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Entscheidung 16 K 677/18.A


Metadaten

Gericht VG Potsdam 16. Kammer Entscheidungsdatum 24.01.2023
Aktenzeichen 16 K 677/18.A ECLI ECLI:DE:VGPOTSD:2023:0124.16K677.18.A.00
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen § 3 AsylVfG 1992, § 3a AsylVfG 1992, § 3b AsylVfG 1992, § 3c AsylVfG 1992, § 3d AsylVfG 1992, § 3e AsylVfG 1992, § 34 Abs 1 AsylVfG 1992, § 38 Abs 1 AsylVfG 1992, § 77 AsylVfG 1992, § 11 Abs 1 AufenthG, § 11 Abs 2 AufenthG, § 11 Abs 3 AufenthG, § 59 Abs 1 AufenthG, § 60 Abs 5 AufenthG, § 60 Abs 7 AufenthG

Tenor

Das Verfahren wird eingestellt, soweit der Kläger die Klage zurückgenommen hat. Im Übrigen wird die Beklagte unter Aufhebung der unter den Nummern 1, 3, 4 und 5 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 29. Januar 2018 ergangenen Entscheidungen verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger zuvor Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand

Der Kläger ist russischer Staatsangehöriger tschetschenischer Volkszugehörigkeit und muslimischen Glaubens. Er wurde am 1989 in A ... (Russische Föderation) geboren.

Der Kläger reiste am 3. Juli 2013 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 8. Juli 2013 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Im Folgenden: Bundesamt) einen Asylantrag.

Mit Bescheid vom 10. Oktober 2013 lehnte das Bundesamt den Asylantrag mit Verweis auf einen bereits zuvor in der Republik Polen gestellten Asylantrag als unzulässig ab und ordnete die Abschiebung in die Republik Polen an. Eine Abschiebung unterblieb daraufhin.

Mit Bescheid vom 28. Februar 2014 hob das Bundesamt den vorbezeichneten Bescheid wieder auf und führte zur Begründung aus, dass die Zuständigkeit zur Durchführung des Asylverfahrens wegen Ablaufs der Überstellungsfrist auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen sei.

Am 19. März 2014 teilte die Liaisonmitarbeiterin des Bundesamtes in Polen mit, dass das polnische Asylverfahren des Klägers am 21. August 2013 wegen Nichtbetreibens eingestellt worden sei.

Anlässlich der daraufhin durchgeführten Anhörung gab der Kläger am 25. März 2014 gegenüber dem Bundesamt im Wesentlichen an, im August 2011 eine SMS von jemandem erhalten zu haben, der angegeben habe, inhaftiert zu sein und Geld zu brauchen. Diese Person habe sich als homosexuell ausgegeben und die Fotos des Klägers kopiert; der Kläger habe 12 000 Rubel zahlen sollen, sonst würden die Fotos an die Polizei gegeben. Die Person habe die Fotos unter dem Namen des Klägers an andere geschickt und vorgegeben, der Kläger sei homosexuell. Ebenfalls im August 2011 habe er - der Kläger - über das Internet jemanden kennengelernt, dem er gesagt habe, selbst homosexuell zu sein, und mit dem er sich verabredet habe. Es habe sich aber um einen Polizisten gehandelt, der ihn dann gemeinsam mit weiteren Männern festgenommen, verprügelt und 200.000 Rubel verlangt habe, sonst werde man der Familie des Klägers sagen, er sei homosexuell. Das alles sei aufgezeichnet und bei Youtube eingestellt worden. Seine Verwandten hätten dann gesagt, es wäre besser, wenn er wegginge oder tot sei. Daraufhin habe er Tschetschenien verlassen und sei erst im Jahre 2013 wieder zurückgekehrt und habe Arbeit bei einer Kultureinrichtung in G ... gefunden. Aufgrund seiner in Tschetschenien allgemein bekannt gewordenen Homosexualität und auf dieser Grundlage anhaltender Diskriminierungen, Hassreaktionen und Bedrohungen durch die Gesellschaft und der Tatsache, dass seine Verwandten ihn verstoßen hätten, habe er Tschetschenien in demselben Jahr verlassen. Auf Nachfrage des Bundesamtes gab der Kläger an, dass er nicht schwul sei, vielmehr nur unter Zwang gesagt habe, dass er schwul sei.

Mit Bescheid vom 19. Mai 2014 lehnte das Bundesamt mit der Begründung, dass der Kläger bereits in der Republik Polen einen Asylantrag gestellt habe, die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens ab. Weiter stellte das Bundesamt fest, dass im Falle des Klägers Abschiebungsverbote nicht vorliegen. Das Bundesamt forderte den Kläger dazu auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen und drohte die Abschiebung in die Russische Föderation oder einen anderen Staat an, in den der Kläger einreisen darf oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet ist, an.

Gegen den vorbezeichneten Bescheid erhob der Kläger am 27. Mai 2014 Klage. Mit Urteil vom 10. März 2016 hob das Verwaltungsgericht Potsdam die Ausreiseaufforderung und die Abschiebungsandrohung auf und wies die Klage im Übrigen ab.

Mit Bescheid vom 30. August 2017 forderte das Bundesamt den Kläger dazu auf, die Bundesrepublik Deutschland für den Fall der Klageerhebung innerhalb von 30 Tagen nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen und drohte die Abschiebung in die Russische Föderation oder einen anderen Staat an, in den der Kläger einreisen darf oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet ist. Zudem verfügte das Bundesamt ein auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot.

Gegen den vorbezeichneten Bescheid erhob der Kläger am 13. September 2017 Klage. Diese nahm er am 30. September 2017 wieder zurück. Das Verwaltungsgericht Potsdam stellte daraufhin das Verfahren mit Beschluss vom 4. Oktober 2017 ein.

Der Kläger stellte am 17. Oktober 2017 beim Bundesamt einen Antrag auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens. Zur Begründung verwies er auf einen am 25. September 2017 in dem englischsprachigen TIME Magazin veröffentlichten Artikel, in dem über seine persönliche Geschichte berichtet werde. Der Artikel sei die Bestätigung seiner Homosexualität, der von ihm erlittenen Verfolgung und der ihm bei einer Abschiebung drohenden Gefahren. Zudem verwies der Kläger darauf, dass sich die Situation von Homosexuellen in Tschetschenien und in der übrigen Russischen Föderation seit dem Urteil des Verwaltungsgerichts vom 10. März 2016 in dem Ersterfahren erheblich verschlechtert habe; so sei es in Tschetschenien zu schwulenfeindlichen „Säuberungen“ gekommen.


Der Kläger wurde am 7. November 2017 persönlich zu den Gründen für seinen Folgeantrag angehört. Hierbei gab der Kläger im Wesentlichen an, dass er aufgrund seiner Homosexualität in seinem Heimatland bedroht worden sei. Er habe mehrere Videoberichte und Medienberichte in verschiedenen Onlineplattformen eingestellt und dort über seine sexuelle Neigung und die damit einhergehenden Problemen berichtet. Es würden nunmehr alle Tschetschenen schlecht über ihn reden. Sie würden sagen, dass er eine Schande für ganz Tschetschenien sei und getötet werden müsse, um das Blut zu reinigen. Ihm sei dies dadurch vermittelt worden, dass mit dem Finger auf ihn gezeigt werden würde. Außerdem könne man es den Kommentaren zu den Videoberichten auf den Onlineplattformen entnehmen. Er habe im Rahmen der persönlichen Anhörung im Erstverfahren zwar angegeben, dass ihm lediglich unterstellt worden sei, homosexuell zu sein, und er aus diesem Grund im Herkunftsland verfolgt worden sei. Der Kläger habe aber bewusst unrichtige Angaben insoweit gemacht, denn er habe nicht gewollt, dass irgendjemand erfährt, dass er homosexuell ist. Außerdem sei ihm die Situation, innerhalb der Anhörung hierüber mit einer weiblichen Entscheiderin und Dolmetscherin zu sprechen, unangenehm gewesen.

Mit Bescheid vom 29. Januar 2018, per Einschreiben zur Post gegeben am 8. Februar 2018, lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers ab. Zur Begründung führte es aus, dass der Kläger zwar aufgrund Sachlagenänderung in Gestalt neuer Beweismittel einen Anspruch auf Durchführung eines weiteren Asylverfahren habe. Mangels für den Fall der Rückkehr zu befürchtender staatlicher oder nichtstaatlicher Verfolgung und jedenfalls aufgrund der Möglichkeit der Inanspruchnahme internen Schutzes lägen jedoch weder die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG (Nummer 1 des Bescheides) noch für die Asylanerkennung nach Art. 16a GG vor (Nummer 2 des Bescheides). Mangels landesweit drohender Todesstrafe, Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung und einer erheblichen individuellen Gefahr aufgrund willkürlicher Gefahren im Rahmen eines innerstaatlichen oder internationalen bewaffneten Konflikts komme auch die Gewährung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG nicht in Betracht (Nummer 3 des Bescheides). Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG lägen ebenso nicht vor (Nummer 4 des Bescheides). Denn die humanitäre Situation in der Russischen Föderation führe nicht zu der Annahme, dass bei Abschiebung des Klägers eine Verletzung von Art. 3 EMRK drohe. Individuelle Umstände hingegen, die ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG rechtfertigen könnten, seien nicht ersichtlich. Dem Kläger drohe auch keine individuelle Gefahr für Leib und Leben, die zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 AufenthG führen würde. Das Bundesamt forderte den Kläger dazu auf, die Bundesrepublik Deutschland für den Fall der Klageerhebung innerhalb von 30 Tagen nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen und drohte die Abschiebung in die Russische Föderation oder einen anderen Staat an, in den der Kläger einreisen darf oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet ist (Nummer 5 des Bescheides).

