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Kein Anspruch auf Wiederaufgreifen eines bereits bestandskräftig abgeschlossenen Asylverfahrens wegen Urteil des EuGH vom 19. November 2020 C-238/19 zur politischen Verfolgung Wehrpflichtiger in Syrien


Metadaten

Gericht VG Frankfurt (Oder) 3. Kammer Entscheidungsdatum 27.02.2023
Aktenzeichen 3 K 343/21.A ECLI ECLI:DE:VGFRANK:2023:0227.3K343.21.A.00
Dokumententyp Gerichtsbescheid Verfahrensgang -
Normen § 71 AsylVfG 1992, Art 33 Abs 2 EURL 32/2013

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Tatbestand

Der nach eigenen Angaben im Jahr 1991 geborene Kläger ist ebenfalls nach eigenen Angaben nach syrischer Staatsangehöriger und wendet sich gegen die Ablehnung eines flüchtlingsrechtlichen Folgeantrags durch die Beklagte.

Er hatte bereits vor einigen Jahren einen ersten Asylantrag gestellt, auf den die Beklagte ihn mit Bescheid vom 15. Juni 2016 (Aktenzeichen ) subsidiären Schutz zuerkannt, den Antrag aber im Übrigen abgelehnt hatte. Der Bescheid ist bestandskräftig geworden.

Der Kläger beantragte am 28. Januar 2021 erneut die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Anerkennung als Asylberechtigter. Er begründete den Folgeantrag damit, dass er als junger Mann bei der Rückkehr nach Syrien gezwungen wäre, an dem dortigen Bürgerkrieg teilzunehmen, der durch Verbrechen gegen die Menschlichkeit gekennzeichnet sei. Da er sich dem verweigern wolle, drohten ihm härteste Verfolgungsmaßnahmen. Dies sei bei der Entscheidung über seinen Erstantrag nicht hinreichend berücksichtigt worden. Zwischenzeitlich habe aber der Europäische Gerichtshof (EuGH) mit Urteil vom 19. November 2020 entschieden, dass Menschen, die aus Syrien wegen des verpflichtenden Wehrdienstes flüchteten, einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft hätten. Dies gelte auch für ihn.

Die Beklagte lehnte den Folgeantrag mit Bescheid vom 18. März 2021 als unzulässig ab. Zur Begründung erklärte sie, dass auf einen Folgeantrag ein weiteres Asylverfahren nur dann durchzuführen sei, wenn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG) erfüllt seien, also Wiederaufgreifensgründe vorlägen. Dies sei nicht der Fall. Soweit das Gesetz eine Änderung der Rechtslage als Grund für das Wiederaufgreifen des Asylverfahrens anerkenne, sei eine solche Änderung nicht erfolgt. Sie ergebe sich insbesondere nicht aus dem vom Kläger in Bezug genommenen Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 19. November 2020. Denn nach der Rechtsprechung stellten höchstrichterliche Entscheidungen ebenso wie die Klärung gemeinschaftsrechtlicher Fragen durch den EuGH keine Änderung der Rechtslage im Sinne von § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG dar. Die Entscheidung vom 19. November 2020 spreche nicht die Unionsrechtswidrigkeit oder Unanwendbarkeit der maßgeblichen Norm des nationalen Rechts aus, sondern gebe lediglich Hinweise zu dessen richtlinienkonformer Anwendung.

Der Kläger hat am 29. März 2021 Klage erhoben.

Zur Begründung wiederholt er seinen Vortrag aus dem Verwaltungsverfahren und nimmt u.a. erneut auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 19. November 2020 Bezug. Diese Entscheidung stelle eine Änderung der Rechtslage dar, weshalb er einen Folgeantrag gestellt habe. Ihm stehe aufgrund dieser Entscheidung ein Anspruch auf Zuerkennung einer Flüchtlingseigenschaft zu. Denn seine Flucht sei (auch) aufgrund drohender Wehrpflicht erfolgt. Sämtliche Umstände zum Wehrdienst habe er bereits in der persönlichen Anhörung vor der Beklagten mitgeteilt.

