Gericht | OVG Berlin-Brandenburg 3. Senat | Entscheidungsdatum | 02.05.2023 | |
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Aktenzeichen | OVG 3 S 6/23 | ECLI | ECLI:DE:OVGBEBB:2023:0502.OVG3S6.23.00 | |
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 14 VerfGHG BE, § 40 Abs 2 Nr 5 VerfGHG BE, § 40 Abs 3 Nr 1 VerfGHG BE, § 40 Abs 4 S 1 VerfGHG BE, § 42 Abs 1 VerfGHG BE |
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 5. April 2023 wird zurückgewiesen.
Die Kosten der Beschwerde trägt die Antragstellerin.
Der Wert des Beschwerdegegenstandes wird auf 10.000,00 EUR festgesetzt.
Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Die zu ihrer Begründung dargelegten Gründe, die nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO allein zu prüfen sind, rechtfertigen keine Änderung der angefochtenen Entscheidung, mit der das Verwaltungsgericht die Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit dem Inhalt,
1. dem Antragsgegner aufzugeben, der Antragstellerin Einsichtnahme in die Wahlniederschriften und Stimmzettel der Erststimme sämtlicher Wahllokale im Lichtenberger Wahlkreis 3 zu gewähren,
- hilfsweise -
dem Antragsgegner aufzugeben, der Antragstellerin Einsichtnahme
- in die Wahlniederschriften und Stimmzettel der Erststimme der Wahllokale 301, 302, 304, 310, 312, 314, 324, 326,
- in die Wahlniederschriften, insbesondere auch der Nachzählung, und Stimmzettel der Erststimme des Wahllokals 333,
- in die Wahlniederschriften der Wahllokale 313, 314, 315,
- in die Wahlniederschriften des Briefwahllokals 1113A und die Unterlagen zur Auffindung der am 13. Februar in der Poststelle entdeckten Briefwahl-stimmen,
- in die Wahlniederschriften der Briefwahllokale 1113C und 1113C sowie Unterlagen zur Auffindung jeweils einer zusätzlichen Briefwahlstimme für den Wahlkreisbewerber Dennis Haustein,
- in die Wahlniederschriften und Stimmzettel zu den Beschlussfällen im Sin-ne des § 61 Abs. 5 LWO Berlin der Wahllokale 301, 303, 304, 306, 307, 308, 310, 312, 313, 314, 316, 317, 319, 320, 321, 322, 323, 325, 335, 336, 3B, 3R, 3S
zu gewähren,
2. dem Antragsgegner aufzugeben, der Antragstellerin Einsichtnahme in sämtliche Aktennotizen, elektronische oder schriftliche Kommunikation zwischen dem Bezirksstadtrat P... und dem Bezirkswahlleiter F... zwischen dem 11. Februar 2023 und dem Tag des Beschlusses zu gewähren,
3. dem Antragsgegner aufzugeben, der Antragstellerin Einsichtnahme in die Niederschrift des Bezirkswahlausschusses vom 20. Februar 2023 und sämtlicher hierzu vom Bezirkswahlleiter präsentierten PowerPoint-Folien zu gewähren,
4. dem Antragsgegner aufzugeben, eine Nachzählung der die Grundlage des amtlichen Endergebnisses der Wiederholungswahl vom 12. Februar 2023 bildenden Erststimmen im WK 03 Lichtenberg binnen dreier Werktage nach Zugang dieses Beschlusses, spätestens aber bis zum 7. April 2023 vorzunehmen,
abgelehnt hat.
Die Beschwerde wendet sich zunächst ohne Erfolg gegen die Auffassung des Verwaltungsgerichts, für die mit dem Antrag zu 4 erstrebte Nachzählung der Erststimmen sei der Verwaltungsrechtsweg nicht eröffnet, sondern sie sei von der abschließenden Sonderzuweisung von Verfahren über Einsprüche gegen die Gültigkeit der Wahlen zum Abgeordnetenhaus und zu den Bezirksverordnetenversammlungen bzw. gegen die Entscheidungen über den Erwerb oder Verlust eines Sitzes im Abgeordnetenhaus oder in einer Bezirksverordnetenversammlung an den Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin (§ 14 Nr. 2, 3 VerfGHG) erfasst. Der zutreffende Hinweis, dass die Antragstellerin im Wahleinspruchsverfahren nicht zum Kreis der Einspruchsberechtigten gegen eine rechnerisch unrichtige Feststellung des Wahlergebnisses (§ 40 Abs. 2 Nr. 2 VerfGHG) oder eine fehlerhafte Gültig- oder Ungültigerklärung von Stimmen (§ 40 Abs. 2 Nr. 3 VerfGHG) gehört, weil sie keine Einzelbewerberin im Sinne des § 40 Abs. 3 Nr. 3 VerfGHG ist, sondern auf einem Wahlkreisvorschlag ihrer Partei kandidiert hat (vgl. VerfGH Berlin, Urteil vom 21. März 2003 - 175/01 - juris Rn. 9; Beschluss vom 16. November 2022 - 132/21 - juris Rn. 8), ändert nichts daran, dass sie Zugang zur Wahlprüfung vor dem Verfassungsgericht hat, weil sie als Wahlkreisbewerberin ihren Einspruch darauf stützen kann, dass sie zu Unrecht nicht berufen worden sei (§ 40 Abs. 2 Nr. 5, Abs. 3 Nr. 1 VerfGHG; vgl. dazu VerfGH Berlin, Urteil vom 21. März 2003 - 175/01 - juris Rn. 10).