Am 19. Februar 2018 hat der Kläger gegen den vorbezeichneten Ablehnungsbescheid Klage erhoben. Zur Begründung seiner Klage verweist der Kläger auf die in der Russischen Föderation vorherrschende Gruppenverfolgung von Homosexuellen, jedenfalls die ihm aufgrund der seinerseits öffentlich gemachten Homosexualität und an dem tschetschenischen Regime geäußerten Kritik an dem Umgang mit Homosexuellen landesweit drohende Verfolgung durch tschetschenische Sicherheitsbehörden. Sogar in Deutschland hätten Tschetschenen zweifach versucht ihn aufgrund seiner sexuellen Orientierung und öffentlichen Kritik zu ermorden.

Der Kläger hat im Rahmen der mündlichen Verhandlung seinen auf die Anerkennung als Asylberechtigter gerichteten Klageantrag zurückgenommen und beantragt nunmehr nur noch,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 29. Januar 2018 zu verpflichten, festzustellen, dass in der Person des Klägers die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft vorliegen,

hilfsweise, dass in der Person des Klägers die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus vorliegen,

höchst hilfsweise, dass zugunsten des Klägers Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Aufenthaltsgesetz vorliegen.

Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Klage abzuweisen

und nimmt zur Begründung Bezug auf die Ausführungen in dem angefochtenen Bescheid.

Die Kammer hat den Rechtsstreit nach Anhörung der Beteiligten mit Beschluss vom 3. August 2021 auf den Einzelrichter zur Entscheidung übertragen. Der Einzelrichter hat die Beklagte mit Schreiben vom 30. Dezember 2022 gegen Empfangsbekenntnis vom 3. Januar 2023 zum Termin zur mündlichen Verhandlung auf Dienstag, den 24. Januar 2023, geladen. Dabei wurde die Beklagte unter Bezugnahme auf § 102 Abs. 2 VwGO darauf hingewiesen, dass bei Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann.

Im Termin zur mündlichen Verhandlung ist ein Vertreter der Beklagten nicht erschienen. Während der Verhandlung wurde der Kläger in Bezug auf seine Asylgründe informatorisch angehört. Insoweit wird auf den Inhalt der Sitzungsniederschrift vom 24. Januar 2023 verwiesen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Bundesamtes verwiesen. Dieser ist Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe

Das Gericht entscheidet durch den Berichterstatter als Einzelrichter, weil die Kammer ihm den Rechtsstreit durch Beschluss vom 3. August 2021 gemäß § 76 Abs. 1 des Asylgesetzes (AsylG) zur Entscheidung übertragen hat.

Der Einzelrichter konnte trotz Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten in der mündlichen Verhandlung verhandeln und entscheiden, denn die Beklagte wurde in der Ladung nach § 102 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) auf diese Rechtsfolge hingewiesen.

Das Verfahren ist gemäß § 92 Abs. 1 Satz 1 VwGO einzustellen, soweit der Kläger die auf Asylanerkennung gerichtete Klage zurückgenommen hat.

Die Klage hat im aufrechterhaltenen Umfang Erfolg. Sie ist zulässig und begründet.

Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 29. Januar 2018 ist rechtwidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Denn der Kläger hat in dem nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).

Gemäß § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, wenn er Flüchtling ist und keiner der dort aufgeführten Ausschlussgründe vorliegt.

Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Genfer Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (GFK), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischer Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

Als Verfolgung im vorgenannten Sinne gelten ausweislich § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2).

Als Verfolgung im Sinne des § 3a Abs. 1 AsylG können ausweislich § 3a Abs. 2 AsylG unter anderem die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt, (Nr. 1), gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden (Nr. 2), unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung (Nr. 3), Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung (Nr. 4) oder Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind, (Nr. 6) gelten. Die Annahme einer Verfolgungshandlung setzt einen gezielten Eingriff in ein geschütztes Rechtsgut voraus (BVerwG, Urteil vom 22. Mai 2019 - 1 C 11/18 - juris, Rn. 14).

Die Verfolgung kann gemäß § 3c AsylG ausgehen von dem Staat (Nr. 1), Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Nr. 2) oder nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.

Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer - bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr - die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (siehe zu diesem Maßstab im Einzelnen: BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 - 1 C 31/18 - juris, Rn. 16 ff.).

In Anwendung dieser Maßstäbe ist dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG zuzuerkennen. Denn in Anbetracht der Gesamtumstände kann bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Klägers Furcht vor Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1, 2, 3 und 4 AsylG durch tschetschenische Sicherheitsbehörden (§ 3c Nr. 1 AsylG) wegen der sexuellen Orientierung (§ 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 2 AsylG) auf dem gesamten Territorium der Russischen Föderation hervorgerufen werden. Die Handlungen, die dem Kläger drohen, sind auf Grund ihrer Art und Wiederholung so gravierend, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte des Klägers darstellen würden. Der Kläger muss eine Verletzung des in Art. 2 EMRK verankerten Rechts auf Leben, des in Art. 3 EMRK absolut nach Art. 15 Abs. 2 EMRK garantierten Verbots der Folter, unmenschlichen und erniedrigender Behandlung und Strafe, des in Art. 5 EMRK verbürgten Rechts auf Freiheit und Sicherheit, des in Art. 6 EMRK gesicherten Rechts auf ein faires Verfahren und der in Art. 10 EMRK zum Ausdruck kommenden Freiheit der Meinungsäußerung befürchten.

Der Kläger hat schriftsätzlich unter Vorlage von umfassendem Anschauungsmaterial und während seiner informatorischen Anhörung im Rahmen der mündlichen Verhandlung zur hinreichenden Überzeugung des Gerichts glaubhaft und mit der erforderlichen Substanz vorgetragen, dass ihm aufgrund der besonderen Umstände seines nicht verallgemeinerungsfähigen Einzelfallsin der Russischen Föderation landesweit Repressalien bis hin zur gezielten Tötung durch tschetschenische Sicherheitsbehörden mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Der Kläger wurde vor seiner Ausreise aus der Russischen Föderation durch die tschetschenische Polizei unter Anwendung von Gewalt zur öffentlichen Preisgabe seiner sexuellen Orientierung gezwungen und aufgrund dessen in der tschetschenischen Gesellschaft bedroht und diskriminiert. Nach der Einreise nach Deutschland bekannte sich der Kläger in einem Interview mit dem US-amerikanischen Nachrichtenmagazin „Time“ zu seiner Homosexualität und kritisierte zugleich den Umgang mit Homosexuellen in der Russischen Föderation und insbesondere in Tschetschenien. In Deutschland wurde der Kläger im Auftrag des tschetschenischen Sicherheitsapparats unter Androhung von Vergeltungsmaßnahmen genötigt, seine Aussage in der „Time“ zu revidieren und sich bei dem tschetschenischen Volk und dem tschetschenischen Machthaber Ramsan Kadyrow zu entschuldigen. Schließlich wurden aufgrund der sexuellen Orientierung des Klägers und der seinerseits aus dem Exil geäußerten Kritik an dem tschetschenischen Regime bereits zwei Mordversuche an dem Kläger verübt. Damit gehört der Kläger gerade nicht zu den politisch unverdächtigen Tschetschenen, bei denen regelmäßig von einer inländischen Fluchtalternative in der Russischen Föderation auszugehen ist.