Der Kläger beantragt schriftsätzlich,

den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 18. März 2021 aufzuheben,

sowie,

festzustellen, dass er die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 des Asylgesetzes hat sowie den Kläger als Asylberechtigten anzuerkennen.

Die Beklagte verteidigt den angefochtenen Bescheid und beantragt schriftsätzlich,

die Klage abzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe

A. Die Kammer konnte nach Anhörung der Beteiligten durch Gerichtsbescheid entscheiden, da die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist (§ 84 der Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).

B. Die Klage ist teilweise bereits unzulässig und im Übrigen unbegründet.

I. Soweit der Kläger neben der Aufhebung des Bescheides vom 18. März 2021 auch die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft und seine Anerkennung als Asylberechtigter begehrt, ist die Klage bereits unstatthaft.

Davon abgesehen, dass der Zulässigkeit des gestellten Feststellungsantrags bereits der Grundsatz der Subsidiarität von Feststellungsklagen gegenüber Gestaltungsklagen entgegensteht (vgl. § 43 Abs. 2 VwGO), ist die Entscheidung, kein weiteres Asylverfahren durchzuführen, sondern den Folgeantrag als unzulässig abzulehnen, nämlich statthafter Weise allein mit der Anfechtungsklage anzugreifen. Ein „Durchentscheiden“ der Gerichte in Gestalt einer Verpflichtung der Beklagten zur Zuerkennung von internationalem Schutz kommt nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung in Folgeantragsverfahren nicht in Betracht (BVerwG, Urteil vom 14. Dezember 2016 – 1 C 4/16 –, juris Rn. 16).

II. Im Hinblick auf die Anfechtung der Ablehnung des Folgeantrags ist die Klage zwar als Anfechtungsklage statthaft und auch im Übrigen zulässig, hat aber in der Sache keinen Erfolg.

Denn diese Entscheidung der Beklagten ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO).

Die Beklagte hat sie zu Recht auf § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG gestützt. Nach dieser Vorschrift ist ein Asylantrag unzulässig, wenn im Falle eines Folgeantrags nach § 71 (desselben Gesetzes) ein weiteres Asylverfahren nicht durchzuführen ist.

So liegt es im vorliegenden Fall.

1. Nach § 71 Abs. 1 S. 1 AsylG ist ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen, wenn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vorliegen.

Gemäß § 51 Abs. 1 VwVfG hat die Behörde auf Antrag des Betroffenen über die Aufhebung oder Änderung eines unanfechtbaren Verwaltungsaktes zu entscheiden, wenn sich die dem Verwaltungsakt zugrunde liegende Sach- oder Rechtslage nachträglich zugunsten des Betroffenen geändert hat (§ 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG), neue Beweismittel vorliegen, die eine dem Betroffenen günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würden (§ 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG) oder Wiederaufnahmegründe entsprechend § 580 der Zivilprozessordnung gegeben sind (§ 51 Abs. 1 Nr. 3 VwVfG).

Nach § 51 Abs. 2 VwVfG ist der Antrag nur zulässig, wenn der Betroffene ohne grobes Verschulden außerstande war, den Grund für das Wiederaufgreifen in dem früheren Verfahren, insbesondere durch Rechtsbehelf, geltend zu machen.

Der Antrag muss binnen drei Monaten gestellt werden, wobei die Frist mit dem Tage beginnt, an dem der Betroffene von dem Grund für das Wiederaufgreifen Kenntnis erhalten hat (§ 51 Abs. 3 VwVfG).

2.  Im vorliegenden Fall kann die Kammer nicht feststellen, dass einer der in § 51 VwVfG genannten Gründe für ein Wiederaufgreifen des asylrechtlichen Verwaltungsverfahrens vorliegt.

a. Insoweit war davon auszugehen, dass nicht alle Wiederaufnahmegründe von Amts wegen zu prüfen sind. Der Gegenstand der behördlichen und gerichtlichen Prüfung wird vielmehr durch die mit dem Antrag und im weiteren Verlauf des Verfahrens vom Antragsteller bzw. Kläger geltend gemachten Wiederaufnahmegründe bestimmt und begrenzt (BVerwG, Urteil vom 20. November 2018 – 1 C 23/17 –, juris Rn. 12 und OVG Münster, Urteil vom 12. April 2021 – 14 A 818/19.A –, juris Rn. 21).

Der Kläger hat seinen Asylfolgeantrag allein auf die Entscheidung des EuGH vom 19. November 2020 gestützt. Er sieht darin eine nachträgliche Änderung der Rechtslage zu seinen Gunsten im Sinne von § 51 Abs. 1 Nr. 1 Fall 2 VwVfG.

Eine nachträgliche Änderung der Sachlage oder andere Wiederaufgreifensgründe hat er hingegen nicht geltend gemacht. Er hat im Gegenteil in der Begründung der Klage ausdrücklich erklärt, er habe sämtliche Umstände zum Wehrdienst bereits in der persönlichen Anhörung vor der Beklagten im Erstverfahren mitgeteilt.

b. Dass das Urteil des EuGH vom 19. November 2020 – C-238/19 – keine Änderung der Rechtslage im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG darstellt, ist in der Rechtsprechung bereits geklärt (vgl. zum Ganzen: OVG Münster, Urteil vom 12. April 2021 – 14 A 818/19.A – juris Rn. 42 ff.; OVG Bremen, Beschluss vom 6. August 2021 – 1 LA 294/21 –, juris Rn. 8; vgl. auch: VGH Mannheim, Beschluss vom 22. Dezember 2020 – A 4 S 4001/20 –, juris Rn. 14; 1.9.6  VG Stuttgart, Urteil vom 4. März 2021 – A 7 K 244/19 – juris Rn. 27 ff.; VG Bremen, Urteil vom 27. Mai 2021 – 5 K 622/21 –, juris Rn. 26; VG Hamburg, Urteil vom 15. Juni 2021 – 16 A 1757/21 –, juris Rn. 19 ff.; VG Schleswig, Urteil vom 8. Juni 2021 – 13 A 239/21 –, juris Rn. 22 ff.; VG Wiesbaden, Urteil vom 30. April 2021 – 6 K 470/19.WI.A –, juris Rn. 28 ff.; VG Trier, Urteil vom 4. Mai 2021 – 1 K 1102/21.TR –, juris Rn. 29 ff.; VG Regensburg, Gerichtsbescheid vom 18. Mai 2021 – RN 11 K 21.30505 –, juris Rn. 25 ff.; (VG Berlin, Urteil vom 10. Juni 2021 – 23 K 63/21.A –, juris Rn. 25 ff.); VG München, Urteil vom 26. April 2022 – M 22 K 21.30702 –, juris Rn. 30 ff.). Gerichtliche Entscheidungen, die diese Frage anders beurteilen, sind nicht ersichtlich.

Eine Änderung der Rechtslage im Sinne von § 51 Abs. 1 Nr. 1 Fall 2 VwVfG setzt nämlich eine Änderung im Bereich des materiellen Rechts voraus, dem eine allgemein verbindliche Außenwirkung zukommt. Demgegenüber stellt eine Änderung selbst höchstrichterlicher Rechtsprechung grundsätzlich keine Änderung der Rechtslage dar. Vielmehr bleibt gerichtliche Entscheidungsfindung rechtliche Würdigung des Sachverhalts am Maßstab der vorgegebenen Rechtsordnung. Sie ist nicht geeignet oder darauf angelegt, die Rechtsordnung konstitutiv zu verändern (vgl. BVerwG, Beschluss vom 12. November 2020 – 2 B 1.20 –, juris Rn. 8 m.w.N.).

Dies gilt auch für Vorabentscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Union, welche nach dem eigenen Verständnis des Gerichtshofs nicht konstitutiver, sondern rein deklaratorischer Natur sind (BVerwG, Urteil vom 22. Oktober 2009 – 1 C 26/08 –, juris Rn. 16 m.w.N.). Sie erläutern und verdeutlichen lediglich, in welchem Sinn und mit welcher Bedeutung eine unionsrechtliche Bestimmung seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden ist oder gewesen wäre.

c. Auch das Unionsrecht gebietet es nicht, § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG i.V.m. § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG anders auszulegen. Die Anwendung dieser Vorschriften durch die Beklagte im vorliegenden Fall steht vielmehr auch mit diesem Recht im Einklang. Dies gilt insbesondere für die aus der Asylverfahrensrichtlinie (Richtlinie 2013/32/EU) folgenden Anforderungen an die Ablehnung eines Asylfolgeantrags als unzulässig.

Die Kammer macht sich zur Begründung die überzeugenden Darlegungen des Verwaltungsgerichts Hamburg zu eigen (Urteil vom 15. Juni 2021 –16 A 1757/21 –, juris Rn. 26 ff). Danach gilt:

„Art. 33 Abs. 2 RL 2013/32/EU regelt abschließend (stRspr, vgl. nur EuGH, Urt. v. 14.5.2020, C-924/19 PPU und C-925/19 PPU, juris, Rn. 149, 182 m.w.N.), unter welchen Voraussetzungen ein Asylantrag als unzulässig abgelehnt werden darf. Mit Blick auf Folgeanträge regelt Art. 33 Abs. 2 lit. d) RL 2013/32/EU, dass die Mitgliedstaaten einen Antrag auf internationalen Schutz nur dann als unzulässig betrachten können, wenn es sich um einen Folgeantrag handelt, bei dem keine neuen Umstände oder Erkenntnisse zu der Frage, ob der Antragsteller nach Maßgabe der Richtlinie 2011/95/EU als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist, zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind.

Nach Art. 40 Abs. 2 RL 2013/32/EU wird für die Zwecke der gemäß Art. 33 Abs. 2 lit. d) zu treffenden Entscheidung über die Zulässigkeit eines Antrags auf internationalen Schutz ein Folgeantrag auf internationalen Schutz zunächst daraufhin geprüft, ob neue Elemente oder Erkenntnisse betreffend die Frage, ob der Antragsteller nach Maßgabe der Richtlinie 2011/95/EU als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist, zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind. Wenn die erste Prüfung nach Art. 40 Abs. 2 RL 2013/32/EU ergibt, dass neue Elemente oder Erkenntnisse zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind, die erheblich zu der Wahrscheinlichkeit beitragen, dass der Antragsteller nach Maßgabe der Richtlinie 2011/95/EU als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist, wird der Antrag nach Art. 40 Abs. 3 Satz 1 RL 2013/32/EU gemäß Kapitel II der Asylverfahrensrichtlinie weiter geprüft. Wird ein Folgeantrag demgegenüber nach Art. 40 RL 2013/32/EU nicht weiter geprüft, so wird er gemäß Art. 33 Abs. 2 lit. d) als unzulässig betrachtet, vgl. Art. 40 Abs. 5 RL 2013/32/EU.

Zusammengefasst darf ein Folgeantrag demnach nicht als unzulässig abgelehnt werden, wenn neue Elemente bzw. Umstände (die Wortwahl der Art. 33, 40 RL 2013/32/EU ist nicht einheitlich, vgl. hierzu OVG Münster, Urt. v. 12.4.2021, 14 A 818/19.A, juris, Rn. 60 ff.) oder Erkenntnisse zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind, die erheblich zu der Wahrscheinlichkeit beitragen, dass der Antragsteller nach Maßgabe der Richtlinie 2011/95/EU als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist. Hiervon ist mit Blick auf das vom Kläger angeführte Urteil des Gerichtshofs vom 19. November 2020 jedoch nicht auszugehen.

Zu den sich aus der Asylverfahrensrichtlinie ergebenen Anforderungen an die Ablehnung eines Asylfolgeantrags als unzulässig hat der Gerichtshof in seinem Urteil vom 14. Mai 2020 (Rs. C-924/19 PPU und C-925/19 PPU) entschieden, dass die Existenz eines Urteils des Gerichtshofs eine „neue Erkenntnis“ im Sinne von Art. 33 Abs. 2 lit. d) RL 2013/32/EU im Hinblick auf die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz darstelle, wenn mit dem Urteil die Unvereinbarkeit einer nationalen Regelung mit dem Unionsrecht festgestellt werde. In diesem Fall dürfe ein Folgeantrag nicht auf der Grundlage dieser Bestimmung abgelehnt werden (EuGH, Urt. v. 14.5.2020, C-924/19 PPU und C-925/19 PPU, juris, Rn. 194, 203). Im Übrigen sei Art. 33 Abs. 2 lit. d) RL 2013/32/EU auf einen Folgeantrag nicht anwendbar, wenn die Asylbehörde im Sinne von Art. 2 lit. f) RL 2013/32/EU feststelle, dass die bestandskräftige Ablehnung des früheren Antrags unionsrechtswidrig sei. Dies gelte zwingend, wenn sich die Unionsrechtswidrigkeit der Ablehnung des ersten Asylantrags aus einem Urteil des Gerichtshofs ergebe oder von einem nationalen Gericht inzident festgestellt worden sei (EuGH, Urt. v. 14.5.2020, C-924/19 PPU und C-925/19 PPU, juris, Rn. 198, 203). Die Unionsrechtswidrigkeit der Ablehnung des ersten Asylantrags muss also mit anderen Worten feststehen (VG Trier, Urt. v. 4.5.2021, 1 K 1102/21.TR, juris, Rn. 34; vgl. zudem OVG Münster, Urt. v. 12.4.2021, 14 A 818/19.A, juris, Rn. 67). So liegt der Fall hier jedoch nicht.

Das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 19. November 2020 führt als solches weder allgemein zur Unionrechtswidrigkeit der Entscheidungspraxis des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge zur Militärdienstverweigerung in Syrien noch konkret zur Unionsrechtswidrigkeit der Ablehnung des ersten Asylantrags des Klägers (vgl. auch OVG Münster, Urt. v. 12.4.2021, 14 A 818/19.A, juris, Rn. 68; VGH Mannheim, Beschl. v. 22.12.2020, A 4 S 4001/20, juris, Rn. 14; VG Wiesbaden, Urt. v. 30.4.2021, 6 K 470/19.WI.A, juris, Rn. 29; VG Trier, Urt. v. 4.5.2021, 1 K 1102/21.TR, juris, Rn. 35 f.; VG Regensburg, Gerichtsbescheid v. 18.5.2021, Hs. 11 K 21.30505, juris, Rn. 38).

Anlässlich eines Vorabentscheidungsersuchens des Verwaltungsgerichts Hannover zu Rechtsfragen, die sich im Kontext der Wehrdienstentziehung syrischer Staatsangehöriger ergeben, hat der Gerichtshof lediglich Auslegungsfragen betreffend Art. 9 Abs. 2 lit. e) RL 2011/95/EU beantwortet. Dabei hat er im Wesentlichen ausgeführt, dass eine Militärdienstverweigerung weder in einem bestimmten Verfahren formalisiert werden noch der Wehrpflichtige sich der Militärverwaltung zur Verfügung gestellt haben müsse, wenn das Recht des Herkunftsstaats die Möglichkeit der Verweigerung des Militärdienstes nicht vorsehe, dass der Wehrpflichtige seinen künftigen militärischen Einsatzbereich unter bestimmten Voraussetzungen nicht kennen müsse, dass auch zwischen der Verfolgungshandlung im Sinne des Art. 9 Abs. 2 lit. e) RL 2011/95/EU und den in Art. 10 RL 2011/95/EU genannten Verfolgungsgründen eine Verknüpfung bestehen müsse und dass eine „starke Vermutung“ dafür spreche, dass eine Militärdienstverweigerung unter den in Art. 9 Abs. 2 lit. e) RL 2011/95/EU genannten Voraussetzungen mit einem der Gründe des Art. 10 RL 2011/95/EU in Zusammenhang stehe.

Ob die Militärdienstverweigerung eines syrischen Staatsangehörigen einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begründet, lässt sich allein aufgrund des Urteils des Gerichtshofs nicht entscheiden. Namentlich die durch die „starke Vermutung“ begründete Beweiserleichterung, auf die sich der Kläger beruft, führt nicht per se zur Unionsrechtswidrigkeit der ablehnenden Erstentscheidung. Ob die Vermutung greift, hängt nach den Ausführungen des Gerichtshofs davon ab, ob die übrigen Voraussetzungen des Art. 9 Abs. 2 lit. e) RL 2011/95/EU gegeben sind (vgl. EuGH, Urt. v. 19.11.2020, C-238/19, juris, Rn. 57), ob einem Schutzsuchenden also Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt drohen, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter den Anwendungsbereich der Ausschlussklauseln des Art. 12 Abs. 2 RL 2011/95/EU fallen. Soweit der Kläger geltend macht, diese Voraussetzungen des Art. 9 Abs. 2 lit. e) RL 2011/95/EU seien nach Ansicht des Gerichtshofs im Kontext des syrischen Bürgerkrieges ohne Weiteres als erfüllt anzusehen, handelt es sich um eine Fehlinterpretation des Urteils vom 19. November 2020. Aus dem genannten Urteil des Gerichtshofs folgt nicht, dass unterschiedslos jedem Syrer im wehrpflichtigen Alter gleichsam „automatisch“ die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist (VGH Mannheim, Beschl. v. 22.12.2020, A 4 S 4001/20, juris, Rn. 7; Urt. v. 4.5.2021, A 4 S 468/21, juris, Rn. 26; vgl. ferner OVG Münster, Urt. v. 12.4.2021, 14 A 818/19.A, juris, Rn. 68). Ob die Voraussetzungen des Art. 9 Abs. 2 lit. e) RL 2011/95/EU erfüllt sind, ist vielmehr von einer Vielzahl von Tatfragen abhängig, zum einen von den allgemeinen Verhältnissen in Syrien und zum anderen von den konkreten Umständen des zu entscheidenden Einzelfalls. Tatfragen hat der Gerichtshof jedoch nicht entschieden. Vielmehr obliegen die Würdigung eines Falles in tatsächlicher Hinsicht und die Subsumtion unter die rechtlichen Voraussetzungen, wie der Gerichtshof selbst mehrfach betont (vgl. etwa EuGH, Urt. v. 19.11.2020, C-238/19, juris, Rn. 31, 34, 37 a.E. [„was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist“]), den nationalen Behörden und den Tatsachengerichten (vgl. auch VGH Mannheim, Beschl. v. 22.12.2020, A 4 S 4001/20, juris, Rn. 8).

Selbst wenn die „starke Vermutung“ greift, hat dies nicht per se einen Anspruch des jeweiligen Schutzsuchenden auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zur Folge. Vielmehr ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs die Plausibilität einer Verknüpfung von Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund in Anbetracht sämtlicher in Rede stehender Umstände zu prüfen (EuGH, Urt. v. 19.11.2020, C-238/19, juris, Rn. 50, 56, 61; s.a. OVG Münster, Urt. v. 12.4.2021, 14 A 818/19.A, juris, Rn. 68; VGH Mannheim, Urt. v. 4.5.2021, A 4 S 468/21, juris, Rn. 27). Ebenso hat das Bundesverwaltungsgericht mit Blick auf das Urteil des Gerichtshofs vom 19. November 2020 mittlerweile klargestellt, dass eine durch eine „starke Vermutung“ begründete Beweiserleichterung jedenfalls nicht zu einer von der tatsächlichen Verfolgungslage und den hierzu heranzuziehenden Erkenntnismitteln unabhängigen, unwiderleglichen Verknüpfung von zu unterstellender Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund (§ 3a Abs. 3 AsylG) führe, auf deren Notwendigkeit auch der Gerichtshof nicht verzichte (BVerwG, Beschl. v. 10.3.2021, 1 B 2.21, juris, Rn. 10). Mit anderen Worten bleibt also eine sorgfältige Prüfung des Einzelfalls geboten.

Die Feststellung, dass § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG, welcher Art. 9 Abs. 2 lit. e) RL 2011/95/EU in nationales Recht umsetzt, unionsrechtswidrig ist, ergibt sich aus dem Urteil des Gerichtshofs ersichtlich nicht.“

C.  Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83 b Abs. 1 AsylG.