Auch wenn die von der Antragstellerin in ihrem Wahlkreis erstrebte Nach- bzw. Neuauszählung der Erststimmen in § 42 Abs. 1 VerfGHG nicht als eine der möglichen Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs aufgeführt ist, folgt daraus nicht, dass eine solche Neuauszählung im Wahlprüfungsverfahren nicht erreicht werden könnte. Sie kann nämlich als Zwischenschritt zur Entscheidung über die Frage geboten sein, ob die Antragstellerin zu Unrecht nicht und an ihrer Stelle zu Unrecht der konkurrierende Wahlkreisbewerber I... berufen worden ist (zur Neuauszählung als Zwischenschritt vgl. StGH Bremen, Urteil vom 13. September 2016 - St 2/16 - juris Rn. 62 ff.; VerfG Hamburg, Urteil vom 2. Dezember 2022 - 13/20 - juris Rn. 66 ff.). Ob und in welchem Umfang der Sachverhalt auf einen substantiierten Einspruch im Wahlprüfungsverfahren zu ermitteln ist - ggf. auch im Wege der Neuauszählung - hängt indessen davon ab, ob der gerügte Wahlfehler sich auf die Mandatsvergabe ausgewirkt haben kann (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. Dezember 1991 - 2 BvR 562/91 - juris Rn. 39; VerfG Hamburg, Urteil vom 2. Dezember 2022 - 13/20 - juris Rn. 68). Von der Möglichkeit einer Nachzählung zur Behebung eines Wahlfehlers geht im Übrigen auch der Verfassungsgerichtshof Berlin aus, der sie im Fall der Berliner Wahl zum Abgeordnetenhaus am 26. September 2023 allerdings nicht in Betracht zieht, weil sie die von ihm angenommenen „systemischen Fehler bei der Vorbereitung der Wahl“, die sich „mehr oder weniger stark auf die Durchführung der Wahl im gesamten Wahlgebiet ausgewirkt“ hätten, nicht heilen könne (VerfGH Berlin, Urteil vom 16. November 2022 - 154/21 - juris Rn. 240 f.).
Der von der Beschwerde angeführte Umstand, dass im verfassungsgerichtlichen Wahlprüfungsverfahren die subjektiven Rechte der Wahlbewerber nur Anlass, nicht aber Entscheidungsgegenstand sind, führt zur Bejahung des Verwaltungsrechtwegs für einen Streit zwischen Wahlbewerber und Regierung um die Rechtmäßigkeit ihrer Öffentlichkeitsarbeit im Vorfeld der Wahl (vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. Oktober 1987 - 2 BvR 64/87 - juris Rn. 20), zwingt aber nicht dazu, neben dem Wahlprüfungsverfahren ein im Verwaltungsrechtsweg zu verfolgendes subjektives Recht auf Neuauszählung anzunehmen.
Die Beschwerde wendet sich auch ohne Erfolg gegen die Auffassung des Verwaltungsgerichts, hinsichtlich der Anträge zu Ziffer 1 bis 3, mit denen sie Einsichtnahme in die im Einzelnen dort aufgeführten Unterlagen zur Wahl erstrebt, fehle es an dem erforderlichen Anordnungsgrund, weil (schwere und unzumutbare) Nachteile mit ihrem Vortrag, Einsichtnahme (und Nachzählung) seien für die substantiierte Einlegung eines Wahleinspruchs unerlässlich, nicht glaubhaft gemacht seien. Da die Antragstellerin sich für die geltend gemachten, in engem Zusammenhang mit der von ihr erstrebten Neuauszählung stehenden Ansprüche (auch) auf den Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl stützt, wie sie mit Schriftsatz vom 13. April 2023 klargestellt hat, ist der Senat auf Grund seiner Zuständigkeit für Wahlrecht zur Entscheidung unter jedem rechtlichen Gesichtspunkt berufen, also auch soweit Anspruchsgrundlagen aus dem Informationsfreiheitsgesetz zur Anwendung kommen sollten.