Leitend für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft waren im Wesentlichen folgende, klägerseits glaubhaft vorgetragene, mit dem einschlägigen Erkenntnismaterial übereinstimmende und damit zur Überzeugung des Gerichts für die Entscheidungsfindung feststehende Geschehen:

Im Sommer 2011 verabredete sich der Kläger nach intimem Briefwechsel und Austausch von Fotos über das Internet mit einem Mann zu einem persönlichen Treffen in Tschetschenien. Vor Ort angekommen wurde der Kläger von einer Gruppe von Männern, zu denen auch ein Polizeibeamter gehörte, in ein Auto verfrachtet und in einen nahe gelegenen Wald gefahren. Dort wurde er zusammengeschlagen und genötigt, eine Aussage zu machen, im Rahmen der er sagt, dass er homosexuell sei. Um das Video geheim zu halten, verlangten die Männer 200.000 Rubel von dem Kläger und stellten es anschließend ins Internet, als der Kläger das Geld zwei Tage später nicht aufbringen konnte. Der Kläger wurde nach Bekanntwerden seiner Homosexualität bis auf seine Adoptivmutter von seiner gesamten Adoptivfamilie verstoßen und in der tschetschenischen Gesellschaft bedroht, diskriminiert, diffamiert und geächtet, so dass er sich im Jahre 2013 gezwungen sah, nicht nur Tschetschenien, sondern die Russische Föderation zu verlassen. In diesem Zusammenhang heißt es in dem den Kläger persönlich und die Lage von Homosexuellen in Tschetschenien allgemein betreffenden Artikel „Die Gejagten“, erschienen am 19. April 2021 in der „Süddeutschen Zeitung“, abrufbar unter: https://www.sueddeutsche.de/politik/homosexuelle-tschetschenien-berlin-1.5268603?reduced=true, unter anderem wie folgt:

„Als der russische Staat seine Waisenrente zurückforderte, die er nach dem Tod seines Vaters bekommen hatte, war er nicht nur mit seinen Kräften, sondern auch finanziell am Ende. Aus Verzweiflung bot er im Internet seine Niere zum Verkauf an, die Reaktionen waren mitfühlend, solidarisch, ermutigend. Einige wollten ihm Geld schicken, was er ablehnte. Aber einer der Wohlmeinenden gewann sein Vertrauen. „Er sagte, er arbeite in einem Nachtklub in Moskau und wolle mir helfen“, erzählt Mowsar. „20 Jahre lang war ich getäuscht worden, die Lügen hatten meine Seele zerstört. Mir gefiel seine Stimme. Zum ersten Mal öffnete ich mich einem anderen Menschen gegenüber und erzählte die Wahrheit über mich.“ Die beiden tauschten Nachrichten aus, dann Fotos, schließlich verabredeten sie ein Treffen in der Nähe einer Moschee. Dort warteten Männer auf ihn, die er kannte. Der vermeintliche Freund war ein Polizist, das Ganze eine Falle.

Sie schleppten ihn in den Wald, nahmen sein „Geständnis“ auf Video auf und verlangten 200 000 Rubel für ihr Schweigen. Sie hätten eine Million fordern können, er hätte das Geld nicht gehabt. Das Video kam in die Welt, die Hölle brach los, und der Bloßgestellte floh nach Stawropol, nördlich von Tschetschenien. Er lebte von Abfall, schlief auf der Straße, kehrte erst zurück, als sich alles ein wenig beruhigt hatte, als ein Neuanfang möglich schien. In der Kulturabteilung in Grozny habe er eine Stelle gefunden, Drehbücher geschrieben, Trickfilme gedreht. „Es war eine schöpferische Zeit“. Dann schickte eine Kollegin von seinem Account zweideutige Nachrichten in die Welt. Eskarkhanow wurde entlassen. Er beschloss, Tschetschenien zu verlassen.“

Der Kläger bekannte sich nach seiner Flucht in die Bundesrepublik Deutschland im Jahre 2017 als erster Tschetschene in einem Interview mit dem US-amerikanischen Nachrichtenmagazin „Time“ öffentlich und aus eigenem freien Willen zu seiner Homosexualität und kritisierte zugleich den Umgang mit Homosexuellen in Tschetschenien („They Tell Me a Demon Lives Inside Me“, erschienen im September 2017 in dem Magazin „Time“, abrufbar unter: https://time.com/chechnya-movsar). In dem Artikel heißt es unter anderem wie folgt:

“They tell me that a demon lives inside me. (…) It’s getting worse here. (…) Before somebody kills me, I want to tell my story to the world. (…) Everything I’m going to tell you, I would say it all to Putin’s face. (…) I don’t care anymore.”

Übersetzung mit dem Onlinedient „DeepL“:

„"Sie sagen mir, dass ein Dämon in mir lebt. (...) Es wird immer schlimmer hier. (...) Bevor mich jemand umbringt, möchte ich der Welt meine Geschichte erzählen. (...) Alles, was ich Ihnen sagen werde, würde ich Putin ins Gesicht sagen. (...) Es kümmert mich nicht mehr."

Der Kläger wurde am 13. November 2017 von dem Korrespondenten des tschetschenischen Senders „Grosny TV“ Beslan Dadaev im Auftrag des tschetschenischen Sicherheitsapparats dazu genötigt, seine Aussage in der „Time“ unter Einnahme von Medikamenten gegen Epilepsie zu revidieren und sich bei dem tschetschenischen Volk und dem tschetschenischen Machthaber Ramsan Kadyrow zu entschuldigen. Andernfalls würde man ihm und seinen Verwandten etwas antun. Die zu diesem Zeitpunkt bereits todkranke Adoptivmutter des Klägers, die ihrerseits auch gezwungen wurde zu sagen, dass der Kläger ein Nichts für sie sei und sie ihn verfluche, ist unmittelbar nach Ausstrahlung des Interviews im tschetschenischen Fernsehen verstorben. Diesbezüglich heißt es in dem ArtikelFirst Chechen to Come Out as Gay Says Public Apology Was Forced“ vom 27. Dezember 2017, erschienen in der Zeitung „The Moscow Times“, abrufbar unter: https://www.themoscowtimes/2017/12/27/

first-chechen-gay-to-come-out-as-gay-says-public-apology-was-force-a60059, unter anderem wie folgt:

„The first Chechen man to come out as gay has said that he was forced to issue an apology to the leader and people of Chechnya last month after re-ceiving threats to his family. Movsar Eskarkhanov apologized on Chechen state television in November for telling Time magazine that he was persecuted for being gay in the republic. “They made it clear that if I continue to talk, there would be problems,” Eskarkhanov was cited as saying in an interview with the Kavkazsky Uzel news website on Monday. In his Nov. 13 apology, Eskarkhanov said that his coming-out was made under the influence of epilepsy medication. His account followed a Russian investigative newspaper report earlier this year of a large-scale crackdown on gay men in Chechnya. "They said that I must first think about my family. I was also told that if I continue to speak again, I would have problems,” Eskarkhanov was cited as saying by the international Russian-language channel RTVI. Chechens who lose favor with republic leader Ramsan Kadyrov regularly appear on television to make public apologies. Human Right Watch reported last year that several Chechens who went against the authorities were later forced to publicly apologize to local leadership“

Übersetzung mit dem Onlinedient „DeepL“:

„Der erste tschetschenische Mann, der sich als homosexuell geoutet hat, hat erklärt, er habe sich im vergangenen Monat beim tschetschenischen Staatschef und Volk entschuldigen müssen, nachdem er erneut Drohungen gegen seine Familie erhalten hatte. Mowsar Eskarkhanow entschuldigte sich im November im tschetschenischen Staatsfernsehen dafür, dass er dem Magazin Time gesagt hatte, er werde in der Öffentlichkeit verfolgt, weil er schwul sei. "Sie haben mir klar gemacht, dass es Probleme geben würde, wenn ich weiterrede", wurde Eskarkhanov am Montag in einem Interview mit der Nachrichten-Website Kavkazsky Uzel zitiert. In seiner Entschuldigung vom 13. November sagte Eskarkhanov, dass sein Coming-out unter dem Einfluss von Epilepsie-Medikamenten stattfand. Seine Erklärung folgte einem Bericht einer russischen Investigativzeitung, die Anfang des Jahres von einem groß angelegten Vorgehen gegen schwule Männer in Tschetschenien berichtete. "Sie sagten, ich müsse zuerst an meine Familie denken. Mir wurde auch gesagt, dass ich Probleme bekommen würde, wenn ich mich weiter äußere", wurde Eskarkhanov vom internationalen russischsprachigen Sender RTVI zitiert. Tschetschenen, die in Ungnade gefallen sind, treten regelmäßig im Fernsehen auf, um sich öffentlich zu entschuldigen. Human Right Watch berichtete letztes Jahr, dass mehrere Tschetschenen, die sich gegen die Behörden gestellt hatten, später gezwungen waren, sich öffentlich bei der lokalen Führung zu entschuldigen.“

In Bezug auf die erzwungene Entschuldigung heißt es in dem Artikel „Schwuler Tschetschene zu öffentlicher Entschuldigung gezwungen“ vom 29. Dezember 2017, erschienen in dem Magazin „Männer“, abrufbar unter: https://www.maenner.media/gesellschaft/ausland/schwuler-tschetschene-zu-entschuldigung-gezwung/, unter anderem wie folgt:

„Im September war Movsar Eskarkhanov der erste schwule Mann, der im Time Magazine öffentlich über die Schwulenverfolgung in seiner Heimat sprach und dabei sein Gesicht zeigte. Im November nahm er viele seiner Aussagen in einem TV-Interview zurück und entschuldigte sich dafür, dass er die Ehre seines Volkes verletzt habe. Wie sich nun herausstellt, wurde er zu der Entschuldigung gezwungen.“

Des Weiteren wird der Kläger regelmäßig im Internet aufgrund seiner sexuellen Orientierung angefeindet und mit dem Tod bedroht. So finden sich etwa unterhalb eines Fernsehbeitrags über den Kläger vom 7. Oktober 2017 auf dem unabhängigen russischsprachigen Fernsehsender RTVi (abrufbar unter: https://www.youtube.com /watch?v=7SC130USDDU), in dem der Kläger offen über seine Homosexualität, seine Fluchtgeschichte und seine Situation in Deutschland spricht, zahlreiche Kommentare mit Todesdrohungen und Beleidigungen.

