Grundsatzrüge von länderspezifischen Umständen abhängt. Ob die Beantwortung der Frage, inwieweit eine Rückkehr gegen Art. 4 GRCh verstößt, positiv oder negativ ausfällt, lässt sich - bei unterstellter Erfüllung der Darlegungsanforderungen im Berufungszulassungsverfahren - regelmäßig erst im Berufungsverfahren als Ergebnis einer Prüfung klären, die Erkenntnisse einbezieht und bewertet. Anders kann es lediglich liegen, wenn schon das Verwaltungsgericht im erstinstanzlichen Verfahren allein auf bestimmte individuelle Faktoren abgestellt hat und die für grundsätzlich bedeutsam gehaltene allgemeine Frage aus der Sicht des angegriffenen Urteils zulassungsrechtlich nicht entscheidungserheblich ist.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG, § 152 Abs. 1 VwGO).