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Entscheidung 16 K 1551/20.A


Metadaten

Gericht VG Potsdam 16. Kammer Entscheidungsdatum 21.03.2023
Aktenzeichen 16 K 1551/20.A ECLI ECLI:DE:VGPOTSD:2023:0321.16K1551.20.A.00
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen § 26 AsylVfG 1992, § 3 AsylVfG 1992, § 34 Abs 1 AsylVfG 1992, § 38 AsylVfG 1992, § 38 Abs 1 AsylVfG 1992, § 4 AsylVfG 1992, § 77 AsylVfG 1992, § 77 Abs 1 AsylVfG 1992, § 77 Abs 3 AsylVfG 1992, § 11 Abs 1 AufenthG, § 11 Abs 2 AufenthG, § 11 Abs 3 AufenthG, § 25b AufenthG, § 59 Abs 1 AufenthG, § 60 Abs 1 AufenthG, § 60 Abs 2 AufenthG, § 60 Abs 5 AufenthG

Tenor

Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom ... 19. Juni 2020 wird hinsichtlich der Nummern 5 und 6 aufgehoben. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Kläger tragen die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens zu drei Vierteln und die Beklagte zu einem Viertel.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand

Die Kläger sind russische Staatsangehörige tschetschenischer Volkszugehörigkeit. Die Klägerin zu 1. wurde am ... 1991 und der Kläger zu 2. am ... 2014 in G ... (Russische Föderation) geboren.

Die Kläger reisten mit dem Ehemann der Klägerin zu 1. bzw. Vater des Klägers zu 2. namens T ... auf dem Landweg aus der Republik Polen kommend am 19. April 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellten am 12. Juni 2015 Asylanträge.

Am 12. August 2015 teilten die polnischen Behörden auf Anfrage des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Im Folgenden: Bundesamt) mit, dass der Ehemann der Klägerin zu 1. bzw. Vater des Klägers zu 2. am 20. Dezember 2007 in der Republik Polen einen Asylantrag gestellt und subsidiären Schutz gewährt bekommen habe. Auf dieser Grundlage habe er einen vom 16. Juni 2009 bis zum 16. Juni 2011 befristeten Aufenthaltstitel erhalten.

Mit Bezugnahme auf diese Schutzgewährung lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Ehemannes der Klägerin zu 1. bzw. Vaters des Klägers zu 2. mit Bescheid vom ... 3. Dezember 2015 als unzulässig ab.

Am 31. Mai 2016 hörte das Bundesamt die Klägerin zu 1. zu den Asylgründen der Kläger an. Dabei gab sie im Wesentlichen an, dass die Kläger die Russische Föderation aufgrund der Verfolgung des Ehemannes der Klägerin zu 1. bzw. Vaters des Klägers zu 2. durch Militärangehörige verlassen hätten. Ihr Ehemann sei am 14. Januar 2015 in Begleitung eines Militärangehörigen nach Hause gekommen und habe diesem 200.000 Rubel gegeben, woraufhin dieser gegangen sei. Das Geld habe ihr Ehemann bezahlen müssen, damit er freigelassen werde, nachdem er von Militärangehörigen einen Tag zuvor mitgenommen, nach seinem Bruder befragt und geschlagen worden sei. Die Männer hätten 400.000 Rubel verlangt, von denen er nur 200.000 Rubel sofort habe bezahlen können. Den Rest habe er innerhalb von zehn Tagen aufbringen wollen. Daraufhin habe ihr Ehemann sie zu ihren Eltern geschickt und sei selbst nach Moskau gereist, wohin sie ihm gemeinsam mit dem Kläger zu 2. im April 2015 gefolgt sei. Von Moskau aus sei die Familie über Weißrussland und Polen nach Deutschland gereist. Den Klägern sei vor der Ausreise nichts Konkretes zugestoßen. In der Zeit bei ihren Eltern sei die Klägerin zu 1. auch nicht befragt worden und niemand habe Geld von ihr verlangt. Sie habe in Russland weder Probleme mit der Polizei noch mit der Justiz gehabt.