Darüber hinaus wurden an dem Kläger seit Ankunft in der Bundesrepublik Deutschland bereits zwei Mordversuche verübt. Zum einen am 2016 seitens unbekannter, maskierter Männer in E ... und zum anderen am 2019 in der Flüchtlingsunterkunft in B ... seitens eines Tschetschenen namens I ... Letzterer wurde durch das Landgericht P ... u. a. aufgrund der Zeugenaussage des Klägers zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Diesbezüglich und in Bezug auf die vorbezeichneten Ereignisse heißt es in dem Artikel „Grozny TV in Germany“ vom 30. Mai 2018, erschienen auf der Website „Ichkeria AT“, abrufbar unter: http://ichkeria.at/?p=6662&lang=de, unter anderem wie folgt:

„Movsar was already pushed as a small child in the role of the outsider because he is born illegitimately but this was only a foretaste of what was to follow. His «coming out» in 2011 was highly involuntary. »An acquaintance with whom I had written only online turned out to be a police officer. They came, arrested and blackmailed me with photos they wanted to put online. I should pay them 200,000 rubles. But for what? I had no relationship with anyone, there was nothing to intimate. I gave them 10,000 rubles and my phone, but that was not enough, so they put the video on Youtube.«
But even after his escape to Germany, he is still threatened by acquaintances from his hometown Achkhoy-Martan and there have been already two attacks on him. The first was an attack with a knife in Eisenhüttenstadt (Brandenburg) and the second one was in his current asylum accommodation.
As if that were not enough for the humiliation, the Beslan Dadaev, correspondent of GroznyTV, paid him a visit in acquaintances and urged him to an apology in front of the camera. »It had been Western journalists who had drugged him and misled him to critical statements against Kadyrov … His own mental illness would be the reason that he speaks badly about Kadyrov.“

Übersetzung mit dem Onlinedient „DeepL“:

„Movsar wurde schon als kleines Kind in die Rolle des Außenseiters gedrängt, weil er unehelich geboren ist, aber das war nur ein Vorgeschmack auf das, was noch folgen sollte. Sein "Coming-out" im Jahr 2011 war höchst unfreiwillig. "Ein Bekannter, mit dem ich nur online geschrieben hatte, entpuppte sich als Polizist. Sie kamen, verhafteten mich und erpressten mich mit Fotos, die sie online stellen wollten. Ich sollte ihnen 200.000 Rubel zahlen. Aber wofür? Ich hatte keine Beziehung zu jemandem, es gab nichts Intimes. Ich gab ihnen 10.000 Rubel und mein Telefon, aber das war nicht genug, also stellten sie das Video auf Youtube."

Aber auch nach seiner Flucht nach Deutschland wird er noch von Bekannten aus seiner Heimatstadt Achkhoy-Martan bedroht, und es gab bereits zwei Angriffe auf ihn. Der erste war ein Angriff mit einem Messer in Eisenhüttenstadt (Brandenburg) und der zweite in seiner jetzigen Asylunterkunft.

Als wäre das noch nicht genug der Demütigung, stattete ihm Beslan-Dadaev, Korrespondent von GrosnyTV, einen Besuch im Bekanntenkreis ab und drängte ihn zu einer Entschuldigung vor der Kamera. "Es seien westliche Journalisten gewesen, die ihn unter Drogen gesetzt und zu kritischen Äußerungen gegen Kadyrow verleitet hätten ... Seine eigene Geisteskrankheit sei der Grund dafür, dass er schlecht über Kadyrow spricht.“

Der Kläger hat sein Verfolgungsschicksal in der mündlichen Verhandlung lebensnah und anschaulich vorgetragen. Er konnte gezielte Nachfragen des Gerichts stets direkt, ruhig, ohne Nachzudenken und zu Zögern beantworten. Die Verhandlung bot zu keinem Zeitpunkt Anzeichen für einen wahrheitswidrigen Vortrag. Die Art und Weise der Schilderung der Ereignisse legt nahe, dass es sich um durch den Kläger selbst erlebte Geschehen handelt.

Die Ausführungen des Klägers korrespondieren auch mit den einschlägigen Erkenntnismitteln.

In Tschetschenien hat Ramsan Kadyrow ein autoritäres Herrschaftssystem geschaffen. Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen politische Gegner, wird rigoros vorgegangen. Um die Kontrolle über die Republik zu behalten, wendet Kadyrow unterschiedliche Formen von Gewalt an. Die Bekämpfung der vorbezeichneten Personengruppen geht laut glaubwürdigen Aussagen von lokalen Nichtregierungsorganisationen (NROs) einher mit rechtswidrigen Festnahmen, Sippenhaft, Kollektivstrafen, spurlosem Verschwinden, Folter zur Erlangung von Geständnissen, fingierten Straftaten, außergerichtlichen Tötungen und Geheimgefängnissen, in denen gefoltert wird. Dies kann auch außerhalb Russlands stattfinden. Kadyrow steht im Verdacht, die Ermordung von unliebsamen Personen, die ins Ausland geflohen sind, angeordnet zu haben. Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen ist unzureichend. Recherchen oder Befragungen von Opfern vor Ort durch NROs sind nicht möglich; Regimeopfer müssen mitsamt ihren Familien aus Tschetschenien herausgebracht werden. Ramsan Kadyrow äußert regelmäßig Drohungen gegen Oppositionspolitiker, Menschenrechtsaktivisten und Minderheiten. Teilweise werden Bilder von Personen dieser Gruppen mit einem Fadenkreuz überzogen und auf Instagram veröffentlicht, teilweise droht er, sie mit Sanktionen zu belegen, da sie Feinde des tschetschenischen Volkes seien, oder er ruft ganz unverhohlen dazu auf, sie umzubringen. Bestimmte Gruppen genießen keinen effektiven Rechtsschutz. Hierzu gehören neben Oppositionellen, Regimekritikern und Menschenrechtlern auch Frauen, welche mit den Wertvorstellungen ihrer Familie in Konflikt geraten, LGBTI-Personen und diejenigen, die sich mit Republikoberhaupt Kadyrow bzw. seinem Clan angelegt haben. Regimekritiker und Menschenrechtler müssen mit Strafverfolgung aufgrund fingierter Straftaten und physischen Übergriffen bis hin zum Mord rechnen. Auch in diesen Fällen kann es zu Sippenhaft von Familienangehörigen kommen. Der Menschenrechtsaktivist und Leiter des Memorial-Büros in Tschetschenien, Ojub Titijew, wurde nach Protesten aus dem In- und Ausland inzwischen unter Auflagen aus der Haft entlassen. Er war wegen (wahrscheinlich fingierten) Drogenbesitzes im März 2019 zu einer Haftstrafe von vier Jahren verurteilt worden. Er selbst und Familienangehörige haben nach Angaben von Memorial Tschetschenien verlassen; er lebt in Moskau und hat seine Menschenrechtsaktivitäten wiederaufgenommen. Im September 2020 wurde Salman Tepsurkaew, Moderator eines Tschetschenien-kritischen Telegram-Kanals aus der Region Krasnodar vermutlich gewaltsam nach Tschetschenien verbracht. Anschließend wurde im Internet ein Video zirkuliert, auf dem er sich - offenbar unter Zwang - selbst sexuell erniedrigt. Er ist seitdem verschwunden. Tschetschenische Behörden verweigern bislang eine Aufklärung des Falls (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 28. September 2022, S. 14; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation vom 9. November 2022, S. 9-10 und 21 ff.).

Die Lage für Homosexuelle stellt sich Seite 15 bis 16 des Berichts des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 28. September 2022 in Tschetschenien wie folgt dar:

„2017 und in geringem Ausmaß auch Anfang 2019 kam es laut „LGBTI Network“ zur gezielten Verfolgung von Homosexuellen durch staatliche Sicherheitskräfte. Im April 2017 berichtete die „Nowaja Gaseta“ über die Festnahme und Folter von über 100 Homosexuellen durch tschetschenische Sicherheitskräfte. In mindestens sechs Fällen seien die Opfer ermordet worden, andere hätten nach ihrer Freilassung Tschetschenien verlassen. Mehrere NROs berichteten, dass homosexuelle Frauen und Männer bei ihnen in anderen Landesteilen Schutz gesucht hätten. Als Reaktion auf die Berichte haben mehrere Staaten Opfer aufgenommen, die über „LGBTI Network“ vermittelt wurden. Staatspräsident Putin hat eine Untersuchung der Vorfälle angeordnet, die bisher zu keinen Ergebnissen geführt hat.