Das Verwaltungsgericht hat zum einen darauf hingewiesen, dass der Verfassungsgerichtshof bereits dann in eine Sachprüfung eintrete, wenn sich aus der innerhalb der Frist von einem Monat nach Bekanntmachung des Wahlergebnisses (§ 40 Abs. 4 Satz 1 VerfGHG) einzureichenden Begründung des Wahleinspruchs ein möglicher Wahlfehler und die mögliche Beeinflussung des Ergebnisses durch diesen Fehler hinreichend deutlich erkennen lasse. Genüge der Einspruch diesen Anforderungen, erhebe der Verfassungsgerichtshof den zur Erforschung der Wahrheit erforderlichen Beweis (§ 25 Abs. 1 Satz 1 VerfGHG). Die Antragstellerin, die bereits eine Vielzahl an dokumentierten Wahlunregelmäßigkeiten, Auszählungsfehlern und Verfahrensverstößen anführe, habe nicht glaubhaft gemacht, dass sie über die ihr bereits bekannten Tatsachen zur Substantiierung ihres Einspruchs zwingend auf die mit ihren Anträgen zu Ziffern 1 bis 3 begehrte Einsicht angewiesen sei. Diese Argumentation stellt die Beschwerde mit ihrem allgemeinen Hinweis auf Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts und Oberverwaltungsgerichts Bremen, die in Anwendung des dortigen Landesrechts einen Anordnungsgrund für Einsicht in Wahlniederschriften bzw. Stimmzettel wegen des bevorstehenden Ablaufs der Frist zur Begründung eines Wahleinspruchs bejaht haben (vgl. OVG Bremen, Beschluss vom 24. August 2011 - 1 B 198/11 - juris Rn. 29; VG Bremen, Beschluss vom 15. Juli 2015 - 4 V 1164/15 - juris Rn. 10; Beschluss vom 5. Juli 2007 - 2 V 1731/07 - juris Rn. 8), nicht erfolgreich in Frage. Gleiches gilt für ihr Vorbringen, das Verwaltungsgericht könne nicht mit Bindungswirkung für den Verfassungsgerichtshof entscheiden, ob die verfassungsrechtlichen Hürden für eine Substantiierung des Wahleinspruchs bereits durch den bisherigen Vortrag der Antragstellerin genommen werden können. Auch wenn dies zutrifft, obliegt es umgekehrt dem Verwaltungsgericht, in dem vor ihm geführten Eilverfahren eine eigene Einschätzung darüber zu treffen, ob die Antragstellerin hinreichend glaubhaft gemacht hat, auf die von ihr beantragte Einsichtnahme in Unterlagen zur Wahl - in Ergänzung zu ihren bisherigen Erkenntnissen - angewiesen zu sein. Dabei kann auch dahinstehen, ob der Schluss des Verwaltungsgerichts, da die Antragstellerin als Einspruchsführerin vor dem Verfassungsgerichtshof nur in konkreter Auseinandersetzung mit den ihr zugänglichen Wahlunterlagen einen Sachverhalt vortragen müsse, der - seine Richtigkeit unterstellt - eine Verletzung des Wahlrechts erkennen lässt (so VerfGH Berlin, Beschluss vom 13. Dezember 2017 - 163/16 - juris Rn. 26), werde Vortrag zu Unterlagen, die ihr nicht zugänglich seien, gerade nicht verlangt, überzeugt, oder ob der von der Beschwerde erhobene Vorwurf einer zirkelschlüssigen Argumentation berechtigt ist. Die Beschwerde macht jedenfalls nicht glaubhaft, welche zusätzlichen, über die in den Schreiben an den Bezirkswahlleiter vom 15. Februar 2023 und vom 21. März 2023 bereits erhobenen detaillierten Rügen hinausgehenden Erkenntnisse die Antragstellerin sich von der erstrebten Einsichtnahme erhofft. Soweit sie unter Bezugnahme auf schriftsätzliches Vorbringen des Antragsgegners geltend macht, sie könne sich vom Inhalt der Niederschriften der Wahllokale ohne Einsichtnahme nicht selbst überzeugen, geht es nicht um die Substantiierung eines Wahleinspruchs, sondern um die Einschätzung seiner Erfolgsaussichten. Das von der Beschwerde angeführte Kostenrisiko eines Wahleinspruchs vor dem Verfassungsgerichtshof ist jedenfalls überschaubar, weil das Verfahren nach § 33 Abs. 1 VerfGHG kostenfrei ist.
Im Übrigen weist der Senat darauf hin, dass die Frist zur Einlegung und Begründung des Wahleinspruchs von einem Monat nach der Bekanntmachung des Wahlergebnisses (§ 40 Abs. 4 Satz 1 VerfGHG) im Amtsblatt für Berlin vom 16. März 2023 (ABl. Nr. 11, S. 1093 ff.) mittlerweile abgelaufen ist. Auch deshalb fehlt es zum derzeitigen Zeitpunkt am erforderlichen Anordnungsgrund.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).