Mit Bescheid vom 6. September 2016 lehnte das Bundesamt die Asylanträge der Kläger mit Verweis auf bereits in der Republik Polen gewährten internationalen Schutz als unzulässig ab, ordnete die Abschiebung in die Republik Polen an und erließ ein auf 30 Monate befristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot. Mit Beschluss vom 3. Dezember 2018 gab das hiesige Gericht dem dagegen eingelegten Eilantrag statt. Zur Begründung führte das Gericht aus, dass nur der Ehemann der Klägerin zu 1. bzw. Vater des Klägers zu 2. in der Republik Polen Schutz erhalten habe. Soweit das Bundesamt meine, aufgrund dieser Schutzgewährung entfalle auch der Anspruch der Kläger auf Durchführung eines Asylverfahrens, so lasse sich dies den gesetzlichen Regelungen nicht entnehmen.

Am 19. Juni 2017 sind die Klägerin zu 1. und ihr Ehemann Eltern eines weiteren Kindes namens A ... geworden, der ein eigenes Asylverfahren betreibt.

Mit Bescheid vom 19. Juni 2020 lehnte das Bundesamt die Anträge der Kläger auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nummer 1), Asylanerkennung (Nummer 2) und Gewährung subsidiären Schutzes (Nummer 3) ab. Weiter stellte das Bundesamt fest, dass Abschiebungsverbote nicht vorliegen (Nummer 4). Das Bundesamt forderte die Kläger dazu auf, die Bundesrepublik Deutschland für den Fall der Klageerhebung innerhalb von 30 Tagen nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen und drohte die Abschiebung in die Russische Föderation, die Republik Polen oder einen anderen Staat an, in den die Kläger einreisen dürfen oder der zu ihrer Rückübernahme verpflichtet ist (Nummer 5). Schließlich verfügte das Bundesamt ein auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot (Nummer 6).

Hiergegen haben die Kläger am 20. Juni 2020 unter Bezugnahme auf ihr Vorbringen im Verwaltungsverfahren Klage erhoben.

Die Kläger beantragen,

die Beklagte unter Aufhebung der Nummern 1, 3, 4, 5 und 6 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 19. Juni 2020 zu verpflichten, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,

hilfsweise subsidiären Schutz zu gewähren und

höchst hilfsweise festzustellen, dass die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Aufenthaltsgesetz vorliegen.

Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Klage abzuweisen

und nimmt zur Begründung Bezug auf die Ausführungen in dem angefochtenen Bescheid.

Am 19. Juli 2020 sind die Klägerin zu 1. und ihr Ehemann Eltern eines weiteren Kindes namens U ... geworden.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten der Kläger und des Ehemannes der Klägerin zu 1. bzw. Vaters des Klägers zu 2. mit dem Az. VG 6 K 3920/17.A und den Inhalt der in diesen beiden Verfahren beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Bundesamtes verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die Entscheidung ergeht durch den Berichterstatter als Einzelrichter (vgl. § 76 Abs. 1 des Asylgesetzes [AsylG]). Der Einzelrichter konnte trotz Ausbleibens der Beklagten in der mündlichen Verhandlung verhandeln und entscheiden, denn sie wurde in der Ladung nach § 102 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) auf diese Rechtsfolge hingewiesen.

Die Klage hat nur in dem tenorierten Umfang Erfolg. Sie ist zulässig, jedoch überwiegend unbegründet.

Die Kläger haben in dem nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung weder einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG noch auf die Gewährung subsidiären Schutzes aus eigenem Recht nach § 4 AsylG oder abgeleitetem Recht nach §§ 26 Abs. 1, 2 und 5 AsylG (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).