(…)

Medienberichte, denen zufolge in Tschetschenien Anfang 2019 über 40 LGBTI-Personen festgenommen und zwei zu Tode gefoltert worden seien, wurden von russischen Behörden dementiert. Lokale Behördenvertreter sagten 2019 einem Beauftragten der Parlamentarischen Versammlung des Europarats, dass in Tschetschenien (sinngemäß) weder Homosexuelle noch Menschenrechtsverletzungen existierten. Nach Einschätzung von Experten gebe es nach den Regeln des Adat (lokales tschetschenisches Gewohnheitsrecht) bei Bekanntwerden von Homosexualität bei Einzelpersonen verschiedene Möglichkeiten für einen Familienverbund, diese empfundene Schande zu sühnen. Denkbar seien etwa eine Zwangsheirat, die engmaschige Kontrolle der Bewegungsfreiheit der Person, eine öffentliche Entschuldigung (u.a. beim Präsidenten der Region, Kadyrow), Freiheitsberaubungen, Umerziehung durch Exorzismus, Gewalt gegen solche Personen bis hin zu Ehrenmorden. Die Entscheidung darüber werde letztlich vom Familienoberhaupt getroffen, der als eine Art Friedensrichter zwischen widerstreitenden Positionen im Familienverband vermitteln müsse. Beim Bekanntwerden von Homosexualität werde schwerer Druck auf den Familienverband und dessen Oberhaupt ausgeübt, eine empfundene Schande zu sühnen und die Ehre der Familie wiederherzustellen. Gerade wenn ein Fall bereits in der Presse gewesen sei, könne angenommen werden, dass der Fall durch Weiterverbreitung in den sozialen Medien bekannt sei. Hieraus entstünde eine empfundene Schande für das ganze Volk, nicht nur die Familie. Wahrgenommene Schwere und Öffentlichkeit eines Falls seien Faktoren, die für die Schwere der Strafe relevant sein könnten. Auch die Flucht eines Homosexuellen erhöhe das Risiko eines Ehrenmordes. Nach NRO-Berichten wurden 2018/2019 ebenfalls lesbische Frauen Ziel von Verfolgung. Anders als bei homosexuellen Männern spiele hier jedoch nicht primär die staatliche Verfolgung, sondern Zwangsverheiratung und andere Maßnahmen durch das familiäre Umfeld eine Rolle. Im Berichtszeitraum wurden zwei LGBTI-Aktivisten und Kritiker der tschetschenischen regionalen Regierung gegen ihren Willen von Nischni Nowgorod nach Tschetschenien verbracht und dort vor Gericht gestellt. Zudem wird die lesbische Khalimat Taramova seit August 2021 vermisst, die von ihrer Familie nach Tschetschenien entführt worden sein soll. Im Juni 2021 hatte bereits der EGMR Russland aufgefordert, zu ihrem Fall Informationen zu liefern.“

Hinzuweisen ist auch darauf, dass der in Russland bekannte Popstar Zelimkhan Bakaev von tschetschenischen Behörden verhaftet, gefoltert und wegen des Verdachts auf Homosexualität getötet worden sein soll. Bakaev sei zuletzt am 8. August 2017 in Grosny gesehen worden, wo er an der Hochzeit seiner Schwester teilnehmen wollte. Dort sei er nie angekommen. Sein Instagram-Account sei gelöscht, auf seinem Twitter-Account seien seitdem keine aktuellen Tweets mehr zu lesen. Igor Kocketkovof, ein Vertreter des russischen Schwulen-und-Lesben-Netzwerks, habe "Ende August bestätigt bekommen, dass Bakaev wegen des Verdachts auf Homosexualität von tschetschenischen Behörden gefangen gehalten wurde." Der 26-Jährige Sänger sei zu Tode gefoltert worden, wird eine weitere Quelle zitiert: "Als er in Grosny ankam, wurde er innerhalb von drei Stunden von der Polizei festgenommen, innerhalb von zehn Stunden war er tot." (https://kurier.at/chronik/weltchronik/russischer-popstar-soll-gefoltert-und-getoetet-worden-sein/293.772.805)

Im Rahmen eines seitens des US-Senders „HBO“ mit dem tschetschenischen Machthaber Kadyrow durchgeführten Interviews, antwortete dieser auf die Frage des HBO-Reporters, was er zur Verfolgung und Folter homosexueller Männer in Tschetschenien sage, folgendes in Übersetzung aus dem Tschetschenischen: "Das ist Schwachsinn. Wir haben hier keine dieser Leute. Wir haben keine Schwulen. Wenn es welche gibt, bringt sie nach Kanada. Gott sei gepriesen. Bringt sie sehr weit weg von uns, sodass wir sie nicht hier zu Hause haben. Um unser Blut zu reinigen. Wenn es hier irgendwelche gibt, nehmt sie." (abrufbar unter: https://www.n-tv.de/politik/Kadyrow-nennt-Schwule-Teufel-article19942302.html).

Die klägerseits befürchteten und glaubhaft vorgetragenen Verfolgungshandlungen knüpfen an die Zugehörigkeit des Klägers zu einer sozialen Gruppe i. S. v. §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG an.

Als bestimmte soziale Gruppe, an deren Zugehörigkeit eine Verfolgung anknüpfen kann, gilt eine Gruppe nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG insbesondere, wenn deren Mitglieder angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund gemein haben, der nicht verändert werden kann, oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird; als eine bestimmte soziale Gruppe kann auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Orientierung gründet. Dabei ist unerheblich, ob der Ausländer diese Merkmale, die zur Verfolgung führen, tatsächlich aufweist, sofern sie ihm von seinem Verfolger zugeschrieben werden (§ 3b Abs. 2 AsylG).

Nach diesen Maßgaben hat das Gericht keine Zweifel daran, dass der Kläger homosexuell ist. Des Weiteren ist nach der Auskunftslage davon auszugehen, dass er damit in der Russischen Föderation einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG angehört, deren Mitglieder aufgrund ihrer sexuellen Orientierung nach den hierzu vom Europäischen Gerichtshof aufgestellten Kriterien (EuGH, Urteil vom 7. November 2013 - C-199/12 bis C-201/12 - juris Rn. 44-49) eine deutlich abgegrenzte Identität haben, da sie von der dortigen Gesellschaft als andersartig betrachtet werden (so auch Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Urteil vom 19. April 2021 - 11 B 19.30575 - juris, Rn. 21 und VG Oldenburg, Urteil vom 13. Juli 2022 - 6 A 567/21, juris). Denn erhebliche Teile der Bevölkerung der Russischen Föderation haben Vorbehalte gegenüber Homosexuellen (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 28. September 2022, S. 11-12; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation vom 9. November 2022, S. 88-91). Das Auswärtige Amt fasst in seinem Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 28. September 2022 die Situation für lesbische, schwule, bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche Menschen (LGBTI) in Russland auf den Seiten 5, 11 bis 12 wie folgt zusammen:

„Homosexualität ist nicht strafbar, Homophobie jedoch verbreitet. LGBTI-Personen müssen mit Diskriminierungen bis hin zu physischen Übergriffen rechnen. Laut glaubhaften Berichten (u.a. auch in den Medien) gab es zudem 2017 und 2019 in Tschetschenien Verfolgungsmaßnahmen durch lokale Behörden. Auch nach dem Ende dieser organisierten Verfolgung ist das Gefahrenpotenzial für LGBTI-Personen im Nordkaukasus am größten.

(…)

Homosexualität ist in Russland seit 1993 nicht mehr strafbar, die sog. „Verbreitung von Propaganda für nicht-traditionelle sexuelle Beziehungen gegenüber Minderjährigen“ hingegen schon. Verstöße gegen diese Vorschriften können mit teils empfindlichen Geldstrafen (z.B. bis zu einer Mio. Rubel bei juristischen Personen) geahndet werden. Sie werden allerdings in der Praxis nur selten verhängt. Dennoch wird die Gesetzgebung durch russische Behörden genutzt, um Organisationen aus dem LGBTI-Bereich unter Druck zu setzen, etwa durch Sperrung von Webseiten oder Nichtgenehmigung von Veranstaltungen. Die Eröffnungsveranstaltung des seit 2008 jährlich stattfindenden LGBTI-Filmfestivals „Side by Side“ in St. Petersburg wurde im November 2021 - wohl aufgrund dessen - abgesagt, die Veranstaltung findet nun (überwiegend) online statt. Im November 2021 wurde zudem die russlandweit tätige NRO „LGBTI-Netzwerk“ und einer ihrer Gründer als „ausländischer Agent“ eingestuft, die NRO „Sfera“ (Schwerpunkt: LGBTI-Rechte) wurde von einem Gericht aufgelöst. Die Situation für Homosexuelle ist regional sehr unterschiedlich, die Toleranz variiert oftmals nach Größe der Stadt und empfundener Nähe zu Europa. In St. Petersburg findet jährlich ein „Queer-Fest“ statt. 2019 gelang es seinen Organisatoren erstmals, Sponsoren aus der Privatwirtschaft zu gewinnen; der örtliche Ombudsmann für Menschenrechte Schischlow unterstützte den Dialog der Organisatoren mit den Sicherheitsbehörden zur Gewährleistung der Sicherheit der Teilnehmer. In einigen Bereichen des Nordkaukasus, insbesondere in Tschetschenien, müssen LGBTI-Personen mit massiver Verfolgung rechnen (siehe auch. II.3 Tschetschenien).

Insgesamt können Veranstaltungen, die innerhalb der Community stattfinden, eher durchgeführt werden als solche, die sich offen an alle, auch an Außenstehende richten. Corona-Bestimmungen wurden im Berichtszeitraum von Sicherheits- und Ordnungsbehörden mehrfach genutzt, um Veranstaltungen der LGBTI-Community abzusagen oder vorzeitig aufzulösen. Bei einer Umfrage des unabhängigen Meinungsforschungsinstituts „Levada Zentrum“ vom September 2021 gaben 3 % der Befragten an, sie hätten eine positive Einstellung zu Menschen mit homosexueller Orientierung. 38 % begegnen Menschen mit homosexueller Orientierung mit Abscheu oder Angst - diese Zahl ist in den letzten 20 Jahren deutlich gestiegen. 32 % stehen dem Thema gleichgültig gegenüber. Bei der Zahl von Gewaltverbrechen gegen Homosexuelle verzeichnete die Menschenrechtsorganisation „SOVA“ für das Jahr 2021 einen leichten Anstieg gegenüber dem Vorjahr: Es kam zu 21 gewalttätigen Angriffen (gegenüber 16 im Jahr 2020), Todesfälle wurden nicht registriert (2019: ein Todesfall). Von einer hohen Dunkelziffer ist auszugehen. LGBTI-Personen können im Alltag Diskriminierungen ausgesetzt sein. Am stärksten gefährdet sind Transgender, die von der Öffentlichkeit als männlich wahrgenommen werden, sich aber entsprechend ihrer sexuellen Identität feminin kleiden und z. B. schminken, und Personen, die sich öffentlich für Rechte von LGBTI-Personen einsetzen. 2019 wurden im Internet von Unbekannten erneut Listen mit Namen von LGBTI-Aktivisten zirkuliert, gegen die homophobe Gruppierungen Drohungen aussprachen. Im Juli 2019 wurde die Aktivistin Jelena Grigorjewa, die auf einer solchen Liste stand, getötet. Die Strafverfolgungsbehörden gehen nicht von einem homophoben Motiv aus. Der staatliche Schutz vor solchen Übergriffen Dritter scheint unzureichend. Homosexuelle können sich nicht überall darauf verlassen, dass Polizeikräfte sie bei Veranstaltungen oder Demonstrationen vor Übergriffen Dritter schützen. Laut Aussagen von NROs bringen Opfer von homophoben Straftaten diese häufig nicht zur Anzeige. Wird Anzeige erstattet, weigert sich nach Erkenntnissen der NRO „LGBTQIA Moscow, Raduga und Stimul“ die Polizei häufig, sie aufzunehmen, wenn das Opfer den homophoben Hintergrund der Tat benennt. Eine Ahndung der Tat durch die Justiz ist dann nur möglich, wenn das Tatopfer Beschwerde bei der vorgesetzten Polizeidienststelle, der Staatsanwaltschaft oder bei Gericht einlegt. Es liegen keine Erkenntnisse vor, inwiefern solche Beschwerden erfolgreich bzw. erfolglos sind.“

Am 5. Dezember 2022 trat zudem nach der Unterzeichnung durch Präsident Putin eine Gesetzesnovelle in Kraft, mit der das seit 2013 geltende Verbot des „Propagierens nicht-traditioneller sexueller Beziehungen“ in Gegenwart von Minderjährigen auf weitere Personen und Sachverhalte ausgedehnt wurde. Demnach besteht künftig ein generelles, auch erwachsene Personen untereinander umfassendes Verbot, entsprechende Beziehungen und Ausrichtungen positiv darzustellen, so auch in den sozialen Medien, in Büchern und in Filmen. Daneben ist gegenüber Minderjährigen künftig bereits die Verbreitung bloßer Informationen über LGBTIQ-bezogene Themen sowie von Inhalten, die geeignet sind, den Wunsch nach einer Geschlechtsumwandlung hervorzurufen, untersagt. Bei Zuwiderhandlung sind gemäß dem Gesetz über Ordnungswidrigkeiten hohe Geldbußen von bis zu 400.000 RUB (rd. 6.340 EUR, Stand: 06.12.22) für Einzelpersonen sowie bis zu fünf Mio. RUB (rd. 79.240 EUR, Stand: 06.12.22) oder eine Geschäftssperre von bis zu 90 Tagen für juristische Personen möglich. Auch sieht das Gesetz die Sperrung von Internetseiten mit entsprechenden Inhalten ohne vorausgehenden Gerichtsbeschluss durch die Medienaufsichtsbehörde vor. Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten befürchten einen durch das Gesetz motivierten Anstieg der Hass- und Gewaltverbrechen gegen LGBTIQ-Personen sowie Willkür bei der Anwendung des Gesetzes durch Polizei und Justiz und eine vollständige Verdrängung sexueller Minderheiten aus dem öffentlichen Raum. Angesichts der Unbestimmtheit des Gesetzestextes sei dabei auch nicht auszuschließen, dass bereits das öffentliche Bekenntnis zur eigenen Homosexualität oder Transgeschlechtlichkeit künftig als „Propaganda“ gewertet werde. Einige kleinere Organisationen, die sich für die Rechte von LGBTIQ-Personen einsetzen, haben Medienberichten zufolge als Reaktion auf die drohenden Sanktionen ihre Arbeit eingestellt (BAMF, Briefing Notes Gruppe 62 - Informationszentrum Asyl und Migration vom 6. Dezember 2022).

Dem Kläger steht in der Russischen Föderation auch keine inländische Fluchtalternative nach § 3e Abs. 1 AsylG zur Verfügung.

Gemäß § 3e Abs. 1 AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d hat (Nr. 1) und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (Nr. 2).

Es kann dahinstehen, ob auf der Grundlage der soeben dargestellten Erkenntnisse zur Lage von Homosexuellen in Tschetschenien und anderen Teilen Russlands in der Russischen Föderation bereits eine Gruppenverfolgung von Homosexuellen anzunehmen ist, sodass dem Kläger bereits vor diesem Hintergrund landesweit Verfolgung droht (dagegen: Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Urteil vom 19. April 2021 - 11 B 19.30575 - juris, Rn. 21 und VG Oldenburg, Urteil vom 13. Juli 2022 - 6 A 567/21, juris). Denn dem Kläger steht in der Russischen Föderation jedenfalls wegen landesweit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohender Verfolgungsmaßnahmen durch tschetschenische Sicherheitsbehörden keine inländische Fluchtalternative nach § 3e Abs. 1 AsylG zur Verfügung.

Für russische und tschetschenische Behörden ist es möglich, eine Person aufzufinden und zurück in den Nordkaukasus zu bringen, wenn sie offiziell von der Polizei gesucht wird (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation vom 9. November 2022, S. 96). Am 20. Januar 2022 etwa haben Männer, die dem Sicherheitsapparat des tschetschenischen Machthabers Ramsan Kadyrow zuzurechnen sind, die Frau des Richters Sajdi Jangulbajew aus dem 400 Kilometer östlich von Moskau gelegenen Nischni Nowgorod nach Tschetschenien verschleppt, wo sie anschließend inhaftiert wurde. Kadyrow verdächtigt zwei Söhne Jangulbajews, hinter einem regimekritischen Telegram-Kanal namens „1ADAT“ zu stehen. Die übrigen Mitglieder der Kernfamilie des Richters sind alle ins Ausland geflohen. Kadyrow droht, sie auch dort zu finden und zu „vernichten“ (https://www.faz.net/aktuell/politik/tschetschenien-ausser-kontrolle-kadyrows-blutrache-und-putins-schweigen-17779611.html).

Die Tschetschenische Republik ist offiziell Teil der Russischen Föderation. Obwohl Kadyrow die Polizei, die Sicherheitsbehörden und die Gerichte mit seinen eigenen Anhängern dicht besetzt hat, damit ihm ihre tatsächliche Macht zur Verfügung steht, so sind sie auch mit dem restlichen Machtapparat der Russischen Föderation verbunden. Dadurch können die tschetschenische Abteilung des FSB, der örtliche Ermittlungsausschuss und die Staatsanwaltschaft sowie das MVD und andere Behörden auf die Daten ihrer Amtskollegen landesweit zugreifen. Dies erstreckt sich auf die Ausstellung von Haftbefehlen und das Setzen von "Überwachungsvermerken" und ähnlichen Markierungen in nationale Datenbanken (einschließlich derjenigen, die zum Prüfen der Identitätsdokumente bei Ein- und Ausreise verwendet werden), mit der Erwartung, dass sie vollstreckt werden. Tatsächlich vollstrecken die Gerichte und die Polizei in Russland in Tschetschenien ausgestellte, rechtskräftige Haftbefehle, was normalerweise zur Rückführung nach Tschetschenien für das Gerichtsverfahren oder das Verbüßen einer Strafe führt(Galeotti, Lizenz zum Töten? Das Risiko für Tschetschenen innerhalb Russlands, Juni 2019, S. 6).

Ermittlungen wegen terroristischer Aktivitäten, der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung oder logistischer Unterstützung von Aufständischen fallen innerhalb der Russischen Föderation in die Zuständigkeit des FSB, bei Bezügen zu militärischen Interessen auch in die Zuständigkeit des Militärnachrichtendienstes. In Tschetschenien ist hingegen die Verantwortlichkeit für die Eindämmung terroristischer Aktivitäten weitgehend auf die Sicherheitsbehörden der Teilrepublik übertragen worden. Die tschetschenische Außenstelle des föderalen FSB ist nur selten in Einsätze im Zusammenhang mit Maßnahmen der Terrorismusbekämpfung eingebunden. In der weit überwiegenden Mehrzahl der Fälle werden derartige Operationen durch die tschetschenische Polizei oder paramilitärische Sondereinsatzkräfte durchgeführt, die sich fast ausschließlich aus tschetschenischen Volkszugehörigen rekrutieren. Eine koordinierte Zusammenarbeit zwischen tschetschenischen Sicherheitskräften und föderalen Behörden ist regelmäßig nicht zu verzeichnen (VG Frankfurt (Oder), Urteil vom 17. Juni 2020 - 6 K 741/13.A - juris, Rn. 18; http://government.ru/en/department/113/).

Die regionalen Strafverfolgungsbehörden können Menschen auf der Grundlage von in ihrer Heimatregion erlassenen Rechtsakten auch in anderen Gebieten der Russischen Föderation in Gewahrsam nehmen und in ihre Heimatregion verbringen lassen. Sofern keine Strafanzeige vorliegt, können Untergetauchte durch eine Vermisstenanzeige ausfindig gemacht werden. Kritiker, die Tschetschenien aus Sorge um ihre Sicherheit verlassen mussten, fühlen sich daher häufig auch in russischen Großstädten vor dem „langen Arm“ des Regimes von Ramsan Kadyrow nicht sicher (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 28. September 2022, S. 17).

Es kann zudem sein, dass die tschetschenischen Behörden nicht auf den vorbezeichneten, offiziellen Weg zurückgreifen, da diese Vorgehensweise eine schlüssige Begründung erfordert und häufig lange dauert. Sicherheitskräfte, die Kadyrow zuzurechnen sind, sind nach Aussagen von Nichtregierungsorganisationen (NGO‘s) etwa auch in Moskau präsent. Verhaftungen durch tschetschenische Gesetzeshüter, die straffrei russlandweit operieren, und inoffizielle Überstellungen nach Tschetschenien sind gleichwohl weniger üblich. NGO‘s berichten jedoch von Einzelfällen aus Tschetschenien, in denen entweder die Familien der Betroffenen oder tschetschenische Behörden Flüchtende in andere Landesteile verfolgten, sowie von LGBTI-Personen (Lesbian, Gay, Bisexual, Transexuell/Transgender und Intersexual), die gegen ihren Willen von einem innerstaatlichen Zufluchtsort nach Tschetschenien zurückgeholt und dort Opfer von Menschenrechtsverletzungen geworden seien. Solche Fälle betrafen in mehreren Fällen, über die NGO‘s sowie unabhängige Journalisten berichteten, neben LGBTI-Personenauch Oppositionelle und Regimekritiker, darunter ehemalige Kämpfer und Anhänger der tschetschenischen Unabhängigkeitsbewegung. Morde wiederum, die auf Kadyrows Anweisungen oder eigeninitiativ innerhalb der Grenzen Russlands erfolgten, betrafen keine kleinformatigen Ziele, sondern seriöse politische Figuren, die mit Kadyrow selbst in Konflikt geraten waren, wie etwa Oppositionspolitiker, Clan-Machthaber oder Menschenrechtsaktivisten (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 28. September 2022, S. 17; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation vom 9. November 2022, S. 22-23; Galeotti, Lizenz zum Töten? Das Risiko für Tschetschenen innerhalb Russlands, Juni 2019, S. 2, 12 und 16).

Trotz der Rolle nationaler Datenbanken und Registrierungsgesetze, die eine Rückverfolgung von Personen ermöglichen, besteht für betroffene Personen ein gewisser Spielraum, Anonymität und Sicherheit in Russland zu finden, allerdings abhängig von den spezifischen Umständen. Die russischen Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden sind gerade vor dem Hintergrund der schlechten Beziehungen zwischen den tschetschenischen Machtstrukturen und denen ihrer Nachbarn sowie den gesamtrussischen Behörden in Moskau im Allgemeinen oft nicht bereit, als tschetschenische Vollstrecker aufzutreten, da sie oft skeptisch gegenüber Forderungen aus Grosny sind. Die föderalen Sicherheitsbehörden machen einen deutlichen Unterschied zwischen der Behandlung von Personen, die wegen Verbrechen in Tschetschenien gerichtlich verurteilt wurden, aufgrund einer klaren Beweislage einer schwerwiegenden, insbesondere politischen Straftat verdächtigt werden oder etwa der organisierten Kriminalität zuzuordnen sind und von jenen, welchen nur vorgeworfen wird, Verbrechen begangen zu haben, bzw. tschetschenienrelevanten Polizeifällen, die nicht schwerwiegend genug sind, um von Staatsanwälten oder dem FSB übernommen zu werden. Insofern ist es eher unwahrscheinlich, dass ein Tschetschene, der von Tschetschenien aus verfolgt wird, anderswo in Russland aktiv misshandelt wird, wenn nicht bereits ein Gerichtsurteil ergangen ist oder andere Behörden - im Wesentlichen der Inlandsgeheimdienst FSB, Generalstaatsanwaltschaft, Untersuchungskommission - davon überzeugt sind, dass ein substanzielles politisches Fehlverhalten oder ein Fall von organisierter Kriminalität vorliegt (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 28. September 2022, S. 17; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation vom 9. November 2022, S. 22-23; Galeotti, Lizenz zum Töten? Das Risiko für Tschetschenen innerhalb Russlands, Juni 2019, S. 11-12).

Hinsichtlich der Frage, in welchen Fällen ein derartiges besonderes Verfolgungsinteresse besteht, folgt das Gericht den überzeugenden Darlegungen
des Historikers und Leiters des Zentrums für Europäische Sicherheit in Prag
Mark Galeotti in seinem im Juni 2019 veröffentlichten Gutachten „Lizenz zum Töten? Das Risiko für Tschetschenen innerhalb Russlands“. Seiner Recherche zur Folge seien die Feinde von Ramsan Kadyrow sowohl in der Russischen Föderation wie auch außerhalb des Landes mit Gewalt oder Einschüchterung konfrontiert, und sein Sicherheitsapparat und seine Elite würden gleichermaßen über beträchtliche, wenn auch geringere, Mittel und Freiheit, um jede beliebige Person zu verfolgen, verfügen. Zwar erstrecke sich dies auch zu einem bestimmten Grad über die Grenzen Tschetscheniens hinweg auf den Rest der Russischen Föderation, aber weitverbreitete Annahmen über die Straffreiheit, mit der sie operieren und ihre Fähigkeit, jede beliebige Person zu finden und ins Visier zu nehmen, seien bei genauer Betrachtung stark vereinfacht. So würden nicht alle tschetschenienrelevanten Fälle in den nationalen Datenbanken landen. Zudem gäbe es einen klaren Unterschied zwischen der Behandlung von Personen, die in Tschetschenien wegen einer Straftat verurteilt wurden, und denen, die derer nur beschuldigt werden (Galeotti, Lizenz zum Töten? Das Risiko für Tschetschenen innerhalb Russlands, Juni 2019, S. 2-3, 7 und 10).

Galeotti differenziert hinsichtlich des Verfolgungsrisikos zwischen folgenden vier „Risikovarianten“:

„Personen, die persönlich im Visier von Kadyrow oder einem seiner höheren tschetschenischen Beamten sind, ob durch offizielle Kanäle oder nicht, können anderswo in Russland und auch außerhalb des Landes als bedroht angesehen werden, zumindest bis eine Lösung des Streits erreicht worden ist. Wenn sie aufgespürt werden, steht ihnen die glaubhafte Androhung von Gewalt bis hin zu und einschließlich der Ermordung bevor, und offizielle Anklagen sind auch möglich. (…)

Personen, die wegen einer Straftat verurteilt wurden oder die glaubhaft verdächtigt werden, ein Terrorist oder aktiver Unterstützer des Terrorismus zu sein, werden voraussichtlich innerhalb der gesamten Russischen Föderation gesucht. Wenn sie aufgespürt werden, ist ihre Verhaftung und Rückführung nach Tschetschenien wahrscheinlich. (…)

Personen, die offiziell einer Straftat angeklagt sind, aber nicht verurteilt wurden, werden zwar vermutlich innerhalb der Russischen Föderation gesucht, sind aber wahrscheinlich nicht der Gegenstand einer aktiven Suche seitens der tschetschenischen oder anderer russischer Behörden, sofern die Anklage nicht schwerwiegend genug ist, um die Aufmerksamkeit des Föderalen Sicherheitsdienstes oder eines Ermittlungsausschusses zu verdienen. Allerdings, falls und wenn sie von den Behörden beispielsweise durch Passkontrollen oder Wohnsitzregistrierung entdeckt werden, können sie verhaftet werden, oder die Behörden, die nach ihnen suchen, werden zumindest auf ihren Aufenthaltsort aufmerksam. Ersucht Grosny dann um ihre Verhaftung und Rückführung zurück nach Tschetschenien, so wird dem in der Regel entsprochen. (…)

Sonstige Personen, die die tschetschenischen Behörden oder Gruppen sowie Personen, die inoffiziell für sie arbeiten, verärgert haben, werden wesentlich weniger klar bedroht. Abhängig von der Art des Streits und der Position der Verfolger ist es möglich, dass sie ausfindig gemacht werden, entweder zum Zwecke der Einschüchterung oder Gewalt, oder der Verhaftung. Der Konsens zwischen den Quellen und den vorhandenen Beweisen lässt jedoch vermuten, dass dies unwahrscheinlich ist, sofern es sich nicht um größere Schulden oder andere Finanzbeteiligungen handelt. Diese Personen werden nicht sicher wieder nach Tschetschenien zurückkehren können, bis dieser Streit beigelegt ist, und ihre Familie und ihr Vermögen in Tschetschenien könnte in Gefahr sein. Darüber hinaus können sie aber wahrscheinlich unbehelligt leben, falls sie nicht ihre Verfolger direkt bedrohen oder herausfordern oder in ihrer Angelegenheit anderweitig Druck machen, oder falls die Verfolger nicht willens und in der Lage sind, die Angelegenheit zumindest auf eine halboffizielle Ebene zu eskalieren (wie die Verwendung des tschetschenischen Föderalen Sicherheitsdienstes, um einen Beobachtungsvermerk in ihre Akte zu setzen). Es ist natürlich oft schwer zu ermessen, ob diese Umstände auftreten werden oder nicht (…)“

Nach diesen Maßgaben besteht im Falle des Klägers jedenfalls ein landesweites Verfolgungsinteresse tschetschenischer Sicherheitsbehörden. Der Kläger gehört nicht nur dem LGBTI-Personenkreis an, sondern stellt auch eine besonders exponierte, da öffentlich aktive und wahrnehmbare Persönlichkeit dieser Personengruppe dar. So ist der Kläger in der Vergangenheit des Öfteren medial, und zwar unter Anderem in den zuvor in Bezug genommenen Zeitschriften „Time“ und „Männer“ und in den Zeitungen „Süddeutsche Zeitung“ und „The Moscow Times“, namentlich und fotografisch in Erscheinung getreten, hat sich dort explizit zu seiner Homosexualität bekannt und Tschetschenien und die Russische Föderation für den Umgang mit Homosexuellen kritisiert. Aus diesem Grund wurde er im Exil im Auftrag des tschetschenischen Sicherheitsapparats von dem Korrespondenten des tschetschenischen Senders „Grosny TV“ Beslan Dadaev aufgespürt und dazu genötigt, seine Aussage in der „Time“ zu revidieren und sich bei dem tschetschenischen Volk und dem tschetschenischen Machthaber Ramsan Kadyrow zu entschuldigen. Es fanden bereits zwei Mordversuche an dem Kläger in Deutschland statt. Bereits bei Eingabe des vollständigen Vor- und Nachnamens des Klägers bei der Suchmaschine Google gelangt man zu den vorbezeichneten und zahlreichen weiteren Artikeln, die die Fluchtgeschichte des Klägers thematisieren. Hinzu kommt, dass der Kläger über seinen Facebook-Account (https://www.facebook.com/movsar.eskarkhanov.39), Instagramm-Account (https://www.instagram.com/mister_5_/?hl=de), Youtube-Account (https://www.youtube.com/@movsaeskarkhanov8779) als auch TikTok-Account (https://www.tiktok.com/discover/movsar-eskirhanov?lang=en) - trotz Mordversuchen und trotz Aufforderung der tschetschenischen Machthaber, dies zu unterlassen, - nach wie vor offen über seine Homosexualität erzählt und seine kritische Haltung gegenüber Russland und Tschetschenien kundtut. Bei Gesamtwürdigung dieser Umstände besteht die reale Möglichkeit, dass der Kläger im Anschluss an die amtliche Registrierung oder eine Polizeikontrolle auf dem Gebiet der Russischen Föderation ggf. unter Mithilfe föderaler Behörden von den tschetschenischen Sicherheitsbehörden aufgespürt, verhaftet und nach Tschetschenien zurückgeführt wird und ihm dann aufgrund einer fingierten Straftat oder des jüngst in Russland verabschiedeten Gesetzes gegen "LGBTQ-Propaganda" willkürliche, unverhältnismäßige und diskriminierende Strafverfolgung und Bestrafung bis hin zur gezielten Ermordung drohen.

Die Tatsache, dass der Kläger sich erst nach der Ausreise aus der Russischen Föderation in zahlreichen Zeitungen, Zeitschriften und Sozialmedien zu seiner Homosexualität bekannt hat und sich erst aus dem Exil kritisch gegenüber dem Umgang Russlands und insbesondere Tschetscheniens mit Homosexuellen geäußert hat und nach wie vor äußert, steht der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht entgegen. Denn § 28 Abs. 2 Asyl besagt, dass die begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs.1 AsylG auf Ereignissen beruhen kann, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer - wie im Falle des Klägers - bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist.

Schließlich stehen § 3 Abs. 4 AsylG i.V.m. § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht entgegen.

Die unter Nummer 5 des streitgegenständlichen Bescheides verfügte Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung sind angesichts der Rechtswidrigkeit der Ablehnung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unter Nummer 1 ebenfalls rechtswidrig und daher aufzuheben (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Denn § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AsylG besagt, dass das Bundesamt eine schriftliche Abschiebungsandrohung nach den §§ 59 und 60 Abs. 10 AufenthG nur dann erlassen darf, wenn dem Ausländer nicht die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird. Dies hätte nach den vorangegangenen Ausführungen jedoch geschehen müssen. Da die Voraussetzungen für die Abschiebungsandrohung nicht vorlagen, war das Bundesamt auch nicht berechtigt, den Kläger nach § 59 Abs. 1 AufenthG aufzufordern, die Bundesrepublik freiwillig zu verlassen. Auch Nummer 4 ist aufzuheben, da die Feststellung, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 S. 1 AufenthG nicht vorliegen, regelmäßig gegenstandslos wird, wenn die Klage auf Zuerkennung von Flüchtlingsschutz Erfolg hat. Gleiches gilt für die unter Nummer 3 erfolgte Ablehnung subsidiären Schutzes.

Über die lediglich hilfsweise gestellten Anträge auf die Verpflichtung des Bundesamts zur Gewährung subsidiären Schutzes, jedenfalls Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbotes, ist nicht mehr zu entscheiden, da die Klage bereits mit dem vorrangig gestellten Antrag auf Zuerkennung von Flüchtlingsschutz erfolgreich ist.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 3, Abs. 2 VwGO. Nach § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO kann das Gericht einem Beteiligten die Kosten ganz auferlegen, wenn der andere Beteiligte nur zu einem geringen Teil unterlegen ist. Nach § 155 Abs. 2 VwGO gilt grundsätzlich, dass derjenige die Kosten zu tragen hat, der eine Klage zurücknimmt. § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO findet allerdings analog Anwendung auf Fallkonstellationen, in denen die Klage in Bezug auf einen geringen Teil zurückgenommen wird, der Kläger aber im Übrigen erfolgreich ist, da die teilweise Klagerücknahme insoweit mit dem teilweisen Unterliegen vergleichbar ist (so auch VG Minden, Gerichtsbescheid vom 25. September 2020 - 12 K 1047/19.A - juris, Rn. 25). Eine so gelagerte Konstellation liegt hier vor. Das Gericht macht Gebrauch von dem nach § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO eingeräumten Ermessen und legt der Beklagten die Kosten ganz auf, da die Klagerücknahme nur einen geringen Teil der Klage betrifft und durch den zurückgenommenen Antrag auf Asylanerkennung keine zusätzlichen Kosten verursacht worden sind.

Die sachliche Gerichtskostenfreiheit resultiert aus § 83b AsylG.

Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit den §§ 708 Nr. 11, 711 der Zivilprozessordnung (ZPO).