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Entscheidung 12 U 120/22


Metadaten

Gericht OLG Brandenburg 12. Zivilsenat Entscheidungsdatum 09.03.2023
Aktenzeichen 12 U 120/22 ECLI ECLI:DE:OLGBB:2023:0309.12U120.22.00
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen

Tenor

1. Auf die Berufung des Klägers wird das am 31.05.2022 verkündete Teilanerkenntnis- und Endurteil der 5. Zivilkammer - Einzelrichter - des Landgerichts Neuruppin, Az. 5 O 128/21, teilweise abgeändert.

Das Versäumnisurteil der 5. Zivilkammer - Einzelrichter - des Landgerichts Neuruppin vom 19.01.2022, Az. 5 O 128/21, wird aufgehoben.

Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger 4.509,54 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 15.05.2021 zu zahlen.

Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger ein weiteres Schmerzensgeld in Höhe von 350,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 09.10.2021 zu zahlen.

Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger einen Betrag in Höhe von 173,26 € zu zahlen.

Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, den Kläger von weiteren vorgerichtlich entstandenen Rechtsverfolgungskosten in Höhe von 398,18 € gegenüber der Kanzlei … Rechtsanwälte, … … Partnerschaftsgesellschaft H…, … …, 1… H…, freizustellen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen.

Von den Kosten des Rechtsstreits haben der Kläger 20 % und die Beklagten als Gesamtschuldner 80 % zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die zulässige, insbesondere form- und fristgerecht gemäß den § 517 ff. ZPO eingelegte Berufung des Klägers ist überwiegend begründet.

1.

Die Klage ist zulässig. Insbesondere ist der Klageantrag zu 1. hinreichend bestimmt im Sinne des § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO. Soweit der Kläger mit der Berufungsbegründung zunächst nur einen Betrag von 4.438,15 € geltend gemacht hat, der hinter der in erster Instanz zuletzt geltend gemachten Forderung zurückbleibt, hat der Kläger offensichtlich den in erster Instanz ausgeurteilten Zahlbetrag von 173,26 € auf den ursprünglichen, mit der Klage geltend gemachten Betrag von 4.611,41 € angerechnet, obwohl es sich bei dem ausgeurteilten Betrag nicht um materiellen Schadensersatz, sondern um Rechtsverfolgungskosten handelt, die somit von der Forderung aus dem Klageantrag zu 3. in Abzug zu bringen sind. Insoweit hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung den Antrag zu 1 richtig gestellt, was ohne weiteres zulässig ist.

2.

Die Klage ist überwiegend begründet. Dem Kläger steht gegen die Beklagten ein Anspruch auf Schadensersatz und Schmerzensgeld im Zusammenhang mit dem Verkehrsunfall vom 02.10.2020 auf der L 29 zwischen Z… und S… aus den §§ 7 Abs. 1, 11 S. 2, 17 StVG, 823 Abs. 1, 253 Abs. 2 BGB i.V.m. § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG in der aus dem Urteilstenor ersichtlichen Höhe zu.

a)

Unstreitig wurde das im Eigentum des Klägers stehende Fahrzeug bei dem Betrieb des bei der Beklagten zu 2 haftpflichtversicherten Fahrzeuges der Beklagten zu 1 im Sinne des § 7 Abs. 1 StVG beschädigt und der Kläger selbst verletzt. Die Ersatzpflicht ist weder nach § 7 Abs. 2 StVG durch höhere Gewalt ausgeschlossen, noch handelt es sich für einen der Unfallbeteiligten um ein unabwendbares Ereignis im Sinne des § 17 Abs. 3 StVG. Auch der Kläger hat den ihm obliegenden Unabwendbarkeitsnachweis nicht geführt, da er den Unfall hätte vermeiden können, wenn er von dem Überholvorgang abgesehen hätte.

b)

Somit hängt die wechselseitige Haftung gemäß § 17 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 StVG davon ab, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist, wobei im Rahmen der Abwägung der gegenseitigen Verursachungs- und Verschuldensbeiträge nur unstreitige, zugestandene oder bewiesene Tatsachen zu berücksichtigen sind, wobei jede Partei dem anderen Teil einen als Verschulden anzurechnenden Umstand oder andere dessen Betriebsgefahr erhöhende Tatsachen zu beweisen hat (vgl. BGH NZV 1996, 231).

Im Streitfall führt die Abwägung dazu, dass eine Haftung des Klägers aus der Betriebsgefahr seines Fahrzeuges hinter dem alleinigen Verursachungsbeitrag der Beklagten zu 1 in voller Höhe zurücktritt.

aa)

Auf Seiten der Beklagten zu 1 liegt ein Verstoß gegen § 5 Abs. 4 S. 1 sowie Abs. 4 a StVO vor. Danach muss derjenige, der zum Überholen ausscheren will, sich so verhalten, dass eine Gefährdung des nachfolgenden Verkehrs ausgeschlossen ist. Das Ausscheren zum Überholen ist dabei rechtzeitig und deutlich durch Benutzung der Fahrtrichtungsanzeiger anzukündigen.

Zwischen den Parteien ist unstreitig, dass der Kläger bereits zum Überholen der vor ihn fahrenden Fahrzeuge angesetzt hatte, als sich die Beklagte zu 1 entschloss, an dem nach rechts abbiegenden vorausfahrenden Fahrzeug links vorbeizufahren. Die Beklagte zu 2 hat in ihrem Abrechnungsschreiben vom 27.04.2021 eingeräumt, dass der Kläger den Überholvorgang „geringfügig früher“ als die Beklagte zu 1 begonnen hat. Auch mit der Klageerwiderung haben die Beklagten nicht bestritten, dass der Kläger bereits zum Überholen angesetzt hatte, sondern sich vielmehr selbst auf die Unfallschilderung des Klägers berufen und lediglich eingewandt, der Kläger habe keine Notbremsung eingeleitet oder ein auf eine Unfallvermeidung gerichtetes Fahrmanöver ausgeführt.

Wollen jedoch mehrere hintereinander fahrende Fahrzeuge überholen, so hat dasjenige Fahrzeug Vortritt, das zuerst korrekt dazu ansetzt (vgl. BGH NJW 1987, 322; König in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht 46. Aufl. § 5 StVO Rn. 40 m.w.N.). Dass die Beklagte zu 1 ihrer demnach bestehenden Pflicht, vor dem Ausscheren auf den nachfolgenden Verkehr zu achten und sich so zu verhalten, dass eine Gefährdung des nachfolgenden Verkehrs ausgeschlossen ist, nicht nachgekommen ist, ergibt sich bereits daraus, dass es zu der Kollision mit dem bereits im Überholvorgang befindlichen Fahrzeug des Klägers gekommen ist. Die Beklagte zu 1 konnte zudem im Rahmen ihrer persönlichen Anhörung vor dem Landgericht sich nicht daran erinnern, vor dem Ausscheren in den Rückspiegel geschaut oder einen Schulterblick gemacht zu haben.

Die Beklagten haben auch nicht vorgetragen, dass die Beklagte zu 1 so rechtzeitig ihr Überholmanöver mittels des Fahrtrichtungsanzeigers angekündigt hat, dass der Kläger darauf noch hätte reagieren und seinerseits sein Überholmanöver zurückstellen können. Die Beklagte zu 1 hat auf entsprechende Nachfrage in der mündlichen Verhandlung angegeben, dass sie sich nicht mehr daran erinnern könne, wie lange sie vor dem Ausscheren geblinkt habe. Vielmehr deutet ihre Angabe, sie habe geblinkt und zum Ausscheren angesetzt, daraufhin, dass das Ausscheren unmittelbar nach Betätigen des Fahrtrichtungsanzeigers erfolgte.

bb)

Ein Verkehrsverstoß des Klägers steht hingegen nicht fest.

Insbesondere liegt kein Verstoß gegen § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO (Überholen bei unklarer Verkehrslage) vor. Unklar ist die Verkehrslage, wenn nach allen Umständen mit einem gefahrlosen Überholen nicht gerechnet werden darf, etwa weil sich nicht verlässlich beurteilen lässt, was der Vorausfahrende sogleich tun werde (vgl. König a.a.O. Rn. 34 m.w.N.). Eine unklare Verkehrslage liegt nicht schon dann vor, wenn das vorausfahrende Fahrzeug langsam fährt. Vielmehr müssen darüber hinaus weitere konkrete Umstände hinzutreten, die für ein möglicherweise unmittelbar bevorstehendes Ausscheren nach links sprechen könnten (vgl. Senatsurteile v. 22.11.2018 - 12 U 77/18, juris Rn. 18 und v. 26.10.2006 - 12 U 71/06, juris Rn. 4). Solche Umstände, etwa das rechtzeitige Setzen des Fahrtrichtungsanzeigers, lagen hier nicht vor. Da nicht feststeht, dass die Beklagte zu 1 rechtzeitig geblinkt hat, geht dies zulasten der für eine unklare Verkehrslage darlegungs- und beweisbelasteten Beklagten. Da sich der Unfall zudem außerorts auf einer Landstraße ereignete, musste der Kläger auch nicht - anders als im Stadtverkehr - davon ausgehen, dass ein vorausfahrendes Fahrzeug abbremsen würde, um in eine Seitenstraße oder in einer Grundstückseinfahrt einzubiegen.

Die Verkehrslage war auch nicht deshalb unklar, weil sich hinter dem der Beklagten zu 1 vorausfahrenden Fahrzeug eine Kolonne gebildet hatte. Es steht bereits nicht fest, dass sich hinter dem vorausfahrenden Fahrzeug eine Kolonne gebildet hatte, also mehr als zwei Fahrzeuge, wobei das Fahrzeug des Klägers nicht mitzuzählen ist. Die Angaben der Beklagten zu 1 in der mündlichen Verhandlung hierzu, sie sei der Meinung, hinter ihr müsse „ein helleres Auto gewesen sein“, sind relativ vage geblieben. Der Kläger hat bestritten, dass sich eine Kolonne gebildet hatte, einen Beweis hierfür haben die Beklagten nicht angetreten. Auch aus der amtlichen Ermittlungsakte ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger eine Kolonne überholt hat. Soweit in der Verkehrsunfallanzeige Zeugen benannt sind, ist unklar geblieben, inwieweit diese den Verkehrsunfall miterlebt haben sollen. Auch die Parteien haben sich zum Unfallhergang nicht auf einen Zeugenbeweis berufen.

Im Übrigen würde das Vorliegen einer Kolonne allein auch nicht dazu führen, dass eine unklare Verkehrslage vorlag. Das Überholen einer Fahrzeugkolonne ist nach § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO nicht generell verboten. Ohne Hinzutreten von besonderen Umständen, die für ein unmittelbar folgendes Ausscheren sprechen, muss der eine Fahrzeugkolonne Überholende nicht damit rechnen, dass ein in der Kolonne befindliches Fahrzeug unvermittelt nach links ausschert (vgl. KG, NZV 1995, 359, juris Rn. 9; OLG München, NJW-RR 2017, 1059, juris Rn. 7; König a.a.O.). Derartige besondere Umstände, dass etwa eines der zu überholenden Fahrzeuge rechtzeitig und für den Überholenden erkennbar nach links blinkt oder ein Überholen zuvor durch eine durchgezogene gerade Linie auf der Fahrbahnmitte oder ein entsprechendes Verkehrszeichen untersagt war, liegen hier nicht vor.

cc)

Steht danach ein Verkehrsverstoß des Klägers nicht fest und ist somit im Rahmen der Haftungsabwägung lediglich die Betriebsgefahr seines Fahrzeuges zu berücksichtigen, tritt sein Haftungsanteil gegenüber dem der Beklagten zu 1 vollständig zurück (vgl. die bei Grüneberg, Haftungsquoten bei Verkehrsunfällen, 17. Aufl. Rn. 177 zitierten Entscheidungen). Soweit in den dort aufgeführten Fällen eine Mithaftung des Überholenden angenommen worden ist, beruht dies auf eigenen Verkehrsverstößen des Überholenden wie überhöhter Geschwindigkeit, Überholen bei unklarer Verkehrslage, Überfahren einer durchgezogenen Mittellinie oder Nichteinhaltung eines ausreichenden Sicherheitsabstandes, welche hier nicht vorliegen.

c)

Die Schadenshöhe ist zwischen den Parteien nicht im Streit.

Auf den geltend gemachten materiellen Schaden in Höhe von 15.032,04 € hat die Beklagte zu 2 gemäß der Aufstellung in der Klageschrift einen Betrag in Höhe von insgesamt 10.522,50 € gezahlt, so dass noch ein Betrag in Höhe von 4.509,54 € offen ist.

Der Kläger hat ferner gemäß § 253 Abs. 2 BGB, 11 S. 1 StVG Anspruch auf Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes. Er erlitt bei dem Verkehrsunfall ein Hochrasanztrauma, multiple Prellungen und eine HWS-Distorsion. Er befand sich für zwei Tage in stationärer Behandlung und war insgesamt 18 Tage arbeitsunfähig. Dauerfolgen sind nicht verblieben. Der Kläger hat nicht weiter dazu vorgetragen, wie sich diese Beeinträchtigungen ausgewirkt haben. Im Hinblick darauf erscheint dem Senat auch angesichts vergleichbarer Entscheidungen ein Schmerzensgeld in Höhe von 1.000,00 € angemessen, aber auch ausreichend. Hierauf hat die Beklagte zu 2 einen Betrag von 650,00 € gezahlt, so dass noch ein Restbetrag von 350,00 € auf den Klageantrag zu 2. zuzusprechen sind.

Der Kläger hat ferner Anspruch auf Erstattung der ihm entstandenen Rechtsverfolgungskosten, allerdings nur in Höhe einer 1,3 Geschäftsgebühr. Vortrag dazu, warum die vorliegende Angelegenheit besonders umfangreich oder schwierig war und deshalb eine höhere Gebührenstufe rechtfertigen könnte, hat der Kläger nicht gehalten. Da die Beauftragung der Prozessbevollmächtigten erfolgte, nachdem die Beklagte zu 2 bereits eine erste Vorschusszahlung von 5.000,00 € geleistet hatte, ist ein Gegenstandswert von bis zu 13.000,00 € zugrundezulegen. Eine 1,3 Geschäftsgebühr zuzüglich Auslagenpauschale und Umsatzsteuer abzüglich der von der Beklagten zu 2 vorgerichtlich geleisteten Zahlung von 453,87 € ergibt einen Betrag von 600,23 €. Insoweit ist der Senat an den Antrag des Klägers gebunden (§ 308 Abs. 1 ZPO). Hiervon sind wiederum die vom Landgericht unter Verstoß gegen § 308 Abs. 1 ZPO ausgeurteilten 173,26 € in Abzug zu bringen, so dass ein Freistellungsanspruch in Höhe von 398,18 € verbleibt. Da das landgerichtliche Urteil betreffend die Verurteilung zur Zahlung von 173,26 € nicht angegriffen ist, hat es dabei zu verbleiben.

Der Zinsanspruch ist begründet aus den §§ 286, 288 Abs. 1 BGB.

3.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 92 Abs. 1, 97 Abs. 1 ZPO. Dem Kläger waren entgegen § 344 ZPO die Kosten seiner Säumnis im Termin vom 19.01.2022 nicht aufzuerlegen, weil das Versäumnisurteil nicht in gesetzlicher Weise ergangen ist. Die Klägervertreterin war seinerzeit ohne ihr Verschulden wegen der Corona-Erkrankung ihrer Tochter am Erscheinen in der mündlichen Verhandlung gehindert und hatte dies auch rechtzeitig mit dem am 18.01.2022, also einen Tag vor der mündlichen Verhandlung, beim Landgericht eingegangenen Terminsverlegungsantrag angekündigt. Insoweit hätte das Versäumnisurteil nicht ergehen dürfen. Dass der Schriftsatz vom 18.01.2022 der Einzelrichterin erst nach der mündlichen Verhandlung vorgelegt worden ist, kann dem Kläger nicht zum Nachteil gereichen. Zur Klarstellung hat der Senat die Aufhebung des Versäumnisurteils in den Urteilstenor mitaufgenommen.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf den §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.

Die Revision war nicht zuzulassen, weil Zulassungsgründe nach § 543 Abs. 2 ZPO nicht vorliegen.

Der Streitwert für die Berufungsinstanz wird gemäß § 3 ZPO i.V.m. § 47 Abs. 1 S. 1 GKG auf 6.009,54 € festgesetzt.