Der Einzelrichter stellt nach Durchführung der mündlichen Verhandlung fest, dass er dem streitgegenständlichen Bescheid hinsichtlich der tatsächlichen Feststellungen und der Begründung in Bezug auf die Ablehnung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG und der Gewährung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 AsylG, denen die Kläger weder schriftsätzlich noch im Rahmen der mündlichen Verhandlung, geschweige denn mit Substanz, entgegengetreten sind, vollumfänglich folgt und verzichtet deshalb gemäß § 77 Abs. 3 AsylG insoweit auf eine Darstellung der Entscheidungsgründe.

Die Kläger haben auch keinen abgeleiteten Anspruch nach § 26 Abs. 5, Abs. 1 AsylG (Klägerin zu 1. als Ehegattin) bzw. nach § 26 Abs. 5, Abs. 2 AsylG (Kläger zu 2. als minderjähriges lediges Kind) mit Blick darauf zu, dass dem Ehemann der Klägerin zu 1. bzw. Vater des Klägers zu 2. in der Republik Polen subsidiärer Schutz gewährt wurde. Denn § 26 Abs. 5 AsylG ist dahingehend auszulegen, dass er voraussetzt, dass dem Ehegatten bzw. Elternteil des minderjährigen ledigen Kinds in der Bundesrepublik Deutschland und nicht in einem anderen EU-Mitgliedstaat subsidiärer Schutz gewährt wurde.

Der Wortlaut des § 26 AsylG lässt eine Auslegung im Sinne der Kläger zwar zu. Denn in § 26 Abs. 5 AsylG ist die Rede von „Familienangehörigen von international Schutzberechtigten“ und nicht etwa die Rede von „Familienangehörigen von international Schutzberechtigten, denen durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge internationaler Schutz gewährt wurde“.

Gegen eine entsprechende Auslegung spricht jedoch, dass die von der Zuerkennung internationalen Schutzes in einem anderen EU-Mitgliedstaat ausgehenden Rechtswirkungen nationalrechtlich in § 60 Abs. 1 Satz 2 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) abschließend geregelt sind. Danach schließt die für einen bestimmten Staat ausgesprochene ausländische Anerkennung als Flüchtling die Abschiebung in diesen Staat auch für Deutschland aus. Durch diese nationale Regelung hat der deutsche Gesetzgeber eine auf den Abschiebungsschutz begrenzte Bindungswirkung der ausländischen Flüchtlingsanerkennung angeordnet, aus der aber kein Anspruch auf neuerliche Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft folgt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 7. September 2022, BVerwG 1 C 26.21 - juris, Rn. 12, BVerwG, Urteil vom...30. März 2021 - 1 C 41/20 - juris, Rn. 32). Für die den subsidiären Schutz betreffende Regelung in § 60 Abs. 2 AufenthG gilt dies nach dem Wortlaut der Norm wiederum nicht, denn § 60 Abs. 2 Satz 2 AufenthG ordnet lediglich die entsprechende Geltung des § 60 Abs. 1 Satz 3 und 4 AufenthG, nicht jedoch des § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG an (vgl. VG Göttingen, Urteil vom 18. August 2021 - 2 A 74/21 - juris, Rn. 35). Durch diese nationale Regelung hat der deutsche Gesetzgeber keine auf den Abschiebungsschutz bezogene Bindungswirkung der ausländischen Gewährung subsidiären Schutzes angeordnet, geschweige denn einen Anspruch auf neuerliche Gewährung subsidiären Schutzes aus eigenem oder abgeleitetem Recht normiert.

Eine andere Auslegung gebietet auch nicht das Unionsrecht.

Das primäre Unionsrecht sieht eine Anerkennung positiver Asylentscheidungen nicht vor. Vielmehr bleibt die inhaltliche Prüfung der Voraussetzungen des Antrags auf internationalen Schutz Sache des Mitgliedstaates, bei dem dieser Antrag gestellt wurde (vgl. BVerwG, Beschluss vom 7. September 2022, BVerwG 1 C 26.21 - juris, Rn. 17 ff.).

Zudem entspricht es auch der bisherigen bundesverwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung, dass auch das Sekundärrecht der Union keine Regelung des verfahrensrechtlichen oder des materiellen Flüchtlingsrechts kennt, die ausdrücklich eine Bindung an die Zuerkennung internationalen Schutzes durch einen Mitgliedstaat für das Asylverfahren eines anderen Mitgliedstaates vorschreibt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 7. September 2022, BVerwG 1 C 26.21 - juris, Rn. 22).


Soweit das Bundesverwaltungsgericht mit vorbezeichnetem Beschluss vom 7. September 2022 das Verfahren ausgesetzt und gemäß Art. 267 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) den Gerichtshof der Europäischen Union um Vorabentscheidung ersucht hat, ob in einem Fall, in dem ein Mitgliedstaat von der Befugnis, einen Antrag auf internationalen Schutz im Hinblick auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in einem anderen Mitgliedstaat als unzulässig abzulehnen, keinen Gebrauch machen darf, weil die Lebensverhältnisse in diesem Mitgliedstaat den Antragsteller der ernsthaften Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Europäischen Grundrechtecharta (GRC) aussetzen würden, das einschlägige Sekundärrecht dahin auszulegen ist, dass die bereits erfolgte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft den Mitgliedstaat daran hindert, den bei ihm gestellten Antrag auf internationalen Schutz ergebnisoffen zu prüfen, und ihn dazu verpflichtet, ohne Untersuchung der materiellen Voraussetzungen dieses Schutzes dem Antragsteller die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, vermögen die Kläger daraus keine für sie günstigen Schlüsse zu ziehen.

Denn das dem Vorabentscheidungsverfahren zu Grunde liegende nationale Verfahren betraf eine Klägerin, der bereits in Griechenland die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde und die nicht nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG dorthin abgeschoben werden kann, da ihr nach einer rechtskräftigen Entscheidung eines Verwaltungsgerichts die ernsthafte Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC drohen würde. Im Gegensatz dazu wurde den Klägern des hiesigen Verfahrens nicht in einem anderen EU-Mitgliedstaat internationaler Schutz gewährt, so dass die von dem Bundesverwaltungsgericht an den EuGH gestellten Fragen vorliegend nicht von Relevanz sind. Jedenfalls liegt eine Entscheidung des EuGHs, auf Grundlage der die Kläger insoweit für sich günstige Schlüsse ziehen können, nicht vor.

Unabhängig davon sieht die Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Qualifikationsrichtlinie) eine Erstreckung des internationalen Schutzes kraft Ableitung auf Familienangehörige einer Person, welcher die Flüchtlingseigenschaft oder der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt worden ist, bereits nicht vor (vgl. BVerwG, Urteil vom... ... 25. November 2021 - 1 C 4/21 - juris, Rn. 12 ff.).

Resümierend könnte allenfalls ein in der Bundesrepublik Deutschland zu Gunsten des Ehemannes der Klägerin zu 1. bzw. des Vaters des Klägers zu 2. verliehener subsidiärer Schutztitel einen abgeleiteten Anspruch nach § 26 Abs. 5, Abs. 1 AsylG bzw. nach § 26 Abs. 5, Abs. 2 AsylG begründen. Das Bundesamt hat den in der Bundesrepublik Deutschland gestellten Asylantrag des Ehemannes der Klägerin zu 1. bzw. Vaters des Klägers zu 2. jedoch mit Bescheid vom 17. Juni 2020 vollumfänglich und unanfechtbar abgelehnt. Damit wurde unter anderem bestandskräftig entschieden, dass dem Ehemann der Klägerin zu 1. bzw. Vater des Klägers zu 2 in der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere auch nicht auf Grundlage des in der Republik Polen erteilten subsidiären Schutztitels, kein Anspruch auf subsidiären Schutz zusteht.

Des Weiteren besteht auch kein Anspruch der Kläger auf die hilfsweise begehrte Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG.

Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit eine Abschiebung nach den Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) unzulässig ist. Dies umfasst auch das Verbot der Abschiebung in einen Zielstaat, in dem dem Ausländer unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne von Art. 3 EMRK droht. Eine Verletzung des Art. 3 EMRK kommt in besonderen Ausnahmefällen auch bei "nichtstaatlichen" Gefahren aufgrund prekärer Lebensbedingungen in Betracht, bei denen ein "verfolgungsmächtiger Akteur" (§ 3c AsylG) fehlt, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung "zwingend" sind mit Blick auf die allgemeine wirtschaftliche Lage und die Versorgungslage betreffend Nahrung, Wohnraum und Gesundheitsversorgung. Die einem Ausländer im Zielstaat drohenden Gefahren müssen hierfür jedenfalls ein "Mindestmaß an Schwere" (minimum level of severity) aufweisen; es kann erreicht sein, wenn er seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern kann, kein Obdach findet oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhält. Maßgeblich ist, ob sich die betroffene Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre. Für die Prognose der bei einer Rückkehr drohenden Gefahren ist bei realitätsnaher Betrachtung der Rückkehrsituation im Regelfall davon auszugehen, dass eine im Bundesgebiet in familiärer Gemeinschaft lebende Kernfamilie (Eltern und minderjährige Kinder) im Familienverband in ihr Herkunftsland zurückkehrt. Von einer gemeinsamen Rückkehr im Familienverband ist für die Rückkehrprognose im Regelfall auch dann auszugehen, wenn einzelnen Familienmitgliedern bereits bestandskräftig ein Schutzstatus zuerkannt oder für sie ein nationales Abschiebungsverbot festgestellt worden ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 - 1 C 45/18 - juris, Rn. 2, 3, 11 und 12; EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-297/17 - juris, Rn. 90).

Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK liegen in der Person der Kläger nicht vor.

Die einschlägigen Erkenntnismittel (vgl. insbesondere Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom... ... 28. September 2022, S. 23 ff.; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation vom 9. November 2022, S. 97 ff. und Auskunftsersuchen des Auswärtigen Amtes in Asyl- und Rückführungsangelegenheiten an das Verwaltungsgericht Regensburg vom 29. September 2021, Gz. 508-9-1 Ob-51 6.80/54367) sprechen dagegen, dass im Falle der Kläger bei Rückkehr in die Russische Föderation eine beachtlich wahrscheinliche, im Widerspruch zu Art. 3 EMRK stehende Behandlung unter Würdigung der allgemeinen Gegebenheiten in der Russischen Föderation und unter Berücksichtigung der persönlichen Umstände der Kläger zu erwarten ist.

Die Klägerin zu 1. wird selbst bei Annahme, dass ihr Ehemann, der im Besitz eines bis zum 29. August 2024 gültigen Aufenthaltstitels nach § 25b Abs. 1 AufenthG ist, nicht mit der Familie in die Russische Föderation zurückkehre würde, in der Lage sein, ihren Lebensunterhalt und den des Klägers zu 2. und ihrer weiteren Kinder selbstständig zu bestreiten. Die Klägerin zu 1. hat neun Jahre lang die Schule besucht. Sie verfügt über eine Ausbildung und Arbeitserfahrung als Schneiderin. Gesundheitliche Einschränkungen, die die Arbeitsfähigkeit der Klägerin zu 1. ausnahmslos ausschließen würden, hat sie nicht substantiiert vorgetragen und solche sind auch nicht ersichtlich. Zudem ist es für die Klägerin zu 1. möglich, in der Russischen Föderation Arbeit zu finden. So existieren dort viele Erwerbsmöglichkeiten sogar für ungelernte Personen etwa im kaufmännischen Bereich (z. B. Verkäufer, Kurier, Wächter). Des Weiteren haben die Kläger Zugang zum russischen Gesundheitssystem und in diesem Rahmen das Recht auf eine kostenfreie medizinische Grundversorgung. Die medizinische Versorgung ist in Russland auf einfachem, aber grundsätzlich ausreichendem Niveau gesichert. Darüber hinaus verfügen die Kläger in der Russischen Föderation über ein familiäres Netzwerk, so dass sie jedenfalls im Notfall auf die sozialadäquate und landestypische Unterstützung durch die nach wie vor in der Russischen Föderation lebenden Verwandten zu verweisen sind. Nach den Angaben der Klägerin zu 1. leben noch zwei Brüder, eine Schwester, drei Tanten und weitere entfernte Verwandte in ihrem Heimatland. Überdies kann die Klägerin zu 1. für den Kläger zu 2. und ihre weiteren Kinder in Russland Kindergeld beanspruchen. Außerdem gibt es in der Russischen Föderation zahlreiche Betreuungsmöglichkeiten sowohl für nicht schulpflichtige Kinder unter 6 Jahren als auch für schulpflichtige Kinder über 6 Jahre. Des Weiteren gibt es in der Russischen Föderation staatliche Wohnungszuteilungen und finanzielle Hilfen für Miet- und Nebenkosten. Eine andere Bewertung der Versorgungssituation in der Russischen Föderation ergibt sich auch nicht aus den wirtschaftlichen Folgen des seitens Russlands gegen die Ukraine seit dem 24. Februar 2022 geführten Angriffskrieges.

Auch ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist weder substantiiert vorgetragen noch sonst ersichtlich. Es ist insbesondere weder anhand aktueller, den Anforderungen des § 60 Abs. 7 Satz 2 i. V. m. § 60a Abs. 2c Satz 2-3 AufenthG genügender ärztlicher Bescheinigungen konkret vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass die Kläger an lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen i. S. d. § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG leiden, die sich durch die Abschiebung in die Russische Föderation wesentlich verschlechtern würden (siehe zur medizinischen Versorgung in der Russischen Föderation: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation vom 9. November 2022, ... S. 107 ff.).

Wegen der weiteren Begründung nimmt das Gericht Bezug auf die § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG betreffenden Ausführungen in dem streitgegenständlichen Bescheid, denen es folgt. Das Gericht sieht deshalb insoweit ebenfalls von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab (vgl. § 77 Abs. 3 AsylG).

Die auf § 59 Abs. 1 AufenthG i. V. m. § 38 Abs. 1 Satz 1 AsylG beruhende Aufforderung zur freiwilligen Ausreise binnen 30 Tagen und die gemäß § 34 Abs. 1 AsylG...i. V. m. § 59 Abs. 1 AufenthG in Bezug auf die Russische Föderation als auch die Republik Polen erlassene Abschiebungsandrohung erweisen sich jedoch als rechtswidrig und verletzen die Kläger in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Gemäß § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG erlässt das Bundesamt nach den §§ 59 und 60... ... Abs. 10 AufenthG eine schriftliche Abschiebungsandrohung, wenn der Ausländer nicht als Asylberechtigter anerkannt wird, dem Ausländer nicht die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird, dem Ausländer kein subsidiärer Schutz gewährt wird, die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG nicht vorliegen oder die Abschiebung ungeachtet des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausnahmsweise zulässig ist und der Ausländer keinen Aufenthaltstitel besitzt. Nach ... ... ... ... ... ... § 59 Abs. 1 AufenthG ist die Abschiebung unter Bestimmung einer angemessenen Frist zwischen sieben und 30 Tagen für die freiwillige Ausreise anzudrohen.

Diese im deutschen Asyl- und Ausländerrecht zu erlassende Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung sind durch die Art. 3 Nr. 4, Art. 5, Art. 6 und Art. 7 Abs. 1 UAbs. 1 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (Rückführungsrichtlinie) unionsrechtlich determiniert (vgl. BVerwG, EuGH-Vorlage vom 8. Juni 2022 - 1 C 24/21 - juris, Rn. 18).

Art. 3 Nr. 4 der Rückführungsrichtlinie definiert eine „Rückkehrentscheidung“ als behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme mit der der illegale Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen festgestellt und eine Rückkehrverpflichtung auferlegt oder festgestellt wird.

Nach Art. 6 Abs. 1 der Rückführungsrichtlinie erlassen die Mitgliedsstaaten unbeschadet der Ausnahmen nach Art. 6 Abs. 2 bis 5 gegen alle illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung. Eine Rückkehrentscheidung sieht gemäß Art. 7 Abs. 1 UAbs. 1 der Rückführungsrichtlinie unbeschadet der Ausnahmen nach Art. 7 Abs. 2 bis 4 eine angemessene Frist zwischen sieben und 30 Tagen für die freiwillige Ausreise vor.

Bei der Umsetzung der vorbezeichneten Artikel haben die Mitgliedstaaten gemäß... ... Art. 5 Buchst. a und b der Rückführungsrichtlinie in gebührender Weise das Wohl des Kindes und die familiären Bindungen zu berücksichtigen. Primärrechtlicher Ausgangspunkt dieser sekundärrechtlichen Regelung sind Art. 8 Abs. 1 EMRK und Art. 7 GRC, in denen das Recht auf Achtung des Familienlebens verankert ist, und Art. 24 Abs. 2 GRC, der das Kindeswohl schützt.

Der Europäische Gerichtshof hat mit Beschluss vom 15. Februar 2023 für Recht erkannt, dass Art. 5 Buchst. a und b der Rückführungsrichtlinie dahin auszulegen ist, dass er verlangt, das Wohl des Kindes und die familiären Bindungen bereits im Rahmen eines zum Erlass einer Rückkehrentscheidung führenden Verfahrens zu schützen, und es nicht genüge, wenn diese Interessen erst im Rahmen eines nachfolgenden Verfahrens betreffend den Vollzug dieser Rückkehrentscheidung geltend gemacht werden können, um gegebenenfalls eine Aussetzung deren Vollzugs zu erwirken. Art. 5 der Richtlinie 2008/115 verwehre es somit einem Mitgliedstaat, eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, ohne die relevanten Aspekte des Familienlebens des betreffenden Drittstaatsangehörigen zu berücksichtigen, die er geltend macht, um den Erlass einer solchen Entscheidung zu verhindern (vgl. EuGH, Beschluss vom 15. Februar 2023 - C-484/22 - juris, Rn. 25 und 28).

Nach diesen Maßgaben hat das Bundesamt spätestens zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung im Rahmen der aus der Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung bestehenden Rückkehrentscheidung gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK, Art. 7 GRC und Art. 5 Buchst. b der Rückführungsrichtlinie die familiären Bindungen der Kläger und gemäß Art. 24 Abs. 2 GRC und Art. 5 Buchst. a der Rückführungsrichtlinie das Kindeswohl des Klägers zu 2. zu berücksichtigen. Konkret hätte das Bundesamt in seine Entscheidung den Umstand einbeziehen müssen, dass der Ehemann der Klägerin zu 1. bzw. Vater des Klägers zu 2. im Besitz eines bis zum 29. August 2024 gültigen Aufenthaltstitels nach § 25b Abs. 1 AufenthG ist und damit über ein gesichertes Bleiberecht in der Bundesrepublik Deutschland verfügt. Es ist weder beklagtenseits vorgetragen noch für das Gericht ersichtlich, dass die Klägerin zu 1. und ihr Ehemann mittlerweile geschieden sind oder getrennt leben oder dass dem Vater des Klägers zu 2. zwischenzeitlich das Sorgerecht entzogen wurde.

Auch die Anordnung eines befristeten Einreise- und Aufenthaltsverbots unter Nummer 6 ist rechtswidrig, da es infolge der Rechtswidrigkeit der Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung an den tatbestandlichen Voraussetzungen des § 11 Abs. 1 und 3 Satz 1 AufenthG fehlt.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 VwGO.

Die sachliche Gerichtskostenfreiheit resultiert aus § 83